Dienstag, 24. Dezember 2019

Süße Milch von Sigrid Wohlgemuth




Leo beugte sich über den reglos am Boden liegenden Weihnachtsmann und versuchte, ihm den weißen Bart vom Gesicht zu nehmen. Vergeblich – der war echt! Danach legte Leo prüfend einen Finger auf die Halsschlagader des Mannes, wo er einen schwachen Puls ertastete.
»Er lebt! Ruft schnell einen Krankenwagen!«, schrie er.
Hastig öffnete er die Knöpfe des roten Mantels. Der bleiche Brustkorb, der darunter zum Vorschein kam, hob und senkte sich nicht. Leo legte ein Ohr über Mund und Nase des Bewusstlosen. Er konnte keine Atmung hören und spürte auch nicht die erhoffte Wärme eines Luftstroms. Also begann er mit der Wiederbelebung.
Aus den Tiefen ihres Sessels beobachtete Traute das Geschehen. Ihr Mund wirkte verbissen, harte Kerben hatten sich um die Lippen gegraben. Krampfhaft hielt sie die Hände gefaltet im Schoß. Die dunklen Augen verfolgten jede Bewegung ihres Sohnes, der sie über die Weihnachtsfeiertage zu sich geholt hatte.
»Der      Krankenwagen   ist    unterwegs«,    sagte    ihre Schwiegertochter Jasmin, als sie von der Diele zurück ins Wohnzimmer stürzte. »Kann ich sonst irgendwie helfen?«
Leo schüttelte stumm den Kopf. Er zählte in Gedanken die dreißigste Herzdruckmassage, wechselte dann zur Atemspende, blies dem Mann zwei Atemstöße in die Lungen und begann das Prozedere von vorn. Sirenen waren in der Ferne zu hören. Rasch wurden sie lauter. Jasmin sprang auf und öffnete. Danach ging alles rasend schnell, und nur wenige Augenblicke später wurde der Weihnachtsmann abtransportiert. 
Leo ließ sich erschöpft auf der Couch nieder, Jasmin hockte sich neben ihn. Beide schauten zu Traute, in deren Stirn sich eine tiefe Falte gefurcht hatte.
»Ich habe die Polizei informiert«, sagte Jasmin.
»Wie kam der Kerl überhaupt ins Haus?«, fragte Leo. 
»Ich dachte, du hättest ihn hereingelassen. Schwiegermutter?«
Traute zuckte stumm mit den Schultern. 
»Mutter, willst du dich hinlegen? Das ist sicherlich Aufregung genug für dich gewesen. Ein Einbrecher! Wer weiß, was er dir alles angetan hätte, wenn er nicht ... Ja, was ist er eigentlich? Zusammengebrochen? Ob er einen Herzinfarkt erlitten hat?« Er ging auf seine Mutter zu, kniete sich vor sie hin. »Hast du gesehen, wie der Mann hier hereingekommen ist?«
Traute kniff die Augen zusammen. Leo massierte vorsichtig ihre Finger, damit das Blut zirkulierte. 
Unterdessen prüfte Jasmin, ob irgendwo eine Tür oder ein Fenster aufstand. Sie fand nichts Ungewöhnliches. »Und durch den Kamin wird er ja wohl kaum gerutscht sein.« Ihr Lachen klang nervös. 
Traute schreckte bei den Worten zusammen. 
»Beruhige dich, Mutter.« Leo nahm sie in die Arme. »Ich finde, du solltest dich eine Weile hinlegen.« Noch bevor sie antworten konnte, klingelte es.
»Das wird die Polizei sein«, meinte Jasmin und öffnete. 
»Guten Tag, ich bin Kommissar Brandstätter. Und das sind zwei Kollegen von der Spurensicherung.« Er deutete auf seine Begleiter. »Dürfen wir hereinkommen?« »Bitte.« Jasmin trat zur Seite.
»Frohe Weihnachten – auch, wenn das unter den gegebenen Umständen unpassend klingt«, lächelte Brandstätter.
»Wir haben uns den Morgen des ersten Weihnachtstages auch anders vorgestellt«, entgegnete Leo.
