Donnerstag, 31. Dezember 2015

Neujahr im Hotel von Marion Pletzer

Bild von Eva Joachimsen



Das Foyer des Luisas Place war in Licht gebadet. Mehrere Lüster strahlten von der Decke. Auf den Tischen der Sitzgruppe leuchteten kleine Lampen. In einer Ecke, in der Nähe des Fensters, stand noch immer der üppig mit Lichterketten, Lametta und Kugeln behängte Tannenbaum, obwohl Weihnachten seit einer Woche vorbei war. Alles wirkte überladen und irgendwie protzig auf Desiree. Außerdem fand sie, dass Weihnachtsdekoration nach den Feiertagen weggeräumt werden sollte. Besonders in einem Hotel.
Silvestergirlanden, bunte Knallbonbons und Konfetti passten viel besser zu diesem Tag. Wenn auch nicht zu ihrem.
Normalerweise verbrachte sie Silvester mit Olaf. Mal luden sie Freunde zu sich ein oder wurden eingeladen, Mal gingen sie in Anzug und Glitzerkleid auf eine grelle Silvesterparty. In diesem Jahr war alles anders.
Olaf war enttäuscht gewesen, dass er diesen Jahreswechsel ohne sie verbringen sollte. Den ersten, seit sie vor fünf Jahren zusammengekommen waren. Als sie ihm den Grund erklärte, hatte er ihre Oberarme ergriffen und sie angeschaut.
„Das bringt doch nichts.“
 „Ich muss es wenigstens versuchen.“
Olaf hatte sie losgelassen und sich kopfschüttelnd weggedreht. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Dies war der Xte-Versuch und sie hoffte, es würde auch der letzte sein.
Jemand stieß Desiree an und entschuldigte sich sofort. Dann hastete er weiter zum Aufzug. Kofferrollen rappelten auf dem Boden, Kinder lärmten, Gelächter und Stimmengewirr.
Wie auf dem Bahnhof, dachte sie und fand es unfassbar, wie viele Menschen Weihnachten und Silvester in Hotels verbrachten. Die Rezeptionistin lächelte das immer gleiche, einstudierte Lächeln „Schönen Aufenthalt, gutes neues Jahr, Wenn Sie etwas wünschen.“
Bloß weg hier.
Desiree fuhr hinauf in den dritten Stock und öffnete das Zimmer 326.
In der Tür blieb sie stehen. Ob sie etwas spüren würde?
Ach, spinn nicht rum, murmelte sie. Dennoch trat sie vorsichtig ein. Fast ein wenig enttäuscht, stellte sie fest, dass sie gar nichts spürte. Nicht einmal Melancholie.
Sie warf ihre Reisetasche auf eine Seite des Doppelbettes. Das Zimmer war nicht besonders groß. Rechts neben dem Fenster standen ein kleiner Tisch und ein Sessel. Daneben ein Sideboard mit Fernseher. Im Eingangsbereich, gegenüber der Badezimmertür bot ein schmaler Schrank nur wenig Platz für üppige Garderobe.  
Selbst das hier war teurer als sie es sich eigentlich leisten konnte. Desiree zog die Gardine zur Seite. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Mist, in diesen klimatisierten Räumen bekam sie Kopfschmerzen.
Sie nahm den Kulturbeutel aus der  Reisetasche und stellte ihn in das winzige, perfekt saubere Bad. Den Schlafanzug legte sie aufs Bett. Dann holte sie noch jeweils eine Flasche Wasser und Pinot Grigio heraus. Getränke waren in einem Hotel viel zu teuer. Besonders in so einem Luxusding. Die restliche Kleidung auszupacken lohnte sich nicht. Sie blieb ja nur eine Nacht.
Es war halb neun Uhr.
Desiree wählte die Nummer des Zimmerservice und bestellte sich Pasta mit Lachs und Spinat und eine  Creme Brulee. Dann griff sie nochmal in die Reisetasche und holte das gerahmte Foto einer jungen Frau heraus. Sie schaute es einen Moment lang mit wehmütigem Blick an, bevor sie es auf den Tisch stellte.
„So, Lissy“, sagte sie mit fester Stimme, obwohl der Kloß in ihrem Hals immer größer wurde.   „Es ist an der Zeit, dich loszulassen.“

