Samstag, 5. Dezember 2020

Ein besonderes Geschenk für Rapunzel von Annette Paul

Bild von Krisi Sz.-Pöhls

Wieder herrscht in der Familie meiner Freundin Rapunzel Aufregung. Gut, geschäftig sind meine Menschen immer, doch jetzt ist es noch schlimmer als sonst. Und das nur, weil in ein paar Wochen Weihnachten ist. Nein, wartet mal, Rapunzel hat einen Adventskalender und da hat sie schon zehn Türchen geöffnet. Himmel, ich muss mir unbedingt ein Geschenk für Rapunzel einfallen lassen. Das ist gar nicht so einfach für mich, denn ich bin eine kleine, goldfarbene Ratte aus königlichem Geschlecht. Deswegen kann ich auch sprechen. Wir königlichen Ratten sind nämlich etwas Besonderes. Eines Tages wird Rapunzel mich erlösen, dann werde ich ein richtiger Menschenprinz und werde sie heiraten. Doch bis dahin brauche ich ein vernünftiges Weihnachtsgeschenk. Dabei habe ich weder Geld noch so große Hände, um ihr Socken, Mützen oder etwas Ähnliches zu stricken.

„Rapunzel, beeilst du dich?“, ruft Nachtigall gerade. Nachtigall heißt  Rapunzels Mutter, sie wird so genannt, weil sie Sängerin ist. In dieser chaotischen Großfamilie haben alle Spitznamen. Rapunzel heißt eigentlich Raja, aber da sie mich vor langer Zeit aus einem Kanal gerettet hat, wird sie Rapunzel genannt. Dabei hat sie überhaupt kein Haar heruntergelassen, sondern nur ihren Schal. An dem konnte ich hochklettern, bevor ich ertrank.

Aber wo wollen die jetzt hin? Rapunzel will mich nicht mitnehmen, obwohl ich sie darum bitte. Stattdessen sperrt sie mich in den Käfig. Dagegen muss ich etwas unternehmen. Erst verstecke ich mich in meiner Hütte und schiebe Stroh vor den Eingang. Nachdem Rapunzel das Zimmer verlassen hat, schlüpfe ich hinaus. Zum Glück ist noch niemanden aufgefallen, dass die Käfigtür nicht mehr richtig einhakt, so kann ich sie aufschieben und hinausspringen. Schnell husche ich zum Flur.

Wo ist Nachtigall bloß? Ihr großer schwarzer Umhang hängt noch an der Garderobe. Rapunzel planscht im Badezimmer herum. Sicher ist es besser, wenn Nachtigall mich mitnimmt, dann kann sie Rapunzel nachher nicht ausschimpfen. Also springe ich ein kleines Stückchen, bis ich mich im Stoff festkrallen kann und klettere zur Ponchotasche. Die ist viel größer und gemütlicher als Rapunzels Jackentaschen.

Ich habe es gerade geschafft, da kommt Rapunzel schon angesprungen und zieht sich ihre Winterstiefel und die Jacke an.

„Du hast Prinz wirklich nicht dabei?“, fragt Nachtigall streng.

„Ja, aber er ist beleidigt. Er hat sich gleich in seine Hütte verzogen.“ Wie gut, dass ich vorsorglich etwas Stroh in den Eingang geschoben habe!

„Davon wird er sich erholen!“, meint die Mutter kaltherzig. Was weiß sie schon, wie sich eine Ratte fühlt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich überwiegend schlafend verbringe, stoppt das Auto und sie steigen aus. Wir sind im Einkaufszentrum angekommen.

Kurz schaue ich aus der Tasche. Es sieht aus, wie auf einem wildgewordenen Ameisenhaufen. Viele Menschen schieben sich eilig durch die Massen, wuseln hin und her. Schnell ziehe ich meinen Kopf wieder ein.

Nach einer Weile bleibt Nachtigall stehen. Vorsichtig luge ich hinaus. Nachtigall schiebt Jacken auf einem Ständer hin und her, schaute sich welche an, um sie wieder zurückzuhängen. Nach einer Weile reicht sie Rapunzel eine Jacke zum Anprobieren. Das kann noch Stunden dauern, wie langweilig.

Bild von Krisi Sz.-Pöhls

 Bevor ich vor Langeweile sterbe, klettere ich aus dem Poncho, was Nachtigall gar nicht auffällt. Das Ding ist richtig gut. Weil es so weit ist, merkt sie gar nicht, was in ihren Taschen ist oder wer daran herumturnt. So, jetzt muss ich nur aufpassen, dass keiner dieser Trampelmenschen mich tritt.