Die Männer der Spusi stellten ihre Metallkoffer ab. Sie schlüpften in helle Overalls und zogen Latexhandschuhe über. Dann begannen sie mit einer genauen Befundaufnahme. Beim Anblick des Rußpulvers, das sie verteilten, um Fingerabdrücke zu sichern, runzelte Jasmin die Stirn. »Haben Sie am Tatort etwas verändert?«, fragte der Kommissar.
»Tatort? Meine Güte, wie das klingt! So etwas hört man sonst nur im Krimi.« Jasmin schüttelte sich.
»Wir haben alles so gelassen, wie wir es vorgefunden haben«, gab Leo zur Antwort. 
Brandstätter fragte nach den Personalien, dann streifte auch er sich Handschuhe über, zog ein Diktiergerät heraus und sprach: »Anwesend sind die Eheleute Jasmin und Leo Reuter sowie Traute Reuter, die Mutter von Leo Reuter.« 
Es folgte eine ausführliche Ortsbeschreibung: »Wohnzimmer, schätzungsweise fünfundzwanzig Quadratmeter. Dreiercouch, zwei Sessel, ein antiker Schrank in der linken Ecke. Auf dem Boden liegt ein roter Samtsack.« Er hob ihn an, sah hinein. »Gehört der Ihnen?« Leo verneinte. Brandstätter wandte sich an einen seiner Mitarbeiter. »Packen Sie das Beweisstück ein.« 
Traute verfolgte die Aktionen der Männer, ohne einen Mucks von sich zu geben. 
»Wer hat die Milch getrunken?« Brandstätter hielt das milchverschmierte Glas in die Höhe.
»Milch?« Jasmin schaute auf. 
Trautes linke Augenbraue schoss für eine Sekunde in die Höhe. 
»Hast du die Milch hier hingestellt?«, fragte Jasmin ihren Mann.
»Nein.«
Brandstätter sah zu Traute hinüber.
Leo folgte seinem Blick. »Meine Mutter kann das nicht gewesen sein. Wir müssen sie beim Laufen führen, allein kann sie keine Getränke aus der Küche holen.«
Brandstätter bat einen Kollegen, das Glas ebenfalls in eine Tüte zu packen. Als der Kommissar sich Leo zuwandte, atmete Traute heftiger. 
»Gehen wir doch einmal durch, wo Sie sich alle aufhielten, bevor Sie den Mann gefunden haben.« 
»Ich war in der Küche und habe das Frühstück zubereitet«, erinnerte sich Jasmin.
»Ich bin aus dem Bad sofort ins Wohnzimmer und dort habe ich ihn dann liegen sehen.« Leo wies auf die Stelle am Boden.
»Und Sie, Frau Reuter?« Brandstätter beugte sich zu
Traute. »Seit wann haben Sie hier im Sessel gesessen?«
Leo warf seiner Frau hinter dem Rücken des Kommissars einen fragenden Blick zu. Sie zuckte die Achseln. 
»Eine Weile«, erklang da Trautes zaghafte Stimme.   
»Können Sie das näher erläutern?« Traute blieb stumm.
Brandstätter richtete sich an Leo und Jasmin. »Wann haben Sie ihre Mutter hier in den Sessel gesetzt?« Leo hob ratlos die Hände.
»Es ist unmöglich, dass meine Schwiegermutter es alleine geschafft hat«, stammelte Jasmin. 
»Irgendeiner muss es gewesen sein.«
»Wir können Ihnen die Frage nicht beantworten«, sagte Leo.
»Dann bleibt nur der Weihnachtsmann übrig«, merkte Brandstätter an.
Trautes Pupillen weiteten sich.
»Mutter, sage uns doch bitte, wie du ins Wohnzimmer gekommen bist«, bat Leo.
»Ich ... ich erinnere mich nicht.«
»Meine Mutter leidet an beginnender Demenz, Herr Kommissar. Für mich jedenfalls ist es kaum erklärbar.«  Die Spurensicherung machte Brandstätter auf Fußabdrücke in der Kaminasche aufmerksam. »Sieht nach Stiefeln aus«, meinte der. 
