Sonntag, 15. Dezember 2019

Rapunzel und Prinz kaufen einen Weihnachtsbaum von Annette Paul


Bild von Krisi Sz.-Pöhls
Warum müssen meine Menschen eigentlich immer so einen Aufwand um Weihnachten machen? Da herrscht eine Aufregung und Geschnatter wie bei einer Gänseherde. Und dann noch diese Geheimnistuerei. Dabei ist es doch ein Tag wie jeder andere. Na ja, abgesehen vom Weihnachtsbaum - und von den Geschenken - vom Besuch der Großeltern, sie kommen nämlich jedes Jahr zu Weihnachten, - und von den Liedern. Ich habe mich angeschlossen und probe schon seit Tagen für mein diesjähriges Ständchen.
In dieser Familie herrscht eigentlich ständig Krach. Rapunzels Mutter ist nämlich Sängerin, deswegen nennen die Kinder sie Nachtigall, wie den Vogel, der so schön singt. Jedes Kind muss deshalb zu meinem Leidwesen auf mindestens zwei Musikinstrumenten Lärm machen. Dazu kommen diese viele Aktivitäten in der Schule: Weihnachtsbasteln, Weihnachtsbacken, Weihnachtsvorführungen.
Ich bin übrigens Prinz, eine kleine goldfarbene Ratte aus königlicher Familie, deshalb beherrsche ich auch die menschliche Sprache. Einer alten Überlieferung zufolge sind wir verwunschene Menschenprinzen und einst soll eine Menschenprinzessin uns erlösen. Meine Freundin Rapunzel, eigentlich heißt sie Raja, aber alle nennen sie nur Rapunzel, hat mich gerettet. Deshalb hoffe ich, dass sie die auserwählte Prinzessin ist und mich erlöst, wenn sie erwachsen ist.
In diesem Jahr sind Rapunzels Oma und Opa schon ein paar Tage vor Weihnachten zu Besuch gekommen. Wie üblich haben alle Familienmitglieder viel zu tun. Außerdem müssen die großen Geschwister bis zwei Tage vor Weihnachten noch Klassenarbeiten schreiben.
Rapunzel hat Glück. Sie geht in die zweite Klasse und muss noch keine Arbeiten schreiben. Hausaufgaben hat sie auch nicht so viel auf.
Mama Nachtigall, die Sängerin und Musiklehrerin ist, probt mit ihrem Chor für den großen Weihnachtsauftritt. Sie ist in Sorgen, denn ihre Solistin, das Mädchen, das einzeln singen soll, ist krank geworden. Und jetzt muss eine Ersatzsängerin einspringen. Leider ist die Ersatzsängerin nicht sehr gut und Nachtigall überlegt schon, ob nicht eine von ihren großen Töchtern den Part übernehmen soll.
„Das geht nicht“, stellt Picasso, der Malervater, klar, „die Mädchen müssen für die Schule lernen, das ist wichtiger als ein Chorauftritt.“
Da Nachtigall am Abend vor Heiligabend selbst einen Auftritt in dem kleinen Theater unserer Stadt hat, ist die Aufregung vor dem Fest noch größer als im letzten Jahr.
Picasso hat vor ein paar Tagen einen eiligen Auftrag bekommen. Leider verdient er mit seiner Malerei nicht sehr viel Geld, deshalb hat er sofort zugesagt, auch wenn es eigentlich unmöglich ist, bis Weihnachten, also innerhalb von einer Woche, ein großes Gemälde fertigzustellen.
Nett wie ich bin, habe ich ihm angeboten, einen Teil des Bildes zu malen. Ich verstehe nicht, warum er das abgelehnt hat. An seiner Stelle wäre ich für jede Hilfe dankbar.
Deshalb sind Oma und Opa in diesem Jahr extra früher gekommen und  übernehmen die Weihnachtsvorbereitungen.

