Sonntag, 8. Dezember 2019

Licht der Weihnacht von Sabine Ludwigs

Bild  pixabay Gerd Altmann
Im Grunde sah die Lithophanie aus wie eine milchige Kegelvase, auf der vier mondscheinfarbene Engel abgebildet waren: hochgewachsene, schlanke Weihnachtsengel, die nichts Putziges an sich hatten. Ihre Haare lockten sich, die Schwingen waren golden und auf den langen Hemden, unter denen nackte Füße hervorschauten, schimmerten silberne Sterne. Jeder von ihnen spielte ein Instrument: eine Geige, Harfe, Flöte und eine Trompete. Zeitlos waren sie, zeitlos und schön, und vom ersten Advent bis zum Dreikönigstag leuchteten sie im Wohnzimmerfenster, wenn die Kerze im Inneren des Behältnisses brannte.

Die Lithophanie war ein Familienerbstück. Schon Mamas Urgroßeltern hatten sie zu Weihnachten aufgestellt. Inzwischen war das Porzellan wegen der Haarrisse brüchig geworden. Und doch hatte sich der Zauber in all den Jahren nicht verbraucht. Wenn es dunkel wurde und Mama die Kerze ansteckte, war es, als erwachten diese Engel zum Leben, so deutlich traten sie hervor. Sie schienen im Flügelschlag auf der Stelle zu schweben und die Sterne glommen in den Falten ihrer Gewänder. Ihre Wangen rundeten sich, die Augen leuchteten überirdisch und die Münder des Geigenengels und des Harfenisten sahen aus, als würden sie jeden Moment anfangen zu singen, während der Trompeter und der Flötenengel in ihre Instrumente blasen wollten. Vom Himmel hoch, da komm ich her. Über ihre Haare huschten Licht und Schatten und ihre Locken bewegten sich, als würden sie vom sachten Wind des Flügelschlags berührt, und die Schwingen selbst glühten golden und versprühten Lichtfunken.

Es gab in der ganzen Straße, ach was, in der ganzen Stadt, keinen Fensterschmuck, der schöner war, tröstlicher oder besinnlicher. Noch nicht mal in Griseldas Blumenlädchen gegenüber, und das wollte was heißen. „Sophie“, sagte Mama an einem Heiligabend, „wenn das Kerzenlicht die Engel berührt, ist es, als ob sie wirklich hier sind, und bei ihnen sind unsere Lieben und singen mit uns unter dem Tannenbaum.“ Genauso empfanden es Papa und Lukas auch. Sophie stellte sich oft vor, wie Familienmitglied um Familienmitglied eine Kerze entzündet, die Lebendigkeit der Engel bestaunt und Weihnachten in sein Herz hatte ziehen lassen. Alte Menschen und junge, glückliche und traurige. Kranke, die gesund wurden, oder Todgeweihte, die diese Engel ein letztes Mal bewundert hatten, wie die, die in Kriegen umgekommen waren. Oder aber auch Heimkehrer, die eine Kerze anzündeten, um Hoffnung und Frieden zu fühlen. Und Sophies liebste Großeltern, die sie so vermisste. Sie sah sie vor sich, wie sich alle gemeinsam unter dem Weihnachtsbaum, im Lichtschatten der Engel, versammelten, und hörte, wie sie sangen: Vom Himmel hoch, da komm ich her.

Am Samstag vor dem ersten Advent waren Papa und Lukas auf der Weihnachtsfeier des Fußballvereins. Mama und Sophie schmückten zuhause alles weihnachtlich. Zuletzt holten sie die Schachtel mit der Lithophanie. Mama nahm sie vorsichtig aus dem Baumwolltuch, in das sie immer eingewickelt wurde. Dann stellte sie das Engelslicht auf die Fensterbank. Sie zog ihre Hand zurück und als Nächstes ertönten so rasch hintereinander, dass es beinahe wie ein einziges schreckliches Geräusch klang, ein Knall und ein Klirren.

Sie schrien auf. Dann wurde es so still, wie es nur nach ohrenbetäubender Lautstärke still sein konnte. Mamas kalte Hand zitterte, als sie Sophies in ihre nahm und beider Herzen schlugen viel zu schnell. „Wie konnte das passieren?“, flüsterte Mama mit brüchiger Stimme. Sie trauten sich kaum, hinzusehen. Als sie es taten, lag auf den Bodenfliesen ein Häuflein Scherben aus Locken und goldenen Schwingen, aus Silbersternengewändern, Füßen und offenen Mündern, aus Geige, Harfe, Flöte und Trompete und Splittern, von denen manche so fein waren, dass sie wie Raureif glitzerten.

Mama fing an zu weinen. Auch Sophie schniefte und wusste gar nicht, was sie sagen oder machen sollte. Deshalb war sie heilfroh, als Papa plötzlich ins Zimmer kam, Mama in seine Arme nahm und sie tröstete. Lukas holte das LED-Gesteck mit dem Winterwichtel aus der Diele. Er stellte es auf die Fensterbank, um die Lücke zu füllen. Aber die wurde dadurch nur noch größer. Schließlich sammelte Sophie die Scherben in das Baumwolltuch, holte das Kehrblech, fegte die Splitter auf und kippte sie ebenfalls in das Tuch. Alles in der Mülltonne zu entsorgen, brachte sie aber nicht über sich. Also verwahrte sie das Tuch samt Inhalt in ihrem Schreibtisch.