Leo und Jasmin stellten sich neben den Kommissar. »Er hatte schwarze Stiefel an, das habe ich gesehen. Eigentlich war er genauso gekleidet, wie man es vom Weihnachtsmann kennt«, erklärte Jasmin aufgeregt.
»Ich fahre ins Krankenhaus und werde sehen, ob der Mann vernehmungsfähig ist. Vielleicht wurden irgendwelche Ausweispapiere bei ihm gefunden. Auf Wiedersehen.« Damit marschierte Brandstätter mit seinen Leuten aus dem Haus. 
»Ich habe das Gefühl, das hier ist, nur ein Traum«, murmelte Leo.
»Unglaublich, oder?«, pflichtete Jasmin ihm bei.
Traute schluckte schwer. 
»Na komm, Mutter.« Leo half ihr aus dem Sessel und führte sie langsam in die Küche. »Nach der Aufregung wollen wir versuchen, in aller Ruhe zu frühstücken.«
Den ganzen Tag sprachen sie von dem unheimlichen Erlebnis und hofften auf Neuigkeiten von der Polizei. Am späten Abend brachte Leo seine Mutter dann in ihr Zimmer.
Ein Schneesturm fegte ums Haus. Traute lag im Bett. Von dort aus hatte sie den direkten Blick auf eine uralte Tanne, deren Zweige gegen die Scheibe schlugen. Unruhig wälzte Traute sich von einer Seite zur anderen. Zu sehr beschäftigte sie das, was sich hier in der vorherigen Nacht in aller Heimlichkeit abgespielt hatte ... 
Ein einziges Mal noch hatte Traute allein aufstehen wollen. Sie hatte gewusst, es würde ihr die letzten Kräfte rauben. Achtundachtzig war sie vor wenigen Wochen geworden. Und seit achtzig Jahren teilte sie dem Weihnachtsmann immer den gleichen Wunsch in einem Brief mit. Sie legte diesen an jedem 23. Dezember auf die Fensterbank. Sie hatte den Glauben an den Weihnachtsmann nie verloren. Obgleich die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches ausblieb. In diesem Jahr wollte Traute sich rächen für all die traurigen Weihnachtstage, die sie in ihrem Leben erlebt hatte. 
Monatelang hatte sie mit der Physiotherapeutin geübt, um wieder einigermaßen allein auf ihren Beinen stehen und wenige Schritte gehen zu können. Diese Frau war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Bald stellten sich erste Erfolge ein. Doch Traute sprach mit niemandem über ihre Fortschritte.
Gestern, am Heiligen Abend, war es so weit gewesen. Vorsichtig stieg sie nachts aus dem Bett. Auf ihren Stock gestützt, ging sie zuerst in die Küche und bereitete heiße Milch mit Honig zu. Dabei gab sie unter ständigem Rühren die Schlaftabletten hinein, die im Altenheim abends immer neben ihrer Tasse gelegen hatten. Zuerst wollte sie den neuen und offenbar noch unerfahrenen Pfleger darauf hinweisen, dass sie keine Medikamente zum Einschlafen brauchte. Doch dann erschien es ihr wie ein Wink des Schicksals und ihr kam der Gedanke, dass sie die Pillen anderweitig nutzen konnte – wie sie es dann ja auch getan hatte. Traute trug das Milchglas ins Wohnzimmer, stellte es neben die Plätzchenschale. 
Dann setzte sie sich in den Sessel und wartete geduldig, bis es im Kamin rumpelte und der Weihnachtsmann heruntergerutscht kam. Er klopfte sich den Aschestaub vom Bart und sah erstaunt auf die im Sessel sitzende Frau. 
»Guten Abend, Traute. Hm, ist die Milch für mich?«  
»Schon ziemlich abgekühlt«, meinte sie.
