Montag, 30. November 2015

Die vergessenen Kinder von Buduburam von Monique Lhoir

Foto von Monique Lhoir



Ich schlendere durch die Parfümerie Douglas, bleibe vor dem spiegelnden Regal mit den Chanel-Produkten stehen und greife gezielt nach dem kleinen Fläschchen Parfüm N°19. Siebeneinhalb Milliliter Inhalt für einhundertneunzehn Euro. Jedes Jahr in der Adventszeit kaufe ich mir einen solch winzigen Flacon. Das hat bereits Tradition, wenn wir über den Weihnachtsmarkt bummeln. Wie immer bleibt mein Mann auf der Metallbank vor dem Laden sitzen und wartet geduldig. „Da drinnen stinkt es“, sagt er. „Ich bekomme davon Kopfschmerzen.“
Als wenn ich mir die Finger verbrannt hätte stelle ich die Schachtel zurück ins Regal, gehe ein paar Schritte zur Seite und setze mich in den mit rotem Samt bezogenen Sessel. Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich die funkelnden Regale um mich herum. Grell, hell, gleißend - teuer.
‚Einhundertneunzehn Euro‘, sinne ich nach. ‚Davon muss sich eine Familie in Buduburam vier Monate ernähren, wenn sie diesen Betrag überhaupt verdient.‘ Ich denke an Charles, den ich auf dem Online-Sprachkursus Babbel kennenlernte. Mein Englisch und Französisch musste für die nächste Nordland-Kreuzfahrt dringend aufgebessert werden. Dänemark, Norwegen, Shetland-Inseln, Färöer, Island, Schottland, Irland - ein teures Vergnügen. Ich freute mich darauf.
Charles wollte mich „zu seinen Freunden“ hinzufügen. Ich bestätigte das. Er lernte Englisch-Deutsch. So gab er jedenfalls an. Warum sich nicht austauschen? Irgendwann schrieb er: „Ich bin siebzehn Jahre alt und Liberianer. Wegen des Bürgerkrieges in Liberia lebe ich jetzt mit meinem Dad im Flüchtlingscamp Buduburam in Ghana.“
Von Buduburam hatte ich nie gehört. Ich recherchierte. Der Bürgerkrieg in Liberia dauerte vierzehn Jahre bis zum Jahr 2003. Etwa zweihundertfünfzigtausend Liberianer kamen ums Leben, eine Million Bürger wurden vertrieben, Frauen vergewaltigt, Männer vor den Augen der Familie gedemütigt und anschließend bestialisch ermordet, sogar Kannibalismus soll es gegeben haben. Ghana richtete für die Flüchtlinge ein Lager in Buduburam ein, in dem mehr als vierzigtausend Liberianer untergebracht wurden. Nachdem das Flüchtlingshilfswerk UNHCR sich ab 2007 nicht mehr für die Flüchtlinge zuständig fühlte, beschloss auch die Regierung in Ghana im Februar 2011, das Camp in Buduburam aufzulösen. Die Bewohner sollten abgeschoben werden. Ab sofort wurde jegliche Unterstützung eingestellt, es gab keine Arbeitserlaubnis und keine Legitimation mehr. Ghana wollte die Liberianer nicht. Tausende kehrten zurück, doch zwölftausend Menschen leben heute noch in Buduburam - ohne Arbeit, ohne Perspektive, weil sie aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse nicht mehr nach Liberia zurück wollen oder bereits in Ghana geboren wurden.
