Sonntag, 22. Dezember 2019

Der neue Weihnachtsmann von Evelyn Sperber-Hummel

Bild von Evelyn Sperber-Hummel

Natalius do Paradiso, auf Erden als Weihnachtsmann bekannt, riss das Kalenderblatt ab. Der 12. August. In den Kaufhäusern kündigten seine Schokoladennachbildungen bereits die fröhliche Weihnachtszeit an. Fröhliche Weihnachtszeit! So ein Schmarren. Jedes Jahr verleideten ihm die Schokoläuse die Freude darauf. Jetzt war Sommer, da musste er Wärme tanken, und danach im Herbst musste er Farben schlürfen. Wie sollte er sonst mit heilen Knochen durch den kalten grauen Winter kommen? Natalius zerknüllte das Datum und warf es in den Papierkorb. Er hatte keine Lust mehr auf den Weihnachtstrubel. Seine morschen Knochen wollten sich im Schaukelstuhl wiegen oder gemächlich durch den winterlichen Schnee stapfen oder auf Skiern sanft die Hänge hinabgleiten. Stattdessen musste er trubeln. Von einer Pflicht zur anderen rennen, bis ihm die Puste ausging. Dabei hätte es seinen alten Lungen so gut getan, die würzige Winterluft in aller Ruhe und Beschaulichkeit ein- und auszuatmen.
Schluss damit. Sollten die Menschen doch zusehen, wie sie zu ihren Geschenken kamen. Ihm schenkte auch niemand etwas. Dieses Jahr bleibe ich im Bett und stehe nur auf, wenn ich Lust dazu habe oder wenn mein Magen knurrt. Er drehte den Kalender mit dem Gesicht zur Wand und ging hinaus. Auf der Weide grasten die sechs Rentiere. Sie hoben die Köpfe und begrüßen ihn mit einem "Guten Morgen!", das wie ein leises Schnarchen im Tiefschlaf klang.
"Hört zu, meine Alten, dieses Jahr ist nichts mit Weihnachten. Wir machen uns einen gemütlichen Winter."
Die Rentiere sahen einander an, räusperten sich, scharrten mit den Füßen.
"Wenn das man gut geht", schnarrte Julius, das jüngste Rentier.
"Wir kriegen Ärger", pflichtete Gratian ihm bei.
"Aber schön wäre es doch", meinte Nepomuk, der Älteste in der Sechserrunde.
Melusine, Antonia und Cecily stimmten ihren drei Männern zu. "Wie ist das überhaupt mit dem Ruhestand für Rentiere?", fragten sie.
Ruhestand! Natürlich. Jeder hat ein Recht auf den wohlverdienten Ruhestand. Nicht nur die Menschen, auch die Rentiere und der Weihnachtsmann. "Ich werde sofort unseren Ruhestand bei unserem obersten Boss beantragen", sagte Natalius di Paradiso und machte sich auf den Weg zum göttlichen Personalbüro. Die Rentiere senkten zustimmend die Köpfe und grasten weiter.
Natalius war erst ein paar Schritte gegangen, da stellte sich ihm der Teufel in den Weg. "Hallo, Natalius, endlich ist dir ein Licht aufgegangen", flüsterte er und dabei lachte er diabolisch, denn er konnte nicht anders lachen.
Typisch Teufel. Was wollte der von ihm? Und wieso Licht? Der Advent lag noch in wochenlanger Ferne. Und außerdem, dieses Jahr wurde auch der gestrichen. Für mich jedenfalls, dachte Natalius, strafte den Teufel mit Nichtachtung und wollte an ihm vorbeigehen.
Der Teufel hielt ihn am Ärmel fest. "Hihihi, Schluss mit Trubel. Gut so!" Er hüpfte um Natalius herum, er schlug Purzelbäume und machte Kopfstand auf seinen Hörnern, dann sprang wieder auf die Beine und flüsterte Natalius ins Ohr: "Ich habe eine bessere Idee!"
Natalius drückte den Teufel von sich, holte sein kariertes Taschentuch hervor und wischte sich den teuflischen Atem aus dem Gehörgang. Er schaute nach oben, nach links und nach rechts, sah den Teufel dabei nicht an und signalisierte ihm: "Deine Idee interessiert mich einen feuchten Kehricht." In Wirklichkeit platzte Natalius vor Neugier.
