Samstag, 14. Dezember 2019

Ein ungewöhnlicher Besuch am Heiligabend von Birgit Maria Hoepfner


 
Bild Pixaby von S. Hermann & F. Richter
Corinna stöhnte, als sie die Kiste mit dem Christbaumständer aus dem Keller schleppte. Das war der letzte Karton mit den Weihnachtsdekorationen. Eigentlich hätte Hendrik das erledigen sollen, aber wie immer hatte er Wichtigeres zu tun gehabt. Alles blieb wie jedes Jahr an ihr hängen! Früh am Morgen war Hendrik mit den beiden Kindern losgefahren, um die Großeltern abzuholen. Mit der Bahn zu kommen, wäre ihren Schwiegereltern nicht im Traum eingefallen! Unterwegs wollte man dann noch gemeinsam den Baum besorgen. Alles immer auf die letzte Minute. Aber ihr Schwiegervater bestand darauf, den Baum auszusuchen, bezahlen durfte ihn dann Hendrik. Gegen ihren Schwiegervater war sie machtlos. Ihr war es aber auch egal – sie wollte sowieso keinen Baum, ließ das alles nur um des lieben Friedens willen über sich ergehen. Gerne wäre sie über Weihnachten mit ihrer Familie mal verreist. Nur sie, ihr Mann und die Kinder. An die See! Einfach mal weg von dem alljährlichen Einerlei, ohne Gänsebraten (ihr graute schon bei der Vorstellung des nackten toten Vogels in ihrem Kühlschrank!), ohne künstlich dekorierten Baum und ohne Völlerei am Abend und die nachfolgenden Feststage, ohne die inhaltslosen Gespräche, die jegliche Gedanken an den ursprünglichen Sinn von Weihnachten entbehrten.
Im Geiste ging sie noch einmal ihre To-Do-Liste durch: Braten füllen, würzen und rechtzeitig in den Ofen, dann Kartoffelklöße und Rotkohl zubereiten, das Tiramisu zum Nachtisch hatte sie am Vorabend gemacht. Zuvor noch mal den Staubsauger schwingen. Die Betten der Gästezimmer beziehen. Dann den Tisch decken. Schließlich war es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle ein unvergessliches Weihnachtsfest erlebten. Same procedure as every year! Corinna macht das schon! Sie, die stets freundliche, gut gelaunte Gastgeberin, perfekte Ehefrau und Mutter. Wie sie das alles anödete.
Den ganzen Vormittag wirbelte sie durch das Haus am Stadtrand von Bonn, das Hendrik für sie beide ausgesucht hatte. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als Hendrik meinte, sie bräuchten etwas Größeres, zumal sie doch nun Nachwuchs erwarteten. Sie hatte zugestimmt, obwohl sie ihr altes Häuschen, das sie von ihren Großeltern geerbt hatte, liebte und es auch Platz für eine kleine Familie gegeben hätte. Aber es wurde verkauft und ein neues, größeres, das mehr hermachte, wurde angeschafft. Nun saßen sie auf einem Berg Schulden, was gar nicht nötig gewesen wäre! Vielleicht hatte sie in letzter Zeit zu selten Einspruch erhoben, hatte zu oft zu allem Ja und Amen gesagt. Einfach weil sie mürbe war. Ja, hol doch am Heiligabend Oma und Opa aus dem 200 km entfernten Offenbach ab. Klar kann Daniel auch wieder kommen. Gehört doch zur Familie. Dabei interessierte es niemanden, ob Hendriks ältere Bruder sich hier wie jedes Jahr einnistete, aus zwei Tagen eine Woche wurde, nur damit er Silvester nicht allein verbringen musste. Geschenke brachte er keine mit, noch nicht mal für die Kinder, stattdessen lud er die zum Kino ein. Mit seiner herablassenden Art verbreitete er überall nur üble Stimmung, selbst die Kinder hatten keine Lust auf ihren Onkel, der mit seinen Zigarren das Haus verpestete – schließlich hole er sich draußen ja eine Lungenentzündung!, wie er meinte – und auch die Nachbarn, die früher immer zwischen den Jahren vorbeikamen, hielten sich zurück, seitdem Daniel sich hier breitmachte. Und Hendrik, dem sein Bruder auch auf die Nerven ging, schwieg. Er setzte sich ungern mit Familienmitgliedern oder Freunden auseinander. Bei dem Gedanken an ihren Schwager stieg ihr Schlechte-Laune-Pegel merklich an. Deshalb schüttelte Corinna den Kopf, als müsste sie ein lästiges Insekt vertreiben und versuchte, an etwas anderes zu denken. Auch diese Tage würden vorbeigehen!