Ein Stückchen weiter hängen Hosen an einem runden Ständer. Um mir einen Überblick zu verschaffen, klettere ich an einer Hose hoch. Allerdings habe ich nicht mit dem kleinen Jungen gerechnet. Gerade als ich die halbe Strecke bis zum Bügel geschafft habe, setzt er den Ständer in Bewegung. Er dreht ihn immer schneller. Es ist wie Karussellfahren. Juhu, das ist toll. Ich wollte schon immer einmal mit einem Karussell fahren. Schneller, immer schneller wird es. Meine Haare wehen im Fahrtwind. Ich könnte ewig im Kreis fahren. Doch plötzlich löst sich die Hose, an der ich hänge, vom Ständer. Sie hebt ab und schleudert durch die Luft. Wir fliegen genau auf eine alte Dame zu. Hilfe, ich kann doch nicht steuern! Dann krache ich gegen die Arme und rutsche an ihrer Vorderseite hinab. Benommen bleibe ich einen Augenblick liegen, bevor ich aufspringe und unter einem Regal verschwinde.

Trotzdem hat sie mich gesehen. „Hilfe, eine Ratte“, schreit sie. Gleich kommt eine Verkäuferin herangeeilt und beruhigt sie. Die Verkäuferin schimpft mit dem Jungen, der so geschockt ist, dass er nicht rechtzeitig geflohen ist.

Kleinlaut hebt er die Hose wieder auf, gibt sie der Verkäuferin und entschuldigt sich bei der alten Dame.

„Ich habe eine Ratte gesehen“, behauptet die immer noch.

„Das war bestimmt nur der Schatten. Sie waren geschockt, dass plötzlich etwas auf Sie zugeflogen ist. Wo soll hier eine Ratte herkommen?“, beruhigt die Verkäuferin sie.

Hinter mir höre ich andere Kunden murmeln: „Die Alte ist verwirrt, die gehört in ein Pflegeheim.“

Hoffentlich bin ich nicht schuld, dass sie in ein Heim muss. Doch die Frau ist klug. Sie sieht zwar nicht überzeugt aus, nickt aber trotzdem und meint: „Wahrscheinlich haben Sie recht, mit fliegenden Hosen rechnet man auch nicht.“ Dann entfernt sie sich, dabei schaut sie in meine Richtung. Mein Herz schlägt ganz doll. Endlich ist sie weg und die Gefahr vorbei.

Als ich mich wieder hervorwage, stelle ich fest, dass ich in der Spielzeugabteilung bin. Das ist eine Fügung des Schicksals! Ich soll hier etwas für Rapunzel kaufen.

Wer weiß, wie viel Zeit ich habe. Also husche ich suchend durch die Gänge. Da, über das Spiel des Jahres haben sich die Kinder neulich unterhalten. Es soll Spaß machen. Rapunzel hat erzählt, dass sie es bei einer Freundin gespielt hat. Als ich den Preis sehe, rutscht mir das Herz in die Krallen. 25 Euro, das ist viel zu viel! Gut, selbst einen Euro besitze ich nicht. Was also tun?

Da fallen mir die Auftritte als Straßenmusikanten ein, die die Kinder vor einiger Zeit gemacht haben, um Rapunzels großen Schwestern die Klassenreisen zu ermöglichen. Ich schaue mich um. Die Abteilung ist gut gefüllt. Die meisten Leute stehen vor der Kasse, also renne ich dorthin, klettere auf ein Regal und schmettere lautstark den alten Schlager „Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen“ von Heintje. Bei Rapunzel haben die alten Damen immer vor Rührung geweint und hier an der Kasse stehen ganz viele alte Damen. Sicher kaufen die für ihre Enkelkinder Weihnachtsgeschenke.

Tatsächlich drehen sich alle nach mir um. Aber statt mir Geld zu spenden, kreischen sie auf und rennen weg. Nein, nicht alle. Ein kleiner Junge sagt: „Das klingt ja scheußlich. Wenn man nicht singen kann, sollte man es lassen.“

So eine Frechheit! Ich kann singen, sehr gut sogar. Der Junge weiß nicht, was ein guter Sänger ist.

Ein anderes Mädchen sagt zu seiner Mutter: „Mama, kaufst du mir auch so eine singende Ratte?“

Vielleicht sollte ich mich verkaufen lassen und mit dem eingenommenen Geld das Spiel für Rapunzel besorgen?

Aber bevor ich mit der Mutter verhandeln kann, kommt ein rabiater Großvater mit erhobenem Regenschirm auf mich zu. Nicht zu glauben. Er schlägt tatsächlich zu. Zum Glück bin ich schneller und renne weg, bevor er mich trifft.

Mit klopfendem Herzen sitze ich ein paar Fächer weiter zwischen den Kuscheltieren und traue mich nicht, mich zu rühren. Zu allem Unglück höre ich auch noch, wie eine Verkäuferin mit jemanden telefoniert und einen Kammerjäger anfordert. Nein, die wollen mich töten. Mich, den königlichen Prinzen!

Erfreulicherweise sehe ich Rapunzel und Nachtigall herankommen. „Das kann nur deine Ratte sein, sonst gibt es nie so große Unruhe in einem Kaufhaus“, flüstert Nachtigall Rapunzel zu.