Satanisches Kichern war die Antwort. Der Teufel rieb sich die Hände. "Stell dir vor, du kannst in deinem Schaukelstuhl auf und ab wippen, du kannst geruhsam durch den hohen Schnee stapfen, du kannst morgens im warmen Bett bleiben, solange du willst. Kein Trubel, keine Hetze, keine Rennerei, kein Ärger mit unzufriedenen Erdenbürgern. Paradiesische Weihnachten!"
Bei des Teufels Worten wurde Natalius warm ums Herz. Paradiesische Weihnachten! Das klang verführerisch. Doch während sein Herz schon frohlockte, besann Natalius sich auf seine himmlische Loyalität, die ihm strikt jegliche Zusammenarbeit mit dem Satan untersagte. "Was soll der Blödsinn?", fragte er deshalb.
Die Neugier, die in seiner Stimme schwang, entging dem Teufel nicht. "Nenn es von mir aus Blödsinn, aber du kannst tatsächlich paradiesische Weihnachten genießen, und niemand merkt, dass du nicht da bist. Na, was meinst du dazu?"
"Niemand merkt was?" Natalius himmlisch geprägte guten Vorsätze gerieten ein wenig ins Wanken.
"Niemand merkt es! Auf mein Wort!"
Konnte man etwas auf das Wort des Teufels geben? In Natalius kämpften himmlische und höllische Gefühle miteinander. Ein fürchterlicher Konflikt. "Und wie?" Ganz leise fragte er das.
"Lass dich klonen."
"Wie?"
"Klonen."
Natalius kratzte sich mit dem linken Zeigefinger an der Nase, mit dem rechten am Ohr. "Das ist eine glänzende Idee", flüsterten seine höllischen Gedanken. "Vorsicht, der Teufel legt dich aufs Kreuz", warnten ihre himmlischen Kontrahenten." Natalius besann sich auf seine Tugendhaftigkeit und sagte: "Hebe dich hinweg, Satan." Das war halbherzig und es klang halbherzig. Das merkte nicht nur Natalius selber, auch der Teufel hatte ein gutes Gehör für solche Halbherzigkeiten. Er legte Natalius den Arm um die Schultern, drehte ihn um und führte ihn zu seiner Behausung zurück. "Dort werden wir alles Weitere regeln", sagte er und seine Stimme klang so verführerisch, dass Natalius mit ihm ging und das Gefühl hatte, er schwebe einen Meter über dem Boden.
Vier Monate später. Sechs Rentiere wurden angespannt, der Weihnachtsmann saß in warme Decken eingehüllt auf seinem Schlitten, der auch dieses Jahr mit Hunderten von Paketen bepackt war. Hui, ging es durch die Lüfte, die Schlittenglöckchen bimmelten und aus dem Schlittenradio erklangen Weihnachtslieder.
Währenddessen saß Natalius do Paradiso im Schaukelstuhl vor dem offenen Kaminfeuer, er wiegte auf und ab und der steife Grog aus echtem Jamaica-Rum gluckerte durch seine Kehle. Zwischendurch eine Aachener Printe, Lübecker Marzipan, Zimtsterne und Anisplätzchen. Der silberne Teller auf dem Tischchen neben dem Schaukelstuhl voller weihnachtlicher Köstlichkeiten. Natalius leckte sich die Lippen. Das waren paradiesische Weihnachten, wie er sie sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können.
Er stand auf und ging hinaus in den Stall. "Fröhliche Weihnachten. Nun, wie gefällt euch das?", fragte er die sechs Rentiere, die nebeneinander im frischen Stroh lagen und ihn anblinzelten.
"Sehr gut", sagten sie gemeinsam, "fröhliche Weihnachten!" Natalius kraulte ihre Hörner und gab ihnen Äpfel und trockenes Weißbrot. Dann ging er zurück zu seinem Schaukelstuhl. Wie sein Klon wohl zurechtkam? Hoffentlich brachte der nicht alles durcheinander. Aber warum sollte er? Natalius hatte ihm alles genau erklärt. Er schaukelte und genoss das Weihnachtsfest in vollen Zügen und diese vollen Züge bestanden nicht nur aus Grog.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Fast hätte er sich verschluckt. "Wer da?", fragte er. Die Tür flog auf, herein stürmte Petrus. "Bist du von allen guten Geistern verlassen? Heute ist Weihnachten, du wirst auf der Erde erwartet. Nun aber dalli."