Nach meinen Rückfragen schrieb Charles: „Meine Familie starb 2003 im liberianischen Bürgerkrieg. Meine Mutter, meine Geschwister, sie wurden vor meinen Augen erschossen. Ich war sechs oder sieben Jahre alt. Mein Vater konnte mit mir flüchten. Ich schloss die Schule im April 2010 ab. Seitdem bin ich immer noch zu Hause. Ich habe nichts zu tun und keine Möglichkeit, wegen des Schulgeldes eine weiterführende Schule zu besuchen oder eine Ausbildung zu machen. Wir müssen bei Regen aufstehen, da das Dach undicht ist.“
Ich war entsetzt, recherchierte und fand die DAG`s LIBERIA HILFE e.V. Charles sollte zumindest eine Hilfe für den Schulbesuch bekommen, die ich auch kostenmäßig übernehmen wollte. Das war seine einzige Chance in Ghana.
Sofort bekam ich Antwort. Lange telefonierte ich mit Daniela, die die Liberia-Hilfe leitet. Sie versprach, mit Charles Kontakt aufzunehmen.
Die Kontaktaufnahme mit Charles klappte nicht so rasch. Er schrieb, er würde die Organisation nicht finden, wobei Daniela mir versicherte, dass Charles drei Termine verstreichen ließ, ohne aufzutauchen. Letztendlich dachte ich, dass ich alles getan hätte und ein Siebzehnjähriger kein Kind mehr sei.
Ein paar Tage später erhielt ich von Charles eine E-Mail: „Hi Mom, I am sorry that I lied sometimes due to some reasons. Please forgive me. I hope you understand. The whole truth about me: I was born on October 15, 1995 so I am now 19 years old and will turn to 20 next month. I am so sorry I lied to you about my age before. Secondly I have finished the senior high level in school on May 14, 2014 which I was 18 years old by that time. Once more I am so sorry I lied to you about my education. I finished school when I was 18 years old. I really want to go to the university. I lied because I needed some money here to get food. I think you know what that means for a child to be hungry. Mom please find it in your heart to forgive me.“
Ich war enttäuscht und ärgerte mich über meine Vertrauensseligkeit. Zwar konnte ich verstehen und vergeben, aber ich war nicht bereit, sein Studium zu finanzieren. Über Daniela erfuhr ich mehr über die Zustände in Buduburam. Ich war entsetzt und fragte nach, ob ich ihr irgendwie bei ihrer schwierigen Arbeit helfen könnte. „Alles was du möchtest“, schrieb sie zurück, „du kannst mir beim Häkeln und Stricken helfen. Topflappen, Schlüsselanhänger, Toilettenpapierhüte, Socken oder einfach ein paar Sachen spenden. Schultaschen sowie Bleistiftmäppchen benötigen die Kinder, Puppen, Puppenkleidung, kleine Autos. Solche Dinge haben sie nicht.“ Ich begann, aus dicker Wolle Schultaschen und Bleistiftmäppchen zu stricken. Aber das befriedigte mich nicht. „Ist es nicht sinnvoller, ein Kind zu unterstützen?“, fragte ich nach. „Was steht akut an?“
„Wichtig sind die fünf Projekte auf meiner Homepage. Ein paar wirkliche Sorgenkinder habe ich allerdings.“