Das ganze Wochenende schauten sie immer wieder bedrückt zu der Fensterbank. Alle sehnten sich nach den Lithophanie-Engeln und konnten sich einfach nicht an den Anblick des Wichtels gewöhnen. „Aber das werden wir müssen“, sagte Mama traurig und richtete seine grauwollene Zipfelmütze. „Solche wunderbaren Dinge lassen sich nicht ersetzen.“

Irgendwie erwartete Sophie ein Wunder, schließlich war Advent. Doch die Scherben setzten sich natürlich nicht einfach magisch über Nacht zusammen. Und kleben ließen sie sich erst recht nicht. Sie fanden auch in keinem Antiquitätenladen etwas Ähnliches und Lukas graste das Internet vergeblich ab. Nach einer Woche gaben sie auf – und genau da passierte etwas Unerwartetes: Als Lukas und Sophie nach Schulschluss an Griseldas Blumenlädchen vorbei gingen, blieb sie abrupt stehen. In dem Weihnachtsschaufenster hing eine große, wunderschöne Kugel aus feinstem Glas. Im Inneren der Kugel befand sich ein Glaszylinder mit einer brennenden Stumpenkerze. Die Kerze war weiß mit Silbersternen und um sie herum standen Schneemänner und Schneefrauen dekorativ arrangiert. In einer anderen lagen Kiefern- und Tannenzapfen, in einer dritten waren es Mandeln, Nüsse und Zimtstangen. Und da kam - Sophie wusste nicht, woher - diese Idee angeflogen, die auch Lukas klasse fand. Also legten sie ihr Geld zusammen und kauften eine Glaskugel ohne Deko, aber mit Sternenkerze und Aufhängung.

Als Mama abends aus dem Büro kam, stand der Wichtel auf seinem gewohnten Platz in der Diele. Papa hatte die Kugel im Fenster aufgehängt und sie mit einem Baumwolltuch bedeckt. Es war das Tuch von der Lithophanie. „Komm her“, rief er. „Sophie und Lukas haben eine Überraschung für dich.“

Dann zog Lukas wie ein Magier das Tuch weg und Sophie zündete die Kerze in der Glaskugel an. Erst schien die blau-goldene Flamme nicht angehen zu wollen. Sie flackerte schwach, doch dann brannte der Docht stark und gleißend hell. Das Kerzenlicht ergoss sich über die von ihnen wirkungsvoll angeordneten Engel-Fragmente von Locken, erhabenen Mondscheingesichtern, offenen Mündern und nackten Füßen, über Musikinstrumente und Splitter, die so fein waren, dass sie wie Raureif glitzerten. Es sah auf geheimnisvolle Weise wunderschön aus. Silbersterne schimmerten, Goldschwingen glühten und versprühten Lichtfunken. Geheimnisvolle Schatten glitten durch das Zimmer, weil die Glaskugel sachte hin und her schwang. Ganz so, als würde der Wind lebendiger, schlagender Flügel sie bewegen.

Mamas Augen wurden feucht. Sophies auch. Sie schauten sich an und wussten: Auch in Zukunft würde Familienmitglied um Familienmitglied eine Kerze entzünden, die Anwesenheit der Engel spüren und Hoffnung und Frieden in sein Herz ziehen lassen. Alte Menschen und junge, glückliche und traurige, Kranke, die gesunden und Todgeweihte, die sich dem Engelszauber ein letztes Mal hingeben. Wie die geliebten Großeltern zuvor, deren Eltern, und deren Eltern davor. Und sie alle versammeln sich unter dem Tannenbaum, um gemeinsam im Licht der Weihnacht zu singen.


© Sabine Ludwigs



Klappentext

Seit Mia ihre Eltern verloren hat und der kleine Bruder Joshua an einem ihr
unbekannten Ort bei einer Pflegefamilie lebt, haben die Geschwister einander
nicht mehr gesehen. Mia ist davon überzeugt, dass sie nie wieder glücklich sein wird.

Da tritt der junge Sterngucker Jasper in ihr Leben, der fest an himmlische Mächte glaubt.
Als dann in einer Winternacht wundersame Lichter am Himmel erscheinen und ein
außergewöhnliches Wesen aus den Wolken schneit, fragt Mia sich, ob sie träumt.
Oder können Wunder wirklich wahr werden?

Sie folgt dem engelhaften Wesen, um  Joshua zu suchen. Begleitet vom Sterngucker Jasper,
ihrer zerstreuten Großmutter Melchora und dem alten Geigenlehrer Balthazár … 


Sabine Ludwigs wurde 1964 in Dortmund geboren und wuchs auch dort auf. Zur Schriftstellerei fand sie 2004. Bis etwa 2010 verfasste sie ausschließlich Kurzprosa. Es erfolgten zahlreiche Publikationen in Anthologien und Hörbüchern bei diversen Verlagen. Ihre Arbeiten sind in Print- und Hörmedien sowie als eBook publiziert. Ein Teil ist zudem Unterrichtsmaterial für das Fach Religion/Ethik an weiterführenden Schulen, wie auch an Grundschulen (Leseförderung). Sie wurde mit dem Friedens-Literaturpreis des Berliner Kulturrings und mit dem Literaturpreis Gedichte & Balladen der Ideale Stiftung ausgezeichnet. Inzwischen veröffentlicht die Autorin vorwiegend Unterhaltungsromane. Neben der Schriftstellerei war Sabine Ludwigs für einen Dortmunder Verlag über Jahre als Lektorin tätig. Derzeitig ist sie noch für wenige Autoren als Lektorin aktiv.  Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Lünen.
autorin@sabine-ludwigs.de