Sonntag, 13. Dezember 2020

Das Kind in mir von Sigrid Wohlgemuth

 



Täglich zählte ich die Tage bis hin zum Heiligen Abend. Als Kind kommen einem vierundzwanzig Stunden unendlich vor. In der Schule bastelten wir Sterne und Schneelandschaften, die wir dann später in unserem Zuhause an die Fenster klebten. Längst hatte ich die Liste mit meinen Wünschen auf die Fensterbank gelegt und mich krampfhaft wachgehalten, denn ich wollte herausfinden, von welchem Elfen mein Weihnachtsbrief abgeholt wurde. Ich musste wohl kurz zuvor eingeschlafen sein, denn am Morgen lag die Liste nicht mehr dort. In meinem Alter von acht Jahren wusste ich, dass der Weihnachtsmann nur die Kinder mit Geschenken unter dem Tannenbaum beglückte. Darum überlegte ich mir, womit ich meiner Mutti und meinem Vater eine Freude bereiten konnte. Meine Oma bat ich, meinem Vater ein paar Wollsocken zu stricken, die ich ihm dann schenken könnte. Für meine Mutti suchte ich bunte Perlen und zog sie zu einer Kette auf. Beide Geschenke packte ich in grünes Papier, holte mir aus dem Badezimmer Watte und bastelte daraus kleine Wolken, damit wollte ich Schnee darstellen. 

Weiße Weihnachten, damals gab es sie noch. Langsam segelten dicke Flocken vom Himmel herunter. In unserm Haus duftete es nach Lebkuchen. Wie sehr ich den mochte! Von den Mandeln, die in die Mitte gesetzt wurden, verschwand oft eine in meinem Mund. Ich wusste genau, dass Mutti es mitbekam, denn um ihre Lippen lag ein wissendes Lächeln. Das fertige Gebäck legten wir in Dosen mit wunderschönen Weihnachtsmotiven. Mutti versteckte eine Schachtel, ich glaube, in ihrem Kleiderschrank, doch ganz sicher bin ich mir nicht. Sie machte es, weil wir sonst bis zum Weihnachtsfest alles aufgegessen hätten und dann ohne Lebkuchen das Fest der Liebe hätten feiern müssen. 

Sogar Papa stibitzte ab und zu einen, wenn er abends von der Arbeit kam. Oft brachte er vor den Festtagen Geschenke mit, von Firmen, mit denen er zusammenarbeitete. Handelte es sich um Schokoladenweihnachtsmänner, dann stellte er sie mir auf mein Nachtschränkchen, damit ich sie beim Erwachen am Morgen sofort sehen konnte. Mutti bekam die Pralinenschachteln und für sich selbst behielt Papa den Sekt und Wein. 

Mutti und ich sangen Weihnachtslieder, während wir die Fenster mit meinen selbstgebastelten Sternen verzierten. Zwei Tage vor dem Heiligen Abend schimmerte der Himmel rötlich. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte. Im Weihnachtsland wurden die letzten Plätzchen gebacken, alles lief auf Hochtouren, und die freudige Erwartung in mir stieg an. Nur noch ein einziges Mal schlafen! Immer wieder schaute ich auf die Geschenke für die Eltern, damit ich auch ja nichts vergaß. 

Papa besorgte den Tannenbaum, stellte ihn auf und brachte die Kerzen an. Mutti und ich schmückten ihn mit bunten Kugeln, kleinen Vögeln, Tannenzapfen und silberschimmerndem Lametta. Sie hatte es zuvor gebügelt, damit es nicht verknittert aussah. Papa hob mich hoch, damit ich die silberne Spitze obenauf setzen konnte, die einen buschigen Schweif hatte. Wunderschön war der Baum und er strahlte Wärme aus. 

Dann bat mich Papa, ich solle in mein Zimmer gehen und mich fertigmachen, wir würden gleich in den Gottesdienst gehen, wo uns die Weihnachtsgeschichte verkündet wurde. 

Brav zog ich mir mein Sonntagskleid an, dicke Strümpfe und meine warmen Stiefel. Als meine Eltern sich im Schlafzimmer für die Kirche umzogen, schlich ich auf Zehenspitzen zur Wohnzimmertür und schaute durchs Schlüsselloch. Den Glanz der Lichter konnte ich ausmachen. Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher, als den Weihnachtsmann zu sehen. 

Wir gingen zu Fuß in die Kirche, meine Eltern meinten, ein Spaziergang würde uns guttun und dem Weihnachtsmann genüg Zeit geben, all die Geschenke unter den Baum zu legen. 

Maria gebar Jesus im Stall. Ich liebte diese Geschichte, hing an den Lippen des Jungen, der sie vortrug. Unter Glockenklang verließen wir die Kirche, der Pfarrer gab jedem die Hand und wünschte gesegnete Weihnachten. Leise rieselte der Schnee. Auf dem Rückweg tanzte und drehte ich mich mit ausgestreckten Armen im Kreis. Ich öffnete den Mund und ließ die Flocken darin schmelzen. Mutti hatte sich bei Papa untergehakt und beide lächelten mich glücklich an. 

Zuhause kam ich nicht schnell genug aus meinen Stiefeln, doch Papa bat mich geduldig zu sein. Erst würden er und Mutti schauen, ob das Christkind bereits dagewesen sei. Ich ging ins Bad, wusch mir artig die Hände und fuhr mir mit der Bürste durch mein braunes lockiges Haar. Strich mir mein Kleid glatt. Mein Herz pochte erwartungsvoll. Das Christkind würde ich nicht zu Gesicht bekommen, das hatte ich sicherlich ein weiteres Mal verpasst, doch ich wollte wissen, ob es mich beschenkt hatte. Denn das würde bedeuten, dass ich das ganze Jahr ein liebes Kind gewesen war. 

Im Flur ging ich auf und ab, knetete meine Hände fest aneinander. Dann entschloss ich mich, meine Geschenke für die Eltern aus dem Versteck zu holen. Damit stellte ich mich vor die Wohnzimmertür. Vorsichtig horchte ich daran, ob ich nicht irgendein Geräusch ausmachte. Auf einmal hörte ich ein Glöckchen klingeln. Mir war nicht bewusst, dass wir den Baum zuvor damit geschmückt hatten. Sollte das Christkind es hinterlassen haben? 

»O Tannenbaum, O Tannenbaum« erklang. Meine Eltern hatten den Plattenspieler angestellt. Langsam öffnete sich die Tür, und mein Blick ging erst zu meiner Mutti, die mich anlächelte und dann zu Papa, der mir zuzwinkerte. Tief atmete ich durch und wusste, dass Christkind war da gewesen. Ob meine Eltern es noch gesehen hatten? Ich verschob die Frage auf später, wenn ich sie überhaupt jemals gestellt habe. 

Das Licht des Tannenbaumes zog mich magisch an, ein freudiges Kribbeln ging durch meinen Körper. Ich spürte etwas, doch ich konnte es nicht beschreiben, es ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Die Geschenke, die unter dem Baum lagen, waren zweitrangig, dieses unbeschreibliche Gefühl und der Duft nach frischer Tanne und dem Bienenwachs der Kerzen, gemischt mit dem süßen Aroma des bunten Tellers, der in der Luft schwebte, sollte mich fortan bis zum heutigen Tage begleiten. 

Voller Erwartung, wie meine Eltern reagieren würden, überreichte ich ihnen