Freitag, 13. Dezember 2019

Wir lesen Weihnachten – Geschichten und Gedichte zum Fest von Marianne Rauch



„Es tut mir leid“, räusperte sie sich. „Ich schaue jeden Tag, ob die feinen Schneekristalle in den weißen Himmelsbändern eine Wetteränderung ankündigen. Meine Aufgabe als Wolkenbeobachterin ist mir sehr wichtig. Doch wisst ihr, ihr beide seid mir tausendmal wichtiger!“
Yolanda und Petronella strahlten bis über beide Ohren, als sie das hörten.
„Warum habt ihr mir nicht schon viel früher gesagt, wie euch zumute ist?“
„Weiß nicht“, stammelte Petronella.
Yolanda murmelte: „Ich weiß auch nicht so genau. Vielleicht, damit du nicht von uns denkst, wir wären zwei kleine dumme Gänse.“
Adelgunde verkniff sich ein Schmunzeln, als sie ausrief: „Ihr seid zwei kleine dumme Gänse, wenn ihr nicht sagt, was euch bedrückt!“
Nun musste sie doch herzhaft lachen. Sie drückte die beiden fest an ihre Brust.
„Heute geben wir uns gegenseitig ein Versprechen. Egal, was es ist, wir sagen uns immer, wenn wir traurig oder unglücklich sind. Sonst gerät zu guter Letzt noch alles Durcheinander und der Kronleuchter fällt von der Decke.“
„Der ist ja schon herunter gefallen!“, ereiferte sich das Nesthäkchen.
Adelgunde lächelte , doch setzte mit ernster Mine nach: „Ja. Und ihr seid nochmal glimpflich davon gekommen. Doch bevor ein weiteres Unglück geschieht, werdet ihr jetzt mit dem Aufräumen beginnen.“
Während sie einige Kalkkrümel von ihren Knien schüttelte, fiel ihr Blick auf die zertrümmerte chinesische Bodenvase.
„Sammelt die Scherben auf, damit sich niemand an ihnen verletzt. Vergesst nicht, den Staub beiseite zu fegen. Und morgen kümmern wir uns um das Loch in der Decke. Ein hartes Stück Arbeit wartet auf euch. Lasst euch nicht einfallen, eure Zauberkräfte dafür zu verschwenden! Ich kann euch versichern: Das wird garantiert nicht langweilig werden.“
Sofort verteilten sich die beiden im Zimmer. Ohne zu murren begannen sie eifrig mit den Aufräumarbeiten. Sie waren so emsig bei der Sache, dass sie nicht bemerkten, wie Adelgunde sich den Kronleuchter schnappte und heimlich mit ihm ins Nebenzimmer schlich.

***

Leise ließ sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Unter ihrer Schürze verbarg Adelgunde einen geheimnisvollen Schlüssel. Diesen fingerte sie nun hervor, schob ihn in das Schlüsselloch und drehte ihn dreimal um.
„Fest verschlossen“, vergewisserte sie sich, bevor sie die alte Eisentruhe ansteuerte.
Sie klappte die vorderen und seitlichen Beschläge herunter und öffnete den schweren Deckel. Nur zögerlich gab er unter Adelgundes Händen nach, bevor er den Inhalt freilegte. Das in tiefrotem Leder gebundene Zauberbuch. Sofort schlug die Älteste es auf.
Hastig blätterte sie durch die Seiten. Ihre Augen überflogen in Windeseile die sorgfältig niedergeschriebenen Worte. Sie erkannte die Handschrift der Mutter auf Anhieb. Unverwechselbar und gestochen scharf zog sie sich über das matt glänzende Papier. Auf Seite 974 hielt Adelgunde inne. Sie hatte gefunden, wonach sie suchte. Der passende Zauberspruch lag endlich vor ihr.

„Eene, meene, Katzendreck
mach den Schaden wieder weg
Schnodderrotz und Guckediegans
erstrahle hell in neuem Glanz
Lilalola Blechlaterne
schwing geschwind nun deine Arme
Kürbishut und Lederschnalle
hänge an wieder alle Kristalle

Dreimal flüsterte Adelgunde die magischen Worte, bevor der Zauber Wirkung zeigte. Die verbogenen Messingarme ächzten und ruderten vor und zurück. Plötzlich erhoben sie sich in schwungvoller Pracht wie zuvor.
Die wie Diamanten fein geschliffenen Kristalle huschten herbei. Mit klirrendem Kichern sprang eines nach dem anderen an seinen gewohnten Platz. Wie Tropfen hingen sie am Leuchter. Nun, da alle wieder versammelt waren, erstrahlten sie und ihr Funkeln erhellte den gesamten Raum.
Das Mädchen, welches die meisten Lebensjahre der drei Schwestern zählte, lehnte sich zufrieden zurück. Das Werk war vollbracht. Eine kluge und weise Entscheidung, dachte sie. Keinen einzigen Gedanken verschwendete sie daran, dass sie nun einen Zauberspruch weniger übrig hatte. Ganz im Gegenteil. Ein Glücksgefühl erfüllte ihr Herz.
„Und das ist doch etwas Gutes!“, juchzte sie.


 


Vita:
Das Licht der Welt erblickte ich in Berlin, hier lebe und arbeite ich. Mein erstes Werk war ursprünglich für einen Wettbewerb gedacht, doch kurzerhand entschloss ich mich, die Novelle >Träume können sich nicht irren< selbst zu veröffentlichen. Mit meiner vielfältigen Kreativität bin ich ebenso in Thriller & Crime wie z. B. >Träum süß stirb schnell< unterwegs wie in Geschichten zur Weihnachtszeit für Kinder und Jugendliche. Alle Bücher stelle ich auf meiner Homepage www.marianne-rauch.de vor, wo auch Leseproben zu finden sind.

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