Niedergeschlagen hat Rapunzel ihren Kopf gesenkt. Doch dann hebt sie ihn an: „Ich habe Prinz nicht mitgenommen. Er ist in seinem Käfig.“

„Jetzt ist er bestimmt hier“, behauptet Nachtigall.

Als sie an mir vorbeigehen, rufe ich leise: „Rapunzel, schau dir mal die Kuscheltiere an.“

Sie hört mich und bleibt stehen. Gedankenverloren streicht sie mit der Hand über die Tiere. Das nutze ich und schlüpfe in ihren Ärmel.

„Rapunzel, ich glaube, wir gehen schnell raus. Wir haben noch andere Einkäufe zu erledigen“, drängt Nachtigall. Als wir im Auto sitzen, atmet sie hörbar aus. „Prinz, wie kommst du in das Kaufhaus?“, fragt sie streng.

„In deinem Poncho“, erkläre ich. Lügen ist bei ihr zwecklos.

„Ich habe dich mitgenommen?“, fragt sie entsetzt.

„Ja, der Poncho ist prima. Die Taschen sind schön geräumig und gemütlich.“

„Ich werde die Taschen zu Hause sofort zunähen! Und was hast du in der Spielzeugabteilung gemacht? Und bei den Kinderhosen warst du wohl auch die fliegende Ratte?“

„Ich konnte doch nichts dafür, dass die Hose auf einmal abhebt und die alte Dame wollte ich nicht treffen. Ich bin einfach durch die Gegend geschleudert.“

Rapunzel lacht. „Die Jungs werden dich bestimmt Flederratte nennen.“

So ein blöder Name, der gefällt mir nicht.

Nachtigall verzieht ihr Gesicht. „Und was hast du in der Spielzeugabteilung angestellt?“

„Ich wollte nur etwas Geld mit Liedern verdienen. Aber die Leute mochten „Mama, du sollst ...““, bevor ich richtig loslegen kann, schreit Nachtigall sofort: „Stopp, verschone uns. Kein Wunder, dass sie den Kammerjäger holen wollten.“

Beleidigt verkrieche ich mich in Rapunzels Ärmel.

Doch daheim ist Nachtigall gar nicht mehr so böse, wie sonst, wenn ich wieder einmal entdeckt worden bin.

Sie gibt die Geschichte, unterstützt von Rapunzel, beim Abendessen zum Besten. Alle amüsieren sich, lachen und geben ihre Kommentare ab.

Auch wenn ich kein Geld verdient habe und noch immer nicht weiß, was ich Rapunzel schenken soll, habe ich der Familie auf jeden Fall eine unterhaltsame Stunde beschert.

Als Rapunzel am Abend im Badezimmer die Zähne putzt, schaut Nachtigall in unser Zimmer und fragt mich: „Prinz, warum wolltest du Geld verdienen?“

„Weil ich ein Geschenk für Rapunzel besorgen will“, sage ich traurig.

„Was wolltest du kaufen?“, will Nachtigall wissen.

„Das Spiel, von dem Rapunzel neulich erzählt hat. Sie fand es ganz toll.“

Nachtigall überlegt eine Weile. „Bist du einverstanden, wenn wir es für dich besorgen? Du versprichst dafür, in den nächsten Wochen daheim zu bleiben, wenn wir Besorgungen machen oder zu Weihnachtsfeiern gehen.“

Das ist ein großes Opfer. Sie verlangt wirklich viel. Aber ich bin trotzdem nach kurzem Nachdenken damit einverstanden. Schließlich brauche ich unbedingt ein Geschenk für Rapunzel.

 




Annette Paul schreibt und veröffentlicht seit vielen Jahren Kurzgeschichten und Kindertexte, gern etwas zum Schmunzeln. Sie hat mehrere Bücher mit der Ratte Prinz geschrieben: "Ratte Prinz","Ratte Prinz im Weihnachtsbaum" und "Rattenprinzessin Rapunzel". Dazu die Weihnachtsbücher: "Der ganz normale Weihnachtswahnsinn", , "Weihnachtsmann im Weihnachtsstress" und "Weihnachtsmann hat noch mehr Stress". Mehr von und über Annette Paul auf Probeschmökern bei Annette Paul.  Siehe auch die Autorenseite von Amazon.

Krisi Sz.-Pöhls
lebt recht zurückgezogen in Oppenheim am Rhein.  Malen gehört seit ihrer Kindheit zu ihren Hobbys. Mittels Fortbildungen ist die Autodidaktin Künstlerin geworden.
Sie hat die Illustrationen zu „Der Bär mit der Brille“, „Klein Henning und der Delfin“, „Rattenprinzessin Rapunzel“, „Ratte Prinz im Weihnachtsbaum“ und „Hopser will helfen“ gemalt.
Mehr von ihr auf ihrer Homepage https://salidaswelt.jimdofree.com/
oder bei www.zazzle.de/mbr/238764950947258943