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Ich schrecke hoch. Eine Maske in allen Regenbogenfarben beugt sich über mich, ein extremer Parfumgeruch schlägt mir entgegen.
„Alles okay“, stottere ich, „ich überlege noch.“ Ich starre die vielen kostbaren Parfumfläschchen an, die aufwendig glitzernden Verpackungen und denke an die achtjährige Pricela, die ein Stein im Ohr hat und so gut wie gar nichts mehr hören kann. Sie muss dringend operiert werden, aber die Großmutter, mit der das elternlose Mädchen zusammenlebt, hat kein Geld.
Ich denke an den fünfjährigen Kofi, dessen Lippe immer länger wird und er sie hochhalten muss, wenn er isst. Seine Mutter ist alleinerziehend. Oft reicht der magere Verdienst nicht, um Essen zu kaufen, geschweige denn ist Geld für die Operation übrig. Kofi traut sich nicht mehr raus, weil andere über ihn lachen.
Ich denke an die siebenjährige Lydia, eine gute Schülerin. Die Eltern haben kein Geld für das kleine Mädchen, die dringend eine Untersuchung im Hospital benötigt, denn manchmal fällt sie einfach um.
Ich denke an die elfjährige Vanessa. Sie musste miterleben, wie Rebellen den Vater erschossen. Die Mutter floh. Seitdem hat sie nichts mehr von ihr gehört oder gesehen. Eine Tante zog mit ihr nach Ghana und passt nun auf sie auf. Es kam noch schlimmer. Im letzten Jahr verloren beide ihre kleine Hütte, weil die Regierung das Gebiet planierte. Vanessa sucht noch heute in den Trümmern nach ihren wenigen Habseligkeiten. Sie kann nicht regelmäßig zur Schule gehen, da sie auf der Straße Obst verkaufen muss.
Ich denke an den zwölfjährigen Bright. Er liebt Fußball und ist ein sehr guter Schüler. Sein Vater ist schwer herzkrank und befindet sich in einer Buschklinik. Die Mutter musste ihre Lebensgrundlage, einen winzigen Marktstand, verkaufen, um so Geld für die Klinik zu erhalten. Finanzielle Mittel für die Schule sind nicht vorhanden. Aber Bright wäre vor Hunger sowieso zu schwach für den Schulweg. Er schläft auf einer Bast-Matte direkt auf dem nackten Betonboden der Hütte. Er hat vier jüngere Geschwister und ist die Hoffnung der Familie.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Erneut beugt sich die Maske mit dem Parfumgeruch über mich.
„Nein danke, ich kann mich einfach nicht entscheiden.“ Hastig stehe ich auf und rase zum Ausgang. Mein Mann sitzt wartend auf der Bank. Er schaut auf meine Hand. „Hast du gar nichts gekauft?“, fragt er überrascht.
Ich verneine. „Du hast Recht“, sage ich. „Es stinkt da drinnen. Man bekommt Kopfschmerzen.“
„Möchtest du über den Weihnachtsmarkt?“, fragt mein Mann weiter.
„Ich möchte nach Hause“, erkläre ich. Im Hintergrund singt Herbert Grönemeyer: „Das Leben ist nicht fair.“ Mein Mann guckt mich erstaunt an. „Ich habe alles, was ich brauche“, erkläre ich. „Ich kaufe einen Marktstand, eine Matratze und einen Schulplatz für Bright.“
„Was kaufst du?“ Ich sehe ihm an, dass er mich nicht für normal hält.
„Das erkläre ich dir später.“
Bald ist Weihnachten. Ich empfinde einen tiefen Frieden in meinem Herzen – auch wenn ich Charles nicht geholfen habe. Aber für siebeneinhalb Milliliter Chanel N°19 kann ich einen Marktstand sowie eine Matratze kaufen – und damit sieben Menschen eine Existenzgrundlage bieten – und als Zugabe einen Schulplatz für Brigth.