Ihr Blick fiel durch das Fenster nach draußen – und sie stutzte. Es schneite. Das konnte doch nicht wahr sein! Dicke Flocken fielen so dicht vom Himmel, dass man kaum hindurchsehen konnte. In der Früh hatte der Wetterbericht im Radio noch versichert, es gebe keine „weiße Weihnacht. Seit Tagen waren die Temperaturen über zehn Grad. Wie konnte es jetzt schneien?! Schnell zog sie eine Strickjacke über, öffnete die Tür und trat nach draußen. Wie würden sich die Kinder über Schnee freuen! Sie stapfte durch Garten, der inzwischen schon unter frischem Pulverschnee versankt. Seltsamerweise war es überhaupt nicht kalt. Etwas Ungewöhnliches passierte hier, das spürte sie. Als sie ihren Blick zum Haus zurückwandte, erkannte sie, dass es ganz anders aussah als das, welches sie mit ihrer Familie bewohnte. Corinna schüttelte den Kopf, um sich von dieser Sinnestäuschung zu befreien. Das ist doch verrückt! Entgeistert blickte sie sich um. Nicht nur, dass ihr Haus und Garten verschwunden waren: dieses Haus, auf das ihr Blick nun fiel, war ihr sehr vertraut. Es war das Haus ihrer Großeltern! Aus dem sie vor Jahren ausgezogen waren und das verkauft worden war. Der neue Besitzer hatte es abreißen lassen und einen ultramodernen Neubau auf das Grundstück gesetzt. Das hatte ihr damals das Herz gebrochen!
Wie war das alles möglich!
Plötzlich erblickte sie nicht weit entfernt ein Kind, das auf einer Schaukel ausgelassen hin- und herschwang. Das wird ja immer seltsamer! Zumal sie keine Schaukel im Garten hatten. Beim Näherkommen erkannte sie ein etwa fünfjähriges Mädchen. Als das Kind sie erblickte, winkte es aufgeregt in ihre Richtung. Überrascht wandte Corinna den Kopf, um zu sehen, ob das Kind jemand anders meinte. Doch außer ihr war niemand da. Unwillkürlich rieb Corinna sich die Augen in der Hoffnung, aus diesem Traum, oder was auch immer es war, zu erwachen. Doch auch als ihr Blick sich klärte, stand sie immer noch in dem Garten ihrer längst verstorbenen Großeltern, mit den Füßen in ihren Puschen, die im Schnee versunken waren - nur dass sie keine kalten Füße hatte. Und noch etwas fiel Corinna auf: Nichts von all dem machte ihr Angst. Im Gegenteil, es fühlte sich ganz natürlich an, so als ob sie hierhergehörte.
Das kleine Mädchen juxte vor Freude, sprang mit einem Satz von der Schaukel und rannte mit ausgebreiteten Armen lachend auf sie zu. Mit ihren kleinen Ärmchen umfasste es Corinnas Beine und schmiegte ihr Gesichtchen an sie. Corinna war unfähig, sich zu bewegen. Als das Kind zu ihr hochschaute, blickte Corinna in die schönsten Augen, die sie jemals gesehen hatte: große, strahlende Augen von einem intensiven Blaugrün. Es trug einen etwas abgenutzten grauen Mantel, eine dunkelblaue Strumpfhose und weiße Stiefelchen. Auf seinem Kopf saß eine cremefarbene Bommelmütze, unter der schulterlanges, lockiges dunkles Haar wild hervorsprang. Das Mädchen schenkte ihr ein bezauberndes Lächeln, bei dem zwei kleine Grübchen auf ihren Wangen erschienen. Corinna fühlte sich von dem Blick des Kindes magisch angezogen. Plötzlich nahm die Kleine Corinnas Hand und zog sie mit sich. „Komm mit, ich zeig dir was“, rief es. Corinna war wie hypnotisiert und folgte dem Kind scheinbar willenlos zu einer kleinen Hütte, die sich im hinteren Teil des Gartens befand und sich beim näheren Betrachten als eine Art Hühnerstall entpuppte.
