Donnerstag, 5. Dezember 2019

Weihnachtsplätzchen im August von Eva Markert





Warum es schon im August Weihnachtsplätzchen und andere weihnachtliche Leckereien in den Läden zu kaufen gibt? Das ist eine lange Geschichte.
Zunächst einmal muss man wissen, dass Weihnachtsleute auch nur Menschen sind.
Weihnachtsmänner haben eine lebenslange Arbeitsplatzgarantie, und doch ist der Eintritt in diesen Berufsstand eine schwierige Entscheidung, denn eins hat sich in den vielen Jahrhunderten nie geändert: Weihnachtsmänner sind einsam. Höchstens kinderlose Ehepaare sind in der Weihnachtsgilde zugelassen. Alle Mitglieder müssen sich verpflichten, das Weihnachtsgeheimnis bis an ihr Lebensende zu bewahren. Aus diesem Grund ist auch ein Austritt aus der Weihnachtsgilde nicht möglich und selbst Smartphones sind als Sicherheitsrisiko verboten. Und so leben Weihnachtsleute unerkannt in verlassenen Gegenden, nur zusammengeschlossen in einem weltweiten gesicherten Computernetzwerk.
Da – wie gesagt – Weihnachtsmänner und Weihnachtsfrauen auch nur Menschen sind, kann es schon einmal vorkommen, dass das eine oder andere Ehepaar sich weniger gut versteht, als man es von Weihnachtsleuten gemeinhin erwarten würde. So konnte zum Beispiel der Puppenweihnachtsmann seine Frau nicht mehr so recht leiden. Sie ging ihm mit ihrer Geschwätzigkeit oft arg auf die Nerven, und wer weiß, wie das ausgegangen wäre, wenn es das Weihnachtsgeheimnis nicht gäbe.
So manches Mitglied der Weihnachtsgilde lernt früher oder später auch die Vorzüge des Chattens kennen. So erging es auch der Weihnachtsfrau, deren Mann für Computerspiele zuständig war. Dauernd hatte sie Streit mit ihm, weil er so schrecklich faul war. Alles musste sie allein machen! Deshalb traf sie sich, sooft sie Zeit hatte, in einem privaten Chatroom mit einem Weihnachtsmann, der mit seiner Frau auch nicht mehr sehr glücklich zu sein schien. Dort konnten sie beide ungehindert Dampf ablassen.
Bald stellten sie fest, dass sie – für Weihnachtsmannverhältnisse – gar nicht so weit voneinander entfernt wohnten: höchstens eine halbe Flugstunde mit dem umweltfreundlichen, elektromotorbetriebenen Himmelsschlitten.
Zu Weihnachten wünschten sich beide eine Digitalkamera und ließen sich gegenseitig ihre Fotos als Bilddateien zukommen. Diese Bilder gefielen ihnen so gut, dass sie sich von da an täglich in ihrem privaten Chatroom trafen.
Ihr Verhältnis wurde immer herzlicher. In der Zeit zwischen Neujahr und Ostern – das heißt also während der weihnachtlichen Betriebsferien – verbrachten sie viele Stunden vor dem Computer. Und in dieser Zeit wurden auch schon vorsichtige Andeutungen gemacht.
Ihr erstes heimliches Treffen fand Ostern in einer verlassenen Weihnachtshütte im Wald statt. Ihren Ehepartnern, die froh waren, sie eine Zeit lang los zu sein, hatten sie erzählt, sie wollten einen kurzen Erholungsurlaub machen, ehe die harte Vorbereitungszeit auf das nächste Weihnachtsfest wieder begann.
Vom ersten Augenblick an waren sie überwältigt voneinander. In den wenigen Tagen, die sie gemeinsam in der Waldhütte zubrachten, reifte ihr Plan, und es dauerte gar nicht lange, bis sie ihn in die Tat umsetzten.
In einer mondlosen Sommernacht erstickte der kräftige Puppenweihnachtsmann seine dürre Frau mit einem Kopfkissen, während sie schlief. Es ging ganz einfach. Wahrscheinlich merkte sie noch nicht einmal, dass sie umgebracht wurde.
Zur selben Zeit machte sich die Frau des Weihnachtsmannes für Computerspiele mit einem Messer über ihren schnarchenden Gatten her, und auch sie war erfolgreich.
Dies war der einfachste Teil des Plans. Danach steckte der Puppenweihnachtsmann seine Frau in einen Jutesack und jagte mit seinem umweltfreundlichen Schlitten wie der Teufel über den Himmel zu seiner Geliebten, um ihr behilflich zu sein. Es war nicht ganz einfach, den stattlichen Weihnachtsmann für Computerspiele zu verpacken. Zwei Jutesäcke waren nötig, um ihn darin zu verschnüren wie einen Rollbraten.
Gemeinsam begruben sie dann ihre Ehegatten auf einer einsamen Lichtung im Wald, auf die sich höchstens mal ein paar Rehe verirrten.