"Hick", sagte Natalius und kratzte sich nach alter Gewohnheit mit dem linken Zeigefinger an der Nase und mit dem rechten Zeigefinger am Ohr. "Wieso kommst du überhaupt? Du warst doch Weihnachten noch nie bei mir?" Seine Zunge war ein wenig schwer.
"Ich sah das Licht in deinem Fenster, wollte es ausmachen. Aber jetzt ist Schluss mit langem Palaver. Schirre deine Rentiere und sieh zu, dass du auf die Erde kommst."
In dem Augenblick sprang die Tür erneut auf. Herein kam ein über das ganze Gesicht strahlender - - -
"Natalius?" Petrus guckte den Weihnachtsmann an, der seinen Mantel auszog und den Schnee von der Kapuze klopfte. "Natalius?", wiederholte er und sein Blick ging zum Schaukelstuhl. "Jetzt brauche ich einen Schnaps."
"Pur oder als Grog?", fragte der Schaukelstuhl-Natalius.
"Grog." Petrus ließ sich in einen Sessel fallen. Während er den Grog schlürfte, erzählte der hereingeschneite Natalius begeistert von allem, was er auf der Erde erlebt hatte. "Überall hat man mich jubelnd empfangen und alle Augen leuchteten und die Kinder sagten Gedichte auf und ... ach, ich wünschte es wäre immer Weihnachten."
Petrus nahm sich noch einen Grog. "Willst du auch einen?", fragte er den begeisterten Weihnachtsmann. "Wie soll ich dich eigentlich nennen? Natalius? Der Name ist schon vergeben. Er zeigte zum Schaukelstuhl, in dem der echte Natalius mit glänzenden Augen und roten Bäckchen saß und grinste. "Nataklonius vielleicht?"
"Wie wäre es mit Natalius der Zweite", schlug der erste Natalius vor.
"Ja, das ist gut. Dann gibt es auch keine Probleme, falls noch mehr von deiner Sorte auftauchen sollten." Petrus lehnte sich im Sessel zurück. "Jetzt hätte ich Lust auf einen zünftigen Skat", sagte er. Und so wurde Skat gedroschen, was die Karten hergaben. "Fröhliche Weihnachten", sagte Petrus und betrachtete sein Blatt. Einen Grand mit Vieren hielt er in der Hand. Den musste er ausreizen bis zum Schwarz angesagt. Mitten im Reizen klingelte das Telefon. Die drei Skatbrüder sahen einander an. "Wer ist das?", fragte Natalius I. Er stand auf und hob den Hörer ab. Seine roten Bäckchen wurden blass. "Jawohl, Boss, er kommt sofort", stotterte er und legte den Hörer zurück. "Er will dich sprechen, sofort", sagte er zu Petrus.
Petrus betrachtete das Blatt in seiner Hand. Er warf die Karten auf den Tisch und stand auf. Dabei brummelte er: "Ich lass mich klonen."
"Darüber wollte ich gerade mit dir reden."
Petrus schreckte zusammen. Er starrte die Gestalt an, die ins Zimmer gekommen war und jetzt vor ihm stand. "Hey, Boss, was machst du denn hier?"
Gottvater steckte sein Handy in die Tasche und lächelte die beiden Nataliusse und Petrus an. "Habt ihr wirklich gedacht, ich hätte das mit dem Klonen nicht mitbekommen? Meine Lieben, ihr vergesst manchmal, dass ich alles sehe, alles weiß und vor allem, dass ich alles verstehe. Ehrlich gesagt, ich würde auch ganz gern mal Urlaub machen. Aber ein geklonter Gottvater? Das ginge wohl doch zu weit." Er setzte sich zu Natalius I. und II. und zu Petrus an den Tisch. "Spielt nur weiter, ist ja nicht um Geld", sagte er und ließ sich einen steifen Grog einschenken.
Petrus gewann den Grand mit Vieren innerhalb weniger Minuten haushoch.
Im Stall feierten derweil zwölf Rentiere fröhliche Weihnachten mit Gänsewein und honigsüßen Pellets. "Lecker", schnarrten Nepomuk I. und Nepomuk II. und alle stimmten ihnen zu.
© Evelyn Sperber-Hummel



Evelyn Sperber-Hummel, geboren in Hamburg, lebt auf einem Weingut in der Pfalz. Sie hat viele Jahre als Redakteurin gearbeitet. Jetzt schreibt sie Kurz- und Langprosa, Lyrik und szenische Texte.
Leseproben und weitere Informationen gibt es auf ihrer Autorenseite.