„Rapunzel, komm, wir kaufen den Weihnachtsbaum“, sagt Oma zu meiner Freundin. Ob die beiden das allein hinbekommen? Opa kann nämlich nicht helfen, der hat sich gestern beim Versuch, den Weihnachtsschmuck vom Dachboden zu holen, einen Hexenschuss zugezogen.
„Opa, das hätten wir doch machen können“, hat Winnetou gesagt. Winnetou ist Rapunzels ältester Bruder. Er heißt natürlich nicht Winnetou. Hier haben alle einen Spitznamen. Das macht viel mehr Spaß, hat Rapunzel mir ganz am Anfang erklärt.
„Wollt ihr nicht lieber warten, bis die Großen aus der Schule kommen, bevor Oma auch noch einen Hexenschuss bekommt“, schlage ich vor. Rapunzels Geschwister müssen heute Nachmittag für die Weihnachtsfeier der Schule proben und die Aula dekorieren.
Doch Oma wirft mir nur einen strafenden Blick zu. Dabei ist mein Vorschlag doch wirklich vernünftig. Langsam begreife ich, warum die ganze Familie so verrückt ist, das haben sie bestimmt von den Großeltern geerbt.
„Die Jungen müssen lernen, die Schule ist wichtiger als ein Weihnachtsbaum“, sagt sie nur.
Rapunzel schlüpft eilig in ihre Stiefel und Winterjacke. Oma hilft ihr beim Zuknöpfen, damit es schneller geht. Dann setzt Rapunzel noch ihre Mütze auf und zieht ihre Handschuhe an.
„He, nimm mich mit“, fordere ich sie auf. Sie wirft mir einen zweifelnden Blick zu. „Du kannst doch sowieso nicht helfen.“
Das ist gemein! Beleidigt verteidige ich mich: „Doch, ich kann den Baum auswählen.“. Ich ärgere mich, dass ich nicht sofort in die Jackentasche geschlüpft bin. Jetzt komme ich da gar nicht mehr an.
„Wollt ihr keine Arbeitshandschuhe mitnehmen, das ist angenehmer beim Tragen“, schlage ich schnell vor. Ich muss doch zeigen, dass ich nützlich bin. Oma nickt und läuft mit Rapunzel gleich in den Keller, um welche zu holen.
Währenddessen überlege ich, wie ich mitkommen kann. Da entdecke ich Omas Jacke auf der Truhe neben der Garderobe. Die hat sie noch gar nicht angezogen, weil sie zuerst Rapunzel geholfen hat. Die Gelegenheit muss ich nutzen. Schnell renne ich zur Truhe, klettere an der praktischen Textiltapete hoch und suche die Jackentasche. Hoffentlich schaffe ich es, meinen Mund bis zum Weihnachtsbaumstand zu halten.
Ha, meine Planung geht auf. Oma zieht die Jacke an, ohne mich zu entdecken. Da habe ich Glück.
„Wo ist Prinz?“, fragt Rapunzel und sucht mich.
„Wahrscheinlich hat er sich beleidigt in seine Hütte verzogen“, meint Oma und schiebt Rapunzel zur Tür hinaus.
Der Weg kommt mir endlos vor. Ich darf noch nicht einmal hinausschauen, sondern hocke still in einer Ecke der großen Tasche.
„Oh, schade, es gibt kaum noch Bäume“, sagt Oma endlich. Sofort stecke ich meinen Kopf hinaus und mustere die Auswahl. Ein paar ganz Große stehen noch in der Ecke, aber selbst mit meiner Hilfe können Oma und Rapunzel es nicht schaffen, die bis nach Hause zu tragen.
Vorne in einer Ecke stehen ein paar verkrüppelte Tannen. Warum sind sie nicht zu der Gärtnerei an der Landstraße gefahren? Die haben doch immer so viele Bäume. Das habe ich gesehen, wenn wir auf dem Weg zu Nachtigalls kleiner Klavierschülerin vorbeigefahren sind. Die freut sich nämlich, wenn ich und Rapunzel mitkommen. Manchmal spielt Rapunzel zu ihren Klavierstücken Flöte.
„Oma, die sind viel zu hässlich“, sagt Rapunzel energisch.
„Ja, aber sonst haben wir überhaupt keinen Baum“, antwortet Oma seufzend.
„Doch, ihr könnt doch zu dem Gartengeschäft an der Landstraße fahren.“ Ich recke mich aus der Tasche, damit sie mich sehen.
„Prinz, ich hatte gesagt, du bleibst daheim!“ Oma klingt wirklich böse. Dabei habe ich doch eben einen guten Vorschlag gemacht.
„Prinz hat recht. Wir fahren mit dem Auto. Es ist nicht weit. Dort gibt es sicher noch Bäume“, drängt Rapunzel Oma. „Bitte, der Baum soll doch hübsch aussehen.“
Widerwillig stimmt Oma zu. Also marschieren die beiden zurück. Sie laufen schneller als auf dem Hinweg, schließlich wollen sie den Laden vor Geschäftsschluss erreichen.
Daheim leiht sich Oma Picassos klapprigen alten Bus. Damit die große Familie befördert werden kann, braucht er nämlich einen Bus.
Oma stehen die Schweißperlen auf der Stirn, als sie losfährt. Sie sagt auch gleich: „Ich fahre so ungern mit eurem Wagen.“ Deshalb fährt sie besonders vorsichtig und lässt sich nicht von den hupenden Autos stören. Rapunzel weist ihr den Weg, das macht sie richtig gut. So gelangen wir heil beim Gartencenter an.
Hier gibt es wirklich noch ganz viele Bäume. Diesmal sind sie so schön, dass Oma und Rapunzel sich gar nicht entscheiden können. Ich schlage ihnen zwei wunderbare Tannen vor, aber davon will Oma nichts hören. Auch Rapunzel hat einen Lieblingsbaum, Oma einen anderen. Schließlich sind wir die letzten Kunden am Weihnachtsbaumstand, die Verkäufer werden schon ungeduldig. Deshalb wählt Oma Rapunzels Baum.
Als sie den Preis erfährt, schaut sie ganz erschrocken, trotzdem zückt sie ihr Portemonnaie und bezahlt. Die Männer sind so nett und tragen den Weihnachtsbaum zum Bus und legen ihn sogar in den Kofferraum. Er schaut noch über die beiden hinteren Sitzreihen hinweg. Anscheinend ist er wohl etwas größer geraten, als sich Oma vorgestellt hatte.