„Komm nur, das wird eine Freude.“ Als sie mit dem Kind den Stall betrat, brauchte Corinna einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Es roch ein wenig modrig, nach morschem Holz. Stroh raschelte unter ihren Füßen, ungewöhnliche Geräusche erreichten ihre Ohren. Das unbekannte kleine Mädchen ließ nun ihre Hand los und rief: „Warte, ich mache Licht“. Darauf öffnete es ein kleines Fenster, sodass Sonnenstrahlen in die Hütte fielen. Auf dem Boden erkannte Corinna lauter Tiere – lebendige Tiere: ein Hase, drei Meerschweinchen, zwei Hühner, eine Gans, einen Hundewelpen und drei Kätzchen spielten miteinander im Stroh; unter dem Dach der Hütte flogen einige Wellensittiche umher. Woher mochten diese Tiere bloß kommen?
Das Kind bedeutete Corinna, sich hinzusetzen. Während Corinna sich im Stroh niederließ, musste sie achtgeben, sich nicht auf eines der Tiere zu setzen, so eng war es im Stall. „Wer bist du“, fragte Corinna, als sie endlich ihre Stimme wiederfand.
„Ich bin Marie“, antwortete das Mädchen lachend und ihre Augen schienen kleine blitzende Sterne zu versprühen.
„Mein Name ist Corinna, aber Marie kommt mir auch irgendwie bekannt vor. Das ist ja seltsam ...“, erklärte Corinna kopfschüttelnd.
„Das ist doch nicht seltsam ...“, prustete das Kind und hielt sich den Bauch vor Lachen. „Ich heiße auch Corinna, doch der Name gefiel mir nicht, deshalb habe ich mir diesen geheimen Namen Marie ausgesucht!“, plapperte sie fröhlich weiter.
Corinna war sprachlos. Was hatte das alles zu bedeuten? „Wie... wieso ... heißt du ... wie ich“, stotterte Corinna vor sich hin.
„Menno, das ist doch ganz normal. Du bist ich – ich bin du, wir sind doch eins“.
„Waaas?!“
Wieder lachte das Mädchen, das sich Marie nannte, gluckste dabei vor Freude und stemmte ihre kleinen Fäustchen in die Seiten.
„Erinnerst du dich denn nicht an unser kleines Reich hier, wo wir unsere Träume gewebt haben? Weißt du das nicht mehr? Wir wünschten uns, einmal mit vielen Tieren zu leben, irgendwo am Meer. Tiertherapeutin wollten wir werden, weil wir Tiere so lieb haben. Das hier sind alle unsere Tiere. Natürlich sind sie schon lange tot und für dich jetzt nur vorübergehend sichtbar – damit du dich erinnerst ...“ Corinna versuchte, diese seltsame Vision abzuschütteln und erwartete, jeden Moment aufzuwachen.
Marie nahm ihre Hände und drückte sie fest. „Wir wollten die Welt erobern, Tiere retten, hungernden Kindern in Afrika helfen, damit sie genug zu essen haben ... Wir wollten, wenn wir groß sind, Bücher schreiben, eine berühmte Schriftstellerin werden und mit dem Geld, das wir verdienen, wollten wir als Erwachsene dann unsere Träume erfüllen. Hast du das alles vergessen? Schau doch mal Liese an, die Gans, die haben wir heute vor dreißig Jahren davor gerettet, geschlachtet zu werden. Daran musst du dich aber erinnern! Also wirklich …! Wir haben so lange geschrien, bis die Großeltern das unschuldige Tier freiließen. Liese wurde bei ihnen dann steinalt. Seit jenem Heiligabend isst du doch kein Fleisch mehr – oder?“
Corinna fiel es wie Schuppen von den Augen! Alles war wieder präsent, sie konnte sich an jede Einzelheit erinnern. Wie glücklich war sie als Kind mit sich selbst gewesen, obwohl ihre Eltern sie nicht immer verstanden und ihre Bedürfnisse selten stillten, vor allem ihre Intuition und Vorstellungskraft nicht wirklich förderten. Doch das hatte sie nicht daran gehindert, hier in der Hütte mit ihren Tieren zu sitzen und ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Sie hatte so wundervolle Visionen gehabt. Nur musste sie zwischen damals und heute irgendwo „falsch abgebogen“ sein, irgendwann hatte sie ihren Lebenstraum verraten, hatte ihre Leidenschaft und Begeisterungsfähigkeit verloren - sie hatte sich selbst verloren! Tränen liefen über ihre Wangen.
„Warum erscheinst du mir erst heute?“, fragte sie Marie gedankenversunken.