© Monique Lhoir
Monique Lhoir
Sie schreibt seit dem Jahr 2000 Kurzgeschichten und Romane und verfügt über diverse Veröffentlichungen. Ihre Liebe gilt Norddeutschland, hier insbesondere den nordfriesischen Inseln. Im Augenblick arbeitet sie am 6. und letzten Teil des historischen Romans „Arjan von Föra“.




Sonntag, 29. November 2015

Der Weihnachtsengel von Britta Kummer




Nun war es endlich wieder so weit. Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Der kleine Engel freute sich schon das ganze Jahr da-rauf, seinen Behälter verlassen zu dürfen, um dann an der Spitze des geschmückten Weihnachtsbaumes zu hängen. So langsam musste es doch Zeit sein dachte er sich, aber nichts passierte. Er konnte zwar sehen, da er in einem Glasbehälter aufbewahrt wurde, dass andere Kisten und Kartons aus dem Schrank genommen wurden, aber nach ihm griff keiner. Hatten sie ihn vergessen oder war er in den Augen der Menschen einfach nicht mehr hübsch genug? Sicher, er war nicht mehr der Jüngste und hatte schon viele Weihnachten erlebt, aber ihn deswegen einfach zu vergessen?!
Er wurde immer trauriger. Wie schön war es jedes Mal, wenn er von der Spitze des Baumes beobachten konnte, wie die Menschen sich über Weihnachten freuten. Den Glanz in den Augen der Kinder, wenn sie ihre Geschenke auspacken durften. Der besondere Duft, der während dieser Zeit durchs Haus zog. All das sollte er jetzt nicht mehr erleben dürfen, nur weil er alt war.
Er hatte schon die Hoffnung aufgegeben, als er eine Kinder-stimme hörte.
„Oma, wo ist denn der Engel?“
„Ach Kleines, der ist nicht mehr schön, den können wir nicht nehmen“, hörte der Engel eine weitere Stimme sagen.
„Aber Oma, ich habe ihn doch so gerne. Ohne ihn fehlt Weihnachten etwas. Bitte, bitte, lass ihn uns aus seinem Behälter nehmen.“ Hoffnung darauf, dieses Weihnachten doch noch miterleben zu dürfen, wurde immer größer.
Dann wurde er endlich herausgenommen. Man hatte ihn doch nicht vergessen. Als das kleine Mädchen ihn vorsichtig anfasste und ihn dann sanft in ihren Händen hielt, konnte er sein Glück kaum fassen. Sie schaute ihn liebevoll und mit leuchtenden Augen an. Vorsichtig trug sie ihn zu dem bereits geschmückten Weihnachts-baum und bat die Oma darum, ihn an der Spitze des Baumes zu befestigen.
Als er dann von der Baumspitze herab auf das kleine Kind schaute, konnte er sehen, dass sie ihn glücklich und mit strahlenden Augen ansah und er freute sich so sehr darüber, diese glücklichen Kinderaugen zu sehen. Er wusste genau, dass sie ihm ein ganz besonderes Geschenk zu Weihnachten gemacht hat, indem sie ihm erlaubte, auch in diesem Jahr wieder an diesem schönen Fest teil-nehmen zu dürfen. Und deshalb wollte er ihr auch einen Gefallen tun und versuchte, besonders schön und hübsch für sie auszusehen.
So stand für den kleinen Engel, genau wie für das kleine Mädchen einem schönen gemeinsamen Weihnachtsfest nichts mehr im Wege.
© Britta Kummer

"Der Weihnachtsengel" stammt aus "Weihnachtsgeschichten … und noch mehr" von Britta Kummer

und ist bei BoD und Amazon erhältlich.

Beschreibung des Buches:
Für viele Menschen ist die Weihnachtszeit die schönste Zeit des Jahres!
Überall leuchten die Weihnachtssterne, es riecht nach Früchten, Gewürzen, Zimt und Anis. Aber auch überfüllte Geschäfte und Eile bestimmen oft den Alltag, denn jeder möchte noch passende Geschenke für Familie oder Freunde finden.
Trotz allem bleibt aber immer noch Zeit, gemütliche und ruhige Abende zu verbringen. Und was gibt es da Schöneres, als einen hektischen Tag mit wunderbaren Weihnachtsgeschichten und Leckereien ausklingen zu lassen?
Also gönnen Sie sich mit den Erzählungen „Weihnachtsgeschichten … und noch mehr“ einfach mal ein paar ruhige und entspannte Stunden und genießen dabei die leckeren Versuchungen aus diesem Buch.
„Frohe Weihnachten“ und einen guten Rutsch ins neues Jahr.

Britta Kummer wurde 1970 in Hagen (NRW) geboren und lebt heute im schönen Ennepetal. Als gelernte Versicherungskauffrau entdeckte sie im Jahre 2007 das Schreiben und seit dieser Zeit bestimmt es ihr Leben. Es macht ihr einfach großen Spaß, sich auf diese Art und Weise auszudrücken. Erst wurden ihre Werke im Bekanntenkreis herumgereicht und die Resonanz darauf war sehr positiv. Es dauerte nicht lange und schon hielt sie ihr 1. Buch „Willkommen zu Hause, Amy“ in ihren Händen.
Weitere Informationen finden Sie unter:

http://brittasbuecher.jimdo.com/
http://kindereck.jimdo.com/

Montag, 23. November 2015

Adventskalender 2015


Foto von Eva Joachimsen

Natürlich werde ich in diesem Jahr wieder Leseproben, Gedichte und Kurzgeschichten in der Weihnachts-Textwerkstatt vorstellen. Freut euch auf schöne Texte sowohl von alten Bekannten, als auch von Autoren, die erstmalig dabei sind. Ab den 29.11. stimmen wir uns auf Weihnachten ein.