Nun folgte die nächste Stufe des Plans. Die würde härter werden, das wussten sie, aber sie waren zuversichtlich. Gemeinsam würden sie es schaffen.
Jetzt galt es nämlich, Weihnachtsgeschenke zu produzieren, und zwar so, dass es nicht auffiel, dass zwei Weihnachtsleute weniger daran gearbeitet hatten.
Das war zunächst mal kein so großes Problem für den Puppenweihnachtsmann, der schon seit Jahren Puppen fertigte. Allerdings fehlte ihm die Hilfe seiner Frau, die immer die Kleidchen genäht und die Puppen hübsch angezogen hatte. Der Puppenweihnachtsmann konnte nicht nähen, aber seine Geliebte half ihm. Sie war sehr geschickt, hatte allerdings wenig Übung auf diesem Gebiet und gab sich deshalb ganz besondere Mühe. Dem Puppenweihnachtsmann kam es sogar so vor, als hätten seine Puppen noch nie so niedliche und sauber genähte Kleidchen bekommen wie dieses Jahr.
Für die Frau des Weihnachtsmannes für Computerspiele entstanden grundsätzlich keine größeren Probleme. Weil ihr Mann so faul gewesen war, hatten sie die Spiele sowieso immer anderswo bestellt und sie hatte den größten Teil der kaufmännischen Arbeit selbst gemacht, wie zum Beispiel das Katalogisieren der Bestände, den Abgleich von Angebot und Nachfrage, die Nachbestellungen und Verteilungspläne. Ihr Mann wickelte die Spiele immer nur in Geschenkpapier ein. Zu viel mehr war er nicht zu gebrauchen gewesen. Hier konnte ihr aber der Puppenweihnachtsmann helfen, und auch er gab sich besondere Mühe, damit nur ja niemand merkte, dass die Computerspiele diesmal von ungeübter Hand eingepackt worden waren.
Und so arbeiteten sie für zwei, oft bis zum Umfallen, aber sie beklagten sich nicht, denn sie waren zusammen, und nur das zählte für sie.
Danach allerdings wurde es wirklich gefährlich. Es kam nämlich die Zeit der Auslieferungen. Alle Weihnachtleute reisen jedes Jahr nach einem festen Zeitplan zur Sammelstelle, von wo aus die Waren weiter verteilt werden. Es würde sicherlich auffallen, wenn Weihnachtseheleute plötzlich allein dort erschienen. Also musste sich der Puppenweihnachtsmann als Ehemann der Computerspieleweihnachtsfrau ausgeben. Dies fiel zum Glück niemandem auf, weil Weihnachtsmänner mit ihren weißen Rauschebärten, den roten Mützen und weiten Mänteln sowieso alle gleich aussehen. Schwieriger war es, als ein paar Tage später die Frau des Computerspieleweihnachtsmanns als Frau des Puppenweihnachtsmannes auftreten musste. Weihnachtsfrauen tragen zwar auch rote Einheitskleidung, jedoch war sie viel rundlicher als ihre Vorgängerin. Weil aber am Puppenauslieferungstag immer besonders viel an der Sammelstelle los ist, gelang es ihnen, sich nach der Abgabe ihrer Ware schnell, heimlich und unerkannt wieder aus dem Staub zu machen.
Auch diesen Teil des Plans hatten sie also gemeistert. Ein weiteres Problem stand ihnen jedoch noch bevor: die jährliche Abschlussfeier am Abend des zweiten Weihnachtstages. Sollten sie dem Fest einfach fernbleiben? Oder würden sie sich jedes Mal eine neue Ausrede einfallen lassen müssen, warum sie beziehungsweise ihre Ehepartner nicht daran teilnehmen konnten?
Sie beschlossen, in diesem Jahr E-Mails an den Leitenden Regionalweihnachtsmann zu senden. Darin teilten sie ihm mit, dass sie zu ihrem Bedauern absagen müssten. Der Puppenweihnachtsmann deutete eine äußerst unangenehme Viruserkrankung an, an der er und seine Frau litten, und die Frau des Computerspieleweihnachtsmannes erwähnte eine fiebrige Erkältung, die sie und ihr Mann sich wahrscheinlich auf der Nachtfahrt zur Sammelstelle zugezogen hatten. Der Regionalweihnachtsmann drückte in seinen Antwortmails sein Bedauern darüber aus und wünschte allseits gute Besserung.
Drei Tage später stießen der Puppenweihnachtsmann und seine Geliebte gerade mit einem Gläschen Champagner auf das gute Gelingen ihres Plans an, als es an der Tür klingelte. Der Weihnachtsmann verschluckte sich vor Schreck. Sein heftiger Hustenanfall war sicherlich bis nach draußen zu hören. Es hatte daher keinen Zweck, so zu tun, als wäre niemand zu Hause.
Vor der Tür stand der Leitende Regionalweihnachtsmann. Er trug einen Korb, der blühende Weihnachtssterne und mehrere Flaschen Rotwein enthielt. Verdutzt blickte er in die Gesichter zweier Weihnachtsleute, die seines Wissens gar nicht zusammengehörten.
„Ich wollte Ihnen und Ihrer Frau – äh – Ihnen und Ihrem Mann nur meine herzlichsten Glückwünsche aussprechen“, stotterte er.
„Bitte treten Sie doch ein!“, sagte der Puppenweihnachtsmann, weil ihm im Augenblick nichts Besseres einfiel.
„Ich wollte Ihnen nämlich gratulieren“, wiederholte der Leitende Regionalweihnachtsmann immer noch völlig verwirrt. „Sie sind auf unserer großen Abschlussfeier zu Weihnachtsehepaaren des Jahres gewählt worden.“ Suchend blickte er sich um. „Wo sind denn Ihre Ehepartner?“
„Sie – sie sind – nicht da ...“, stammelte der Puppenweihnachtsmann.
Der Leitende Regionalweihnachtsmann spürte sofort und sehr deutlich, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Während er noch darüber nachdachte, sprach er schon weiter. „Alle waren der Meinung, dass Sie diese Auszeichnung verdient haben. Wegen der Verpackung, ich meine, weil die Computerspiele so schön eingepackt waren. Und weil die Puppen so hübsche Kleidchen anhatten.“
Der Puppenweihnachtsmann und seine Geliebte schwiegen. Der Leitende Regionalweihnachtsmann konnte keine Spur von Freude oder Stolz in ihren Gesichtern entdecken. Dies war der Augenblick, in dem er wirklich misstrauisch wurde. Aber was hätten sie auch sagen sollen? Schließlich blieb den beiden nichts anderes übrig, als von den Jutesäcken und der einsamen Waldlichtung zu berichten.
Der Leitende Regionalweihnachtsmann nahm diese unerhörte Mitteilung fassungslos entgegen. Ganz aufgelöst rief er daraufhin den Landesweihnachtsmann an. Dieser wandte sich hilfesuchend an den Kontinentalweihnachtsmann, der seinerseits den Weltweihnachtsmann benachrichtigte. Keiner wusste, wie zu verfahren war, denn einen solchen Fall sahen die Bestimmungen der Weihnachtsgilde gar nicht vor. Auch gab es in der Weihnachtswelt keine Gefängnisse, und eine Entlassung der beiden Straftäter war im Hinblick auf die Wahrung des Weihnachtsgeheimnisses ebenfalls undenkbar. Der Vorschlag eines Ortsweihnachtsmannes, der die Todesstrafe forderte, wurde auf Grund seiner krassen Unweihnachtlichkeit einstimmig abgelehnt.
Schließlich blieb den vorgesetzten Weihnachtsmännern nichts anderes übrig, als die beiden Sünder zu lebenslanger weihnachtlicher Fron zu verurteilen. In weit voneinander entfernt liegenden Backstuben müssen sie nun jahrein jahraus den ganzen Tag und die halbe Nacht Weihnachtsplätzchen backen und andere weihnachtliche Leckereien herstellen, sogar während alle anderen Weihnachtsleute Urlaub machen.
Und so liegt es einzig und allein an diesem mörderischen Puppenweihnachtsmannes und seiner ebenso mörderischen Geliebten, dass bereits Ende August die ersten Weihnachtswaren in den Geschäften angeboten werden müssen, denn in der kurzen Advents- und Weihnachtszeit könnten die Berge an Leckereien, die die beiden Missetäter das ganze Jahr über in ihren Backstuben herstellen, gar nicht verkauft und verzehrt werden.

aus: Eva Markert, Alle Jahre wieder: Zwölf mehr oder weniger weihnachtliche Geschichten


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Kurzvita:
Eva Markert lebt in Deutschland und in den Niederlanden. Vor ihrer Pensionierung war sie Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch und sie besitzt ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache. Außerdem ist sie staatlich geprüfte Übersetzerin. In ihrer Freizeit arbeitete sie viele Jahre als Lektorin und Korrektorin in einem kleinen Verlag mit.

Eva Markert übersetzt Bücher aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen ins Deutsche und schreibt selbst Kinder- und Jugendbücher, Romane sowie Kurzgeschichten. Die meisten Texte veröffentlichte sie als Indie-Autorin. Viele ihrer Kurzgeschichten sind aber auch in Anthologien enthalten. Zwei Weihnachtsbücher für Kinder erschienen in einem kleinen Verlag.