„Weil es Zeit wird, dich zu erinnern - wach auf“, rief Marie mit ihrer glockenhellen kindlichen Stimme. „Es ist noch nicht zu spät. Du kannst alles sein, was du willst. Ich bin immer noch in dir; das Kind, das voll Vertrauen an sich selbst und seine Bestimmung glaubt. Du brauchst nur auf dein Herz zu hören.“
Corinna hatte andächtig zugehört und Maries Worte auf sich wirken lassen. Zutiefst berührt ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Was sie hier erlebte, war außergewöhnlich. Ein kleiner Blick in ihre Vergangenheit, eine Wiedervereinigung mit ihrem inneren Kind, der kleinen Corinna, die sich insgeheim Marie nannte, einfach weil sie es wollte – und fest an sich glaubte! Das war pure Magie! Und das alles geschah hier und jetzt nur für sie! Was für ein Geschenk!
Intuitiv nahm sie nacheinander jedes Tier in ihre Arme, ließ einen stillen Austausch voller Liebe mit ihnen geschehen. Als sie Liese, die Gans, berührte, musste sie an deren Schwester denken, die nun gerupft und tot in ihrem Kühlschrank lag. Corinna fühlte sich schuldig. Sie selbst aß kein Fleisch, keine toten Tiere mehr, doch hatte sie es zugelassen, um einer Auseinandersetzung mit ihrer Familie aus dem Weg zu gehen. Das war nicht in Ordnung gewesen und hatte ihr mehr wehgetan als sie sich eingestanden hatte. Nachdem Corinna alle Tiere geherzt hatte, nahm sie Marie in ihre Arme. Corinna schloss ihre Augen und drückte ihre Kleine fest an sich, und es schien ihr, als würden sie miteinander verschmelzen.
Als Corinna nach einer gefühlten Ewigkeit die Augen wieder öffnete, saß sie auf dem Boden im Gras und hielt sich selbst umschlungen. Suchend blickte sie sich um, doch alles war verschwunden: der Schnee, die Hütte, die Tiere, das kleine Mädchen, das ihren Namen trug. Doch sie hatte verstanden … Während Corinna aufstand und ins Haus zurückging, fühlte sie sich wie von einer schweren Last befreit und spürte auf einmal eine ungeheure Energie und Klarheit in sich wachsen.
Am frühen Nachmittag kam Hendrik mit den Kindern und Großeltern nach Hause. Onkel Daniel stand missmutig vor der Tür und schimpfte, Corinna habe ihm nicht geöffnet. Dabei sei er nicht zu früh. Auch habe sie auf seine Telefonanrufe nicht reagiert. Hendrik hob unsicher die Schultern und schloss auf. Lärmend liefen die Kinder durch das Haus und riefen nach ihrer Mutter. Doch sie erhielten keine Antwort. Corinna war nirgends zu sehen. Großvater Heinz hob tadeln die Augenbrauen und sein Blick, den er seiner Frau zuwarf, ließ keinen Zweifel darüber, wie verärgert er über seine Schwiegertochter war.
Auf dem Küchentisch entdeckte Hendrik schließlich einen Zettel mit einer kaum leserlichen Handschrift: „Liebe Familie! Ich nehme mir eine Auszeit. Die Leiche der Gans ist im Kühlschrank. Sicher wird Oma Karin sie perfekt zubereiten können. Daniel kann sich ja mal nützlich machen und gemeinsam mit den Kindern das Haus dekorieren, den Baum schmücken und den Tisch decken. Melde mich die Tage von der Ostsee. Frohe Weihnachten! Kuss, Marie!“
Fassungslos ließ Hendrik sich auf einen Stuhl fallen: „Wer um alles in der Welt ist Marie?“


Vita

Birgit Maria Hoepfner wurde im Rheinland geboren und zog 2009 in ihre Wahlheimat nach Schleswig-Holstein an die Ostsee.
Seit Anfang der 90er arbeitete sie freiberuflich für Verlage und seit 2014 ist sie als Lektorin und Korrektorin für Indie-Autoren und Verlage tätig. www.textewerkstatt.de
Ihre Leidenschaften sind das Schreiben - das Jonglieren und „Malen“ von Bildern mit Worten - sowie Meditation, Tiere und vegane Ernährung. Ihr erster Roman „Ein Klang der Seelen“ erschienen 2008 und handelt von ihrem Lebenstraum „Victorias Welt“, einer Begegnungsstätte mit Tieren und Menschen. www.victoriaswelt.de.