Samstag, 7. Dezember 2019

Ein Herzenswunsch zu Weihnachten von Rita Hajak





Bild von Rita Hajak


Am 3. Advent fielen feine Schneeflocken unermüdlich vom Himmel. Draußen dämmerte es. Ich saß am Fenster und schaute traurig in die weiße Pracht. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Alle saßen vermutlich mit der Familie gemütlich im warmen Zimmer und tranken Tee, aßen Plätzchen, und erzählten sich Geschichten. Tränen brannten in meinen Augen. Jeder Lebensmut war mir genommen. Mit meinem Mann hatte ich eine glückliche, harmonische Zeit verbracht. Das ganze Jahr über. Die Weihnachtszeit jedoch war für uns beide etwas Besonderes gewesen. Dekorieren, Plätzchen und Stollen backen, Tee mit Rum trinken, und Erinnerungen wach werden lassen. Wir hatten gemeinsam gelacht über manch lustiges Ereignis. Auch ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt war unerlässlich. Vor knapp einem Jahr war mein Mann gestorben. Krebs. Er war zweiundsechzig Jahre alt geworden. Nicht einmal seine Rente konnte er genießen. Das bevorstehende Weihnachtsfest musste ich das erste Mal alleine verbringen. Am liebsten hätte ich mich, bis ins neue Jahr hinein, irgendwo eingeigelt.
   Die Kerze auf der Fensterbank war heruntergebrannt. Ich war  in Gedanken versunken, hob den Kopf, und zündete eine neue an. Ich hatte beschlossen, Weihnachten zu ignorieren. Meine Schwester lebte in den USA und Kinder waren mir leider versagt geblieben. Das Atmen fiel mir schwer. Tief in meiner Seele saßen Trauer und Schmerz. Karl hätte sicher nicht gewollt, dass ich mich zurückzog von den Menschen. Aber ich konnte nicht anders. Ich vermisste ihn so sehr.
Eine Woche vor Weihnachten stand ich, wie so oft, am Grab meines Mannes und hielt Zweisprache mit ihm. Einige Gräber weiter kauerte weinend eine junge Frau, die mir bereits vor Tagen aufgefallen war. Sie tat mir leid. Langsam ging ich zu ihr hinüber und warf einen Blick auf die Schleife, auf der stand: Geliebter Mann und Vater.
   »Ihr Vater?«, fragte ich behutsam.
   Die Frau schüttelte den Kopf. »Mein Mann«, sagte sie leise.
   »Oh, das tut mir leid. Sie sind noch so jung. Ich kann Sie gut verstehen; habe auch meinen Mann verloren. Wenn Sie Hilfe brauchen, ich bin gerne bereit, etwas zu tun.«
   »Danke, ich komme zurecht«, schluchzte sie.
   »Mein Name ist Klara Bergmann. Darf ich auch Ihren erfahren?«
   »Entschuldigen Sie. Laura Peters!«
   Ich reichte ihr die Hand und verabschiedete mich. Ich wollte mich nicht aufdrängen. Die junge Frau ging mir nicht aus dem Kopf. Beiläufig hatte sie erwähnt, dass sie eine siebenjährige Tochter hatte. Gerne hätte ich Laura geholfen, aber wie?
Am 4. Advent war die letzte Möglichkeit den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Ich überlegte hin und her, ob ich nach Frankfurt fahren sollte. Genauso, wie ich es mit meinem Mann jedes Jahr getan hatte. Es fiel mir nicht leicht, aber ein inneres Gefühl trieb mich vorwärts. Zwei Stunden später schlenderte ich vorbei an Buden und Ständen aus denen weihnachtliche Musik erklang. Überall roch es nach Lebkuchen, Zimt und Anis. Das hatte meinen Mann und mich jedes Mal in eine festliche Stimmung versetzt. Heute verfehlte es seine Wirkung. Ich schaute zu dem Weihnachtsmann, der von einer Horde lachender Kinder umzingelt war. Plötzlich hatte ich eine Idee. Frohen Mutes fuhr ich mit der Bahn nach Hause. Ich hatte das Bedürfnis Weihnachtsplätzchen zu backen.
Die Zutaten, sowie andere Kleinigkeiten, waren am nächsten Tag schnell gekauft und etwas Schokolade legte ich ebenfalls in den Einkaufswagen. Zufrieden lächelte ich vor mich hin und hoffte sehr, dass mein Plan gelingen möge.