Der Weihnachtsmann setzte sich, nahm ein Plätzchen, tunkte es hinein und steckte es sich in den Mund. Ein Milchspritzer tropfte auf seinen Mantel. Nachlässig wischte er darüber. »Sag mal, Traute, du hast mir gegenüber in all den Jahren keinen einzigen Wunsch geäußert. Warum eigentlich nicht?«
»Was?« Traute setzte sich gerade auf. »Ich habe alle Weihnachten geschrieben, doch mein Wunsch wurde nie erfüllt.«
»Im Weihnachtsland ist kein Wunsch von dir eingetroffen.«
»An jedem 23. Dezember habe ich einen Brief auf die Fensterbank gelegt. Doch er wurde niemals abgeholt.« 
»Am 23. Dezember?« Der Weihnachtsmann trank einen kräftigen Schluck Milch und verzog das Gesicht. »Ganz schön süß.«
»Sicherlich vom Honig.« Traute freute sich innerlich und wartete darauf, dass er endlich umfiel. 
Doch zuvor würde sie ihm seine letzte Frage beantworten. »Ja, am 23. Dezember«, wiederholte sie und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. 
»Dann warst du immer zwei Tage zu spät dran. Meine Helfer sammeln die Briefe spätestens bis zum 21. Dezember ein. Es tut mir leid, Traute, dass du fast dein ganzes Leben lang vergeblich gewartet hast. Sehr, sehr leid.« Er biss in einen weiteren Keks, spülte ihn mit dem Rest der Milch hinunter. 
»Nicht trinken!« 
Trautes Warnung kam zu spät. Polternd fiel der Weihnachtsmann zu Boden. 

Traute schüttelte den Kopf. Sie wollte diese Erinnerungen aus ihren Gedanken streichen. Und ihr schlechtes Gewissen gleich mit! Sie hatte es schließlich versäumt, ihre Wünsche rechtzeitig dem Weihnachtsmann zu schicken. Sie war unsicher: Wann hatte ihr Sohn sie aus dem Pflegeheim abgeholt? Sie war in dem Glauben, es wäre erst gestern gewesen. Oder zwei Tage zuvor? Erinnern konnte sie sich lediglich, dass sie direkt an jenem Abend den Zettel auf die Fensterbank gelegt hatte. Mit demselben Wunsch wie immer, seit einundachtzig Wintern. Und nun war es um den Weihnachtsmann geschehen. Sie hatte ihn auf dem Gewissen und es war nur eine Frage der Zeit, bis der Kommissar den Fall lösen würde. Schließlich hatte er das leere Glas als Beweismittel mitgenommen. 
Traute fiel in einen unruhigen Traum, in dem das leblose Gesicht des Weihnachtsmannes sie verfolgte. 

In den frühen Morgenstunden klingelte es an der Tür. Traute saß in ihrem Sessel und schreckte zusammen. Sie kommen mich holen, dachte sie und ihr sträubten sich förmlich die Haare. 
Ein paar Jahre im Pflegeheim hätte sie gerne noch erlebt, dort ging es recht lustig zu unter den alten Leuten. Und die Wochenenden und Feiertage mit Leo und Jasmin würde sie ebenfalls vermissen in ihrer kalten, grauen Gefängniszelle. 
»Guten Morgen, Herr Kommissar«, hörte sie Leo sagen, der den Polizisten ins Wohnzimmer bat, wo er sie kurz darauf begrüßte: »Guten Morgen, Frau Reuter. Zu Ihnen wollte ich.« Er nickte ihr freundlich zu. »Ich habe gute Nachrichten.«
Trautes Augen blitzten auf.
»Dem Weihnachtsmann geht es gut. Und er wollte nicht bei Ihnen einbrechen.« Brandstätter schmunzelte in sich hinein. »Er bittet Sie, Frau Reuter, zu ihm ins Krankenhaus zu kommen. Ist Ihnen das möglich?« 
»Ist das notwendig?«, mischte Leo sich besorgt ein. »Und warum soll sie das überhaupt tun? Sie wissen doch, dass meine Mutter erhebliche Probleme beim Gehen hat.«
»Ist schon gut, mein Junge. Das schaffe ich.« Sie stützte sich auf seine Hand, um von ihrem Sitzplatz hochzukommen. Langsamen Schrittes ging sie zur Haustür. Leo half ihr in den Mantel, bevor er seine eigene Jacke überzog. 