Auf dem Rückweg hat sich Oma schon etwas an das große Auto gewöhnt, trotzdem hupen ganz viele ungeduldige Autofahrer uns an. Aber wir kommen gesund zurück. Zum Glück braucht Oma nicht einparken, sondern kann den Wagen einfach vor dem Haus stehenlassen.
„Ich brauche Hilfe, den Baum bekomme ich allein nicht aus dem Auto“, erklärt sie den beiden ältesten Jungen. Die springen sofort auf, um ihrer Oma zu helfen.
„Mann ist der riesig“, staunt Winnetou und lacht. „Da wird Nachtigall ärgerlich sein. Sie wollte doch nie wieder so einen großen Baum.“
„Aber wir wissen doch, wo wir ihn hinstellen können“, erklärt Rapunzel und zeigt auf die Ecke im Flur, in der im letzten Jahr der Riesenbaum gestanden hat.
„Genau, und Picasso hat auch schon Übung mit so einem Prachtstück“, lacht Winnetou.
Da hat er Recht, mit der Hilfe der gesamten Familie, vor allem dank meiner Ratschläge, schaffen sie es, den Baum nach ein paar Stunden endlich in den Ständer zu bekommen und in den Flur zu tragen. Er steht sogar fast gerade. Damit er nicht umfällt, wird er vorsichtshalber wieder an Haken festgebunden.
„Jetzt kann der Weihnachtsmann kommen“, meint Rapunzel glücklich. Und ich bin auch glücklich. Ich bin nämlich immer glücklich, wenn Rapunzel es ist.

Annette Paul schreibt und veröffentlicht seit vielen Jahren Kurzgeschichten und Kindertexte, gern etwas zum Schmunzeln. Sie hat mehrere Bücher mit der Ratte Prinz geschrieben: "Ratte Prinz","Ratte Prinz im Weihnachtsbaum" und "Rattenprinzessin Rapunzel". Dazu die Weihnachtsbücher: "Der ganz normale Weihnachtswahnsinn", , "Weihnachtsmann im Weihnachtsstress" und "Weihnachtsmann hat noch mehr Stress". Mehr von und über Annette Paul auf Probeschmökern bei Annette Paul.  Siehe auch die Autorenseite von Amazon.

Krisi Sz.-Pöhls
lebt recht zurückgezogen in Oppenheim am Rhein.  Malen gehört seit ihrer Kindheit zu ihren Hobbys. Mittels Fortbildungen ist die Autodidaktin Künstlerin geworden.
Sie hat die Illustrationen zu „Der Bär mit der Brille“, „Klein Henning und der Delfin“, „Rattenprinzessin Rapunzel“, „Ratte Prinz im Weihnachtsbaum“ und „Hopser will helfen“ gemalt.
Mehr von ihr auf ihrer Homepage https://salidaswelt.jimdofree.com/
oder bei www.zazzle.de/mbr/238764950947258943