An Heiligabend vormittags stiefelte ich durch den Schnee zum Friedhof, um eine neue Kerze in die Laterne zu stellen. Laura, die mir stets um die gleiche Zeit begegnet war, hoffte ich auch heute anzutreffen. Wenn nicht, würde mein Vorhaben wie eine Seifenblase zerplatzen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Als ich dem Grab näher kam, erkannte ich die junge Frau, die ein Kind an der Hand hielt. Zögernd ging ich auf sie zu.
   »Guten Morgen, wie schön, dass ich nun auch Ihre Tochter kennenlerne«, begrüßte ich sie.
  »Hallo, Frau Bergmann, das ist Bella. Sie durfte mich heute das erste Mal hierher begleiten.«
   »Mein Papa ist im Himmel und wir müssen Weihnachten alleine feiern«, wisperte das Kind und blickte traurig drein.
   »Ich bin auch alleine und habe einen Wunsch«, sagte ich und mein Herz klopfte wild. »Es wäre wunderschön, wenn sie beide, ab heute Nachmittag, als meine Gäste, in mein Haus kämen. Wir könnten es uns gemütlich machen und keiner wäre alleine. Was halten Sie davon?« Ich zitterte vor Aufregung und hoffte, Laura würde meine Bitte nicht falsch verstehen.
   Die Frau jedoch lächelte und das Mädchen strahlte. »Ist das ehrlich gemeint?« Laure hatte leise gesprochen.
   »Absolut ehrlich. Es wäre mir eine große Freude.«
Es begann erneut zu schneien.
   »Wenn du einen Schlitten hast, bringe ihn mit«, sagte ich zu
Bella, »dann können wir vor dem Kaffeetrinken einen Spaziergang machen.«  
Das Kind nickte eifrig.
   »Ich freue mich«, schluchzte Laura und umarmte mich. Gerührt hielt ich sie umfangen. Laura schrieb sich die Adresse auf und versprach pünktlich um fünfzehn Uhr da zu sein.
Voller Elan hastete ich nach Hause; einige Vorbereitungen waren noch zu erledigen. Jedes Jahr hatte es traditionell Kartoffelsalat und Bratfisch gegeben. Daran wollte ich mich halten. Rechtzeitig, bevor die Gäste eintrafen, hatte ich den Tisch gedeckt und weihnachtlich dekoriert. Ein feiner Duft von Weihnachtsplätzchen erfüllte den Raum. Zufrieden schaute ich mich um. Wie schön ist es eine Aufgabe zu haben und nicht alleine zu sein, ging es mir durch den Kopf.
Es klingelte; der Besuch war da. Wie versprochen unternahmen wir einen kleinen Ausflug im Schnee. Mit roten Wangen kehrten wir zurück, tranken Kaffee; Bella bekam Kakao. Laura lobte das zarte Gebäck und den saftigen Schokoladenkuchen. Wir erzählten aus unserem Leben, um uns besser kennenzulernen. Aus dem Radio erklang leise Weihnachtsmusik. Es war eine wunderbare Harmonie zwischen uns.   
Abends saßen wir zu dritt bei Kerzenschein und ließen uns das leckere Mahl munden. Statt eines Christbaums hatte ich einige Tannenzweige in die Bodenvase gesteckt und mit kleinen Lichtern, bunten Kugeln und Süßigkeiten geschmückt.
   »Ich bin überwältigt von so viel Güte und Freundlichkeit«, sagte Laura bewegt. »Tausend Dank für die Einladung, liebe Frau Bergmann.
   »Ich habe zu danken, Laura. Sie und Bella haben meinen Herzenswunsch wahr werden lassen. Weihnachten sollte man mit lieben Menschen feiern. Ich freue mich, Sie und Bella getroffen zu haben und schlage vor, dass wir uns duzen.«
   »Sehr gerne«, stimmte Laura erfreut zu.
   Bella klatschte in die Hände. »Papa wird sich freuen, wenn er vom Himmel auf uns hernieder blickt und uns hier zusammen sitzen sieht.« Die beiden Frauen lächelten verklärt.
   Draußen im Lichtschein der Laterne fiel sacht der Schnee auf die kalte Erde. Trotz unserer Trauer wurde es ein zauberhafter Heiligabend. Eine neue Freundschaft war geboren.



Vita
Rita Hajak wurde 1950 in Frankfurt am Main geboren. Für die gelernte Anwalts- und Notariatsgehilfin war das Schreiben schon immer ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Bereits in der Schule schrieb sie mit Begeisterung Aufsätze. Später waren es Geschichten für ihre Kinder. Der Beruf trat in den Vordergrund und die Zeit zum Schreiben fehlte. Erst die Jahre, die sie mit ihrem Ehemann, auf der Insel Fehmarn verbrachte, schafften wieder Zeit und Raum zum Schreiben. Es entstanden Kurzgeschichten und Kurzromane verschiedenen Genres. Heute lebt die Autorin mit ihrem Ehemann im Taunus.