»Junge, ich möchte, dass du zu Hause bleibst.« Traute sah ihren Sohn inständig bittend an.
»Aber Mutter ...«
»Es ist wichtig für mich. Ich will allein mit dem Weihnachtsmann reden.«
Schweren Herzens ließ Leo sie mit Brandstätter gehen.

Am Krankenhaus angekommen, besorgte der Kommissar einen Rollstuhl. Traute setzte sich hinein und ließ sich zum Zimmer fahren. Sie atmete tief durch, bevor sie leise an die Tür klopfte. Brandstätter öffnete sie und rollte Traute bis vor das Bett des Weihnachtsmanns. Dann verließ er den Raum.
»Traute.« Der Weihnachtsmann streckte ihr die Hand entgegen. 
Vorsichtig reichte sie ihm ihre mit Altersflecken übersäte Rechte. Tränen standen ihr in den Augen. »Es tut mir leid«, stammelte sie, »es tut mir unsagbar leid.«
»Was?«
»Dass ich dich umbringen wollte.«
»Bitte?«
»Ja, ich ...«, setzte Traute an, wurde jedoch unterbrochen.
»Ich verstehe schon. Du hast all die Jahre vergebens auf ein Geschenk von mir gewartet. Und nun, am Ende deines Lebensweges, wolltest du dich rächen.«
»Ich schäme mich dafür.«
»Rache ist nie der richtige Weg. Außerdem hättest du schon seit acht Jahrzehnten mit mir darüber reden können. Warum erst jetzt?« 
»Es war meine letzte Chance. Ich habe lange darauf hingearbeitet, noch ein einziges Mal ohne fremde Hilfe ein paar Schritte gehen zu können. Doch ich merkte, meine Kräfte ließen nach. Nur der Gedanke an mein Vorhaben hat mich aufrecht gehalten. Es war töricht, ich werde mir niemals verzeihen können. Und nun, da ich weiß, dass es allein mein Versäumnis war, fühle ich mich schuldig. Auch wenn du mit dem Leben davongekommen bist. Ich werde ins Gefängnis gehen und dafür büßen, bis ich von der Erde abberufen werde.« Sie wischte sich über die Wangen. 
»Was redest du da?«
»Wenn die Polizei die Milch untersucht, wird sie Spuren von einem Schlafmittel finden.«
Der Weihnachtsmann lachte auf. »Du hast mir Tabletten in die Milch gerührt?«
»Was, denkst du, soll dich sonst umgeworfen haben?«
»Ich habe seit Langem gesundheitliche Probleme. Die viel zu fette Mahlzeit, die ich vor meiner Reise auf die Erde zu mir genommen habe, hat mir wohl den Rest gegeben.«
»Aber ... aber«, stotterte Traute, »die Tabletten! Ich habe sie in der Milch aufgelöst.«
»Ich dachte eher, du hättest reichlich Zucker hineingerührt.«
»Zucker? Nein! Ich trinke meinen Tee ungesüßt. Es waren Tabletten. Ich bin mir sicher! – Oder?« 
Für einen Moment hingen beide ihren Gedanken nach, dann brach der Weihnachtsmann das Schweigen: »Schau mal in den Schrank, Traute. Die Polizei hat mir meinen Geschenksack wiedergegeben. Darin ist ein Päckchen für dich. Euer Haus war meine letzte Anlaufstelle.« 
Vorsichtig fuhr Traute mit dem Rollstuhl vor den Schrank und zog den Sack heraus. In ihm steckte ein buntes Kästchen.
»Mach es zu Hause auf, Traute. Frohe Weihnachten.
Ich muss zurück in mein Land auf dem Nordstern.«
Als sie sich zu ihm umdrehte, war er bereits verschwunden. Traute blieb noch eine Zeit allein, bevor sie nach Brandstätter rief. Fest hielt sie das Geschenk in der Hand.
»Darf ich Sie etwas fragen, Herr Kommissar?«, meinte Traute, als sie neben ihm im Auto saß. 