Eine halbe Stunde später, Desiree hatte sich gerade bequeme Kleidung angezogen, brachte der Zimmerkellner das Essen auf einem Servierwagen. Die Nudeln unter einer silbernen Haube. Sie gab ihm ein kleines Trinkgeld.
Den Teller in der Hand setzte sie sich mit angezogenen Beinen auf den kleinen Sessel. Ihr Blick fiel auf den dunklen Fernsehbildschirm. Wie einfach es doch wäre, mit Dinner for One, Ekel Alfred und irgendeiner Komödie der Auseinandersetzung mit sich selbst auszuweichen.
„Jetzt reiß dich mal zusammen“, sagte sie laut.
Trotz der gedrückten Stimmung, die ihr Inneres vollständig ausfüllte, schmeckten ihr die Nudeln köstlich. Die Creme Brulee hob sie sich für später auf. Desiree schüttete sich ein Glas Wein ein und nippte daran. Pinot Grigio, das war ihrer beider Lieblingswein gewesen. Wie oft hatten sie in Ninos Trattoria gesessen, Pasta gegessen und eben diesen Wein getrunken.
Sie prostete dem Foto zu.
„Lissy, du fehlst mir immer noch so.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie ließ sie laufen und schluchzte leise vor sich hin. Lissy und sie hatten sich zehn Jahre zuvor kennengelernt. Sie die eher ernsthafte Angestellte einer Krankenkasse und Lissy, die immer unternehmungslustige Anwältin.
Sie hatte Lissy immer bewundert, weil sie so mutig war und alles ausprobierte. Ob es ein Tandemsprung mit dem Fallschirm, Tauchen oder eine Fahrt auf einem Motorschlitten war. Lissy entdeckte ständig etwas Neues und Spannendes. So wie einen schwarzen Porsche, mit dem sie nur so aus Spaß über die Autobahnen raste.
Desiree nahm einen weiteren Schluck Wein und ließ ihn einen Moment im Mund hin und her gleiten, bevor sie ihn herunterschluckte.
Sie hatten so viel Spaß gehabt. Auch wenn Desiree nicht die Hälfte von Lissys Eskapaden mitgemacht hatte.
„Das Leben ist so kurz“, hatte Lissy immer lachend gesagt. Und wie recht sie damit hatte.
„Aber ein wenig bist du selbst schuld daran “, sagte Desiree zu dem Foto. Sie schluckte schwer. „Wieso musstest du aber auch alles ausprobieren?“
Desiree sprang auf und ging zum Fenster. Die ersten Böller knallten durch die Nacht. Dass manche Leute nie bis Mitternacht warten konnten.
„Guten Abend, Resi.“
Desiree erstarrte. Es gab nur einen Menschen, der sie je so genannt hatte. Und dieser Mensch war seit drei Jahren tot.
Sie drehte sich langsam um.
Lissy lag seitlich auf dem Bett, auf den linken Unterarm gestützt und die Beine angewinkelt. Ihr blondes Haar kringelte sich auf ihren Schultern. Sie trug ihren geliebten rosafarbenen Kaschmirpullover und die Röhrenjeans. Sie lächelte. So wie immer.
 „Lissy! Wieso? Woher?“, stotterte Desiree.
„Ich habe gehofft, dass du irgendwann kommst“, sagte Lissy.
Desiree drehte sich wieder zum Fenster.
„Ich halluziniere“, flüsterte sie und kniff sich in den Arm. „Der Wein.“ Mit zitternden Fingern nestelte sie an der Hosentasche, um das Handy herauszuholen. 
„Tut mir leid, Resi. Ich wollte dich nicht erschrecken.“
Desiree zuckte zusammen und stieß einen kleinen Schrei aus, als Lissy plötzlich neben ihr stand. Das Handy fiel ihr aus der Hand. Lissy legte einen Arm um ihre Schulter. Der vertraute Duft ihres Parfüms stieg ihr in die Nase. 
„Es ist alles in Ordnung“, sagte Lissy.
Desiree drehte sich vorsichtig zur Seite und blickte geradewegs in Lissys grüne Augen.
Sie schlang die Arme um ihren Hals und drückte sie so fest sie konnte.
„Mein Gott, Lissy. Du lebst. Du lebst.“
„Nein. Ich bin tot.“
Desiree ließ sie ruckartig los.
„Aber..., ich kann dich doch... anfassen.“
Lissy zuckte mit den Schultern.
„Was bist du dann? Ein Geist?“ Desiree fühlte ihren Herzschlag bis in den Kopf. Das Atmen fiel ihr schwer.
„Keine Ahnung. Ich rassel jedenfalls nicht mit Ketten.“ Sie lachte.
„Was machst du hier?“
„Es gibt etwas Ungesagtes zwischen uns. Deswegen habe ich hier auf dich gewartet.“
„Ach, Lissy. Es war alles gesagt. Dass es Grenzen gibt. Aber nein, du musstest dieses Zeug ja unbedingt nehmen. Erinnere dich, wie oft ich dich davor gewarnt habe. Und dass du mit etwas spielst, was du nicht überblickst.“
 Lissy lächelte müde.
„Du hast es falsch verstanden. Es war kein Unfall. Das wollte ich dir sagen.“
Desiree starrte sie an. Die Frage „Was meinst du damit“, lag ihr auf der Zunge. Sie wollte sie nicht stellen, weil sie die Antwort nicht hören wollte.
„Hast du gehört? Resi, ich...“
„Nein, nein! Ich will das nicht wissen.“ Sie hielt sich die Hände auf die Ohren.
„Resi, bitte. Ich habe mich umgebracht. Und ich will, dass du die Wahrheit weißt.“
„Verdammt! Ich bin heute hier, weil ich abschließen will mit deinem Tod. Hier in dem Zimmer, in dem du gestorben bist in der Silvesternacht vor drei Jahren.“
„Ja eben. Wenn schon, sollst du mit der Wahrheit abschließen. Ich war nicht die tolle, erfolgreiche Frau, für die du mich gehalten hast. Alles äußerlich. Menschen wie ich, die ständig ihre Grenzen ausreizen,  enden nicht normal.“
Desiree blickte sie ungläubig an. Was erzählte sie da? Sie hatte ihre Freundin doch in und auswendig gekannt.
„Unsinn! Du hattest doch alles. Die schicke Wohnung ...“
„Mit den Raten im Rückstand.“
 „...tolle Männer.“
„Ach, alles nur Sex, keine Liebe.“
„...der Job.“
„Ich bekam nur noch die einfachen Fälle, weil ich einige verbockt hatte. Am Ende stand ich kurz vor der Kündigung.“
Desiree zog die Augenbrauen hoch.
„Aber du hast doch immer gesagt...“
Lissy winkte ab.
„Klar, den Schein wahren. Darum ging es. Ich hatte schon einiges durch. Aufputschmittel, um das Studium zu schaffen. Später auch Koks und Ekstasy. Da ist man nicht mehr so bei der Sache.“
Lissy hatte sich wieder auf das Bett gesetzt. Desiree wanderte im Zimmer auf und ab
und kaute auf ihrer Unterlippe. Wut stieg in ihr auf, die sie gar nicht fühlen wollte, geschweige aussprechen. Doch wie von selbst kamen die Worte aus ihrem Mund.
„Weißt du, was mich richtig wütend macht? Was mich am meisten verletzt? Dass du mir ...“ Während sie weitersprach, tippte sie mit dem Zeigefinger auf ihre Brust, „...mir die ganze Zeit etwas vorgespielt hast. Als wäre ich einer deiner Junkiekumpane, auf die du dich nicht verlassen kann. “
Lissy nickte.
„Ich verstehe dich. Aber ich wollte sogar vor mir selbst dieses Bild der vom Glück verwöhnten Frau aufrecht erhalten.“
 „Und warum hast du es dann nicht dabei belassen?“
„Wenn man tot ist, sieht man manches anders.“
Desiree stieß einen abschätzigen Ton aus.
„Du willst also, dass ich dich als drogenabhängige Versagerin in Erinnerung behalte, oder wie?
„Ja, weil es die Wahrheit ist. Und da du meine beste Freundin warst, hoffe ich darauf, dass du mir verzeihst und mich trotzdem in lieber Erinnerung behältst. Vielleicht gerade wegen meiner Schwächen.“
Wortlos ging Desiree ins Badezimmer und holte einen Zahnputzbecher. Den füllte sie bis zum Rand mit Wein und reichte ihn Lissy. Mit ihrem Glas und der Flasche setzte sie sich zu ihr aufs Bett.
„Prost, Lissy“, sagte sie. Draußen stiegen zischend die ersten Raketen in die Luft, Böller und Knaller hallten durch die Straße. Desiree ging zum Fenster und schaute hinaus.
"Ein schönes neues Jahr", sagte sie leise
„Ich muss jetzt gehen, Resi. So wie vor drei Jahren.“
Desiree drehte sich um. Das Zimmer war leer.
„Wirklich verziehen habe ich dir nicht. Aber das werde ich noch.“ Sie leerte ihr Glas in einem Zug.

 ©Marion Pletzer

Marion Pletzer, Autorin von Kurzgeschichten und Romanen.






Donnerstag, 24. Dezember 2015

Folgt dem Stern von Renate Hupfeld



Foto von Renate Hupfeld

Vor mehr als zweitausend Jahren herrschte Kaiser Augustus in Palästina. Eines Tages befahl er, dass sein Volk gezählt würde. Alle Einwohner des Landes mussten in die Stadt kommen, in der sie geboren waren.
Auch ein Mann namens Josef folgte diesem Befehl des Kaisers. Zusammen mit seiner Frau Maria, die hochschwanger war, wanderte er den langen Weg von Nazareth nach Bethlehem.
Als die beiden dort angekommen waren, kündigte sich die Geburt an. Sie suchten eine Herberge. Nichts zu machen. In Bethlehem gab es kein freies Zimmer. Endlich fanden sie Schutz in einem Stall bei den Tieren.
In dieser Nacht brachte Maria einen prächtigen Jungen zur Welt. Vater und Mutter wickelten das Kind in Windeln, legten es in eine Futterkrippe und deckten es warm zu.
Genau zu der Zeit waren Hirten bei ihren Tieren auf dem Feld, als plötzlich ein ganz helles Licht am Himmel aufleuchtete. Die Männer bekamen große Angst und hätten sich am liebsten versteckt. Doch wo? Da war keine Hütte, nicht einmal ein Strauch, nichts, nur Feld.
„Fürchtet euch nicht“, sagte eine Stimme.
Sie schauten hoch. Am Nachthimmel schwebte plötzlich eine seltsame Erscheinung.
„Ich verkündige euch eine große Freude. Ganz in der Nähe wurde heute Nacht ein Kind geboren, ein besonderes Kind. Es wird euch befreien von allem Übel und Frieden bringen.“
Dann war alles wie vorher.
„Was war das?“, fragte einer.
„Ein Engel war das. Irgendwas Außergewöhnliches muss passiert sein. Schaut dort der Stern“, sagte Johannes, der Älteste der Hirtengruppe.
„Vorhin war der noch nicht da.“
„Stimmt. Über Bethlehem steht er.“
„Lass uns hingehen und schauen, was es mit dem Versprechen des Engels auf sich hat.“
„Was könnten wir besser gebrauchen als Freude und Frieden?“
„Kommt Leute, wir wandern zu dem Stern“, sagte Johannes.
Da machten sich die fünf Hirten auf den Weg. Johannes ging voran. Der Stern stand über einem Stall auf einer Wiese. Vorsichtig öffneten sie die schwere Holztür und tatsächlich. Dort lag das kräftige Neugeborene in einer Krippe, rechts und links die glücklichen Eltern. Ein Bild der Freude und des Friedens. Hatte der Engel doch Recht gehabt.
„Wir kommen, um eurem Kinde unsere guten Wünsche zu bringen. Es steht unter einem ganz besonderen Stern. Dürfen wir es anschauen?“ fragte Johannes.
Die Eltern nickten und die Männer gingen zur Krippe. Sie konnten gar nicht aufhören den Kleinen anzusehen.
„Wirklich, ein ganz besonderes Kind. Es ist, als ginge ein Leuchten von seinem Gesicht aus.“
 Voller Stolz schaute der Vater auf seinen Sohn und die Mutter lächelte glücklich.
„Er wird uns allen große Freude und Frieden bringen, so wurde uns versprochen.“
Nachdem die Hirten das Kind lange genug betrachtet hatten, legte jeder von dem wenigen, das er besaß, ein kleines Geschenk neben die Krippe, ein Halstuch, ein Stückchen Brot, eine Mütze, einen kleinen Krug mit Wein und Johannes legte seinen Hirtenstab dazu. Dann gingen sie hinaus in die Nacht.

© Renate Hupfeld




Renate Hupfeld wohnt in Hamm in Westfalen. Sie schreibt historische Erzählungen, Kurzgeschichten, Reiseberichte, Essays und Lyrik und veröffentlicht ihre Publikationen in Form von eBooks und Taschenbüchern.



Mittwoch, 23. Dezember 2015

Ein unerfahrener Weihnachtsmann von Eva Joachimsen






Foto von Eva Joachimsen


Es klingelte. Dani stürzte zur Tür. Vor lauter Eifer stolperte er und schlug mit dem Kopf gegen den Schrank. Weinend blieb er liegen. Miriam erreichte ihn als erste und hob ihn hoch. Um ihn zu trösten, pustete sie kräftig auf seine Stirn. Als es erneut an der Tür klingelte, vergaß er die Schmerzen, sprang von ihrem Schoß und hüpfte zur Tür.
„Der Weihnachtsmann, der Weihnachtsmann“, sang er.
Doch nachdem er die Tür aufgerissen hatte und direkt vor dem großen Mann im roten Umhang und dem langen, weißen Bart stand, verkroch er sich lieber hinter dem Rücken seiner großen Halbschwester.
„Kommen Sie bitte herein“, forderte Miriam ihn auf.
Ihre Mutter stand in der Wohnzimmertür und nickte dem jungen Mann, den sie angeheuert hatte, aufmunternd zu.
„Guten Abend, hier soll Daniel wohnen“, dröhnte der Mann im tiefsten Bass, nur beim Wort wohnen verrutschte die Stimme etwas.
Miriam unterdrückte ein Lachen. Sie gluckste etwas. Und als sie dem Weihnachtsmann in die Augen sah, war es um ihre und seine Beherrschung geschehen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und stürzte ins Badezimmer.
Dani stand jetzt ohne Deckung da und verzog sein Gesicht, während der Weihnachtsmann um Fassung rang und nicht sprechen konnte. Er hob seinen Sack vom Rücken und nestelte daran herum.
Mutter schlängelte sich am Weihnachtsmann vorbei zu Dani und nahm ihn an die Hand, bevor er zu weinen anfing.
„Gehen Sie schon einmal voraus“, bat sie den Weihnachtsmann.
Dani folgte nur zögernd mit etwas größerem Abstand ins Wohnzimmer. Der Weihnachtsmann nickte Vater zu und stellte sich dann vor dem großen, mit roten Schleifen, roten Glaskugeln und roten Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum.
Miriam hatte sich inzwischen erholt und erschien in der Wohnzimmertür. Vorsichtshalber blieb sie dort stehen und versuchte, den Blickkontakt zu vermeiden.
„Kennst du denn ein Gedicht?“, fragte der Weihnachtsmann.
Statt einer Antwort schob Dani den Daumen in den Mund. Mutter zog ihn heraus. „Du konntest es doch so gut.“
„Lieber guter Weihnachtsmann“, flüsterte Miriam.
Dani drehte sich um und schaute sie an.
„Du sollst es aufsagen“, forderte Miriam ihn auf.
Aber statt das Gedicht aufzusagen, flüchtete Dani in ihre Arme. Sie stand schließlich viel weiter vom Weihnachtsmann entfernt als seine Mutter.
Miriam legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte mit ihm gemeinsam das Gedicht auf. Dabei schwankte ihre Stimme gefährlich und Dani sprach so leise, dass er kaum zu hören war.
Der Weihnachtsmann verkroch sich immer tiefer in seinen Umhang, auf seiner Nase glänzte Schweiß.
„Warst du auch immer artig?“, fragte er den Kleinen.
Dani nickte eifrig.
„Dann habe ich etwas für dich.“ Der Weihnachtsmann tauchte tief in seinen Sack hinein und zog ein Päckchen für Dani heraus.
Doch Dani rührte sich nicht von der Stelle. Hilflos stand der Weihnachtsmann mit dem Päckchen da und schaute sich suchend um.
Mutter und Stiefvater rührten sich nicht. Auf Mutters Stirn hatte sich wieder einmal diese tiefe Falte gebildet. Armer Dani. Miriam schaute unschlüssig von einem zum anderen. Schließlich erbarmte sie sich und nahm dem Weihnachtsmann das Geschenk ab.
„Wollen wir es gemeinsam auspacken?“, fragte sie Dani. Aber erst als sie das Geschenkband entfernt und den Klebestreifen an den Seiten gelöst hatte, riss Dani ihr das Päckchen aus der Hand und zerfetzte das Papier. Eine Packung Bausteine kam zum Vorschein.
Danach bekam Dani noch zwei weitere Päckchen, die der Weihnachtsmann sicherheitshalber auf den Couchtisch legte. Und auch Miriam erhielt zwei Geschenke, ebenso ihre Eltern.
Inzwischen fing der Bart an zu rutschen und die Nase glänzte immer stärker.
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte Miriam. „Sie haben so einen weiten Weg vor sich.“
„Es geht“, sagte er und erntet einen strafenden Blick von Mutter.
„Bei den meisten Kindern war ich schon“, verbesserte er sich schnell.
„Und die Kinder in Afrika?“, fragte Dani.
„Da ist eine andere Uhrzeit, da war ich schon“, erfand der Weihnachtsmann. „Hier in Neustadt bin ich immer erst zum Schluss.“
Miriam wartete seine Antwort nicht ab, sondern holte eine Flasche Bier aus der Küche und schenkte ihm ein Glas ein.
„Wenn Sie fast Feierabend haben, dürfen Sie sicher ein Bier trinken.“
Ihre Mutter sah sie strafend an. Aber Miriam kümmerte sich nicht darum. Sie fand den Weihnachtsmann einfach süß. „Alkohol im Renntiergespann ist doch sicher erlaubt.“ Ihre Augen funkelten mutwillig.
„Die Tiere finden den Heimweg alleine und so viel Verkehr gibt es bei uns in Lappland nicht.“
„Gibt es bei euch Autos?“, fragte Dani und schaute von seinem Bauwerk hoch.
„Nein, nur ein paar Renntier- und Eselgespanne, die die Wichtel lenken“, erfand der Weihnachtsmann. Er nahm das Glas dankend aus Miriams Hand und versuchte zu trinken. Dabei tauchte der Bart in das Glas und löste sich noch mehr ab.
„Sie sollten es lieber lassen“, sagte Mutter scharf und reichte ihm die Hand. „Frohe Weihnachten und eine gute Heimreise“, wünschte sie.
Der Weihnachtsmann verabschiedete sich.
„Ich begleite Sie hinaus“, bot Miriam an. Sie schnappte sich den Wohnungsschlüssel, was den anderen gar nicht auffiel, da sie mit Dani und seinem Bauwerk beschäftigt waren und zog die Wohnungstür hinter sich zu.
„Kann ich dich wiedersehen? Wie heißt du?“, fragte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Florian. Hast du am 27. Zeit? Dann könnten wir in die Disko gehen.“ Er zog seinen Bart herunter und beugte sich über sie.
Sie bemerkten nicht, wie die Tür aufging.
„Miriam, kommt du? Aber Miriam!“, hörte sie die schrille Stimme ihrer Mutter.



© Eva Joachimsen
Eva Joachimsen liebt lesen, schreiben und tanzen. Seit vielen Jahren veröffentlicht sie Kurzgeschichten in Zeitschriften. Mehr von ihr erfährt man auf ihrem Blog. Ein Überblick über ihre Bücher gibt es hier.