»Aber sicher, Frau Reuter.«
»Haben Sie das Glas mit den Milchresten untersucht?«
»Ja, warum fragen Sie?«
»Und Sie haben nichts feststellen können?«
»Doch.«
Traute schauderte. Ich wusste es!, dachte sie, nun werde ich verhaftet. Sie wartete, dass Brandstätter von sich aus weitersprach. Stattdessen fing er an zu lachen. 
»Was ist daran lustig?«, fragte Traute verdutzt.
»Hatten Sie dem Weihnachtsmann die Milch hingestellt?«
»Ja.«
»Aber mit reichlich Süßstoff!«
»Wie bitte?«
»Erinnern Sie sich nicht? Sie müssen in die Milch eine enorme Menge an Süßstoff gegeben haben. Wir fanden Spuren von Steviolglycosiden.« 
»Spuren von was?« Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
»Lassen Sie es gut sein, Frau Reuter.« Brandstätters Stimme klang sanft. 

Am späten Abend brachte Leo seine Mutter in ihr Zimmer. Erst als sie allein war, kramte Traute das bunte Kästchen aus ihrer Handtasche hervor und öffnete es bedächtig. Ein strahlendes Lächeln ging über ihr Gesicht. Endlich war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen! In dem Kästchen lag eine Kette aus unterschiedlich großen Muscheln, so eine, wie sie sich immer erträumt hatte. 
Traute hätte sich selbst längst eine kaufen können, doch es war ihr sehnlichster Wunsch, dass der Weihnachtsmann sie brachte.
Sie trat ans Fenster, schob die Gardine zur Seite und sah hinauf zum Nordstern. »Danke, Weihnachtsmann«, formte sie stumm die Worte, »danke.« 

             





















Sigrid Wohlgemuth 
Seit fünfundzwanzig Jahren schreibt die Autorin Weihnachtsgeschichten und beschenkt damit ihre Mitmenschen zum Heiligen Abend. Zum 25. Jubiläum erscheint die zweite Weihnachtsanthologie mit dem Titel: Weihnachtskind.

Die Autorin Sigrid Wohlgemuth wurde in Brühl, bei Köln geboren. 1996 erfüllte sich die selbstständige Kauffrau ihren Traum, zog nach Kreta und machte die Insel zu ihrer Wahlheimat. Die Mittelmeerinsel, ihre Bewohner, die kretische Küche und das Schreiben wurden zu ihrem Lebensmittelpunkt. Es entstanden Geschichten und Romane, die überwiegend auf Kreta spielen. Nicht nur in ihren Erzählungen, sondern auch bei Lesungen, bei VHS Kochkursen in Deutschland und auf Kreta, sowie in Live – Kochshows auf der Insel möchte Sie dem Gast die kretische Kultur, sowie Land und Leute näherbringen.

Das Lebensmotto von Sigrid Wohlgemuth: „Lebe deinen Traum, bevor es zu spät dazu ist.“ 
Bisher erschienen 
2019 Weihnachtskind – Anthologie Weihnachtsgeschichten - Selbstverlag 
2019 Ein Stück Süden für dich - Kreta Roman, Franzius Verlag GmbH 
2017 Und tschüss … Auf nach Kreta! -Kreta Roman mit Rezepten, Franzius Verlag GmbH 
2015 Der Duft von Oliven, Kreta Roman - Der kleine Buchverlag/Lauinger Verlag 
2013 Drei Stühle - Köstliche kretische Geschichten & Rezepte Stories & Friends Verlag 
2012 Bis am Baum die Lichter brennen - Anthologie – Weihnachtsgeschichten HS Verlag – Österreich 
Zahlreiche Veröffentlichen in Anthologien und Zeitschriften. 
Seit 2017 Beiträge: Zeitschrift Das Lavendelo Natürliches. Selber. Machen. 
Weiteres: 
August 2018 – Food-Expertin für ADAC Reisemagazin Kreta https://web.facebook.com/KRETA.GESCHICHTEN.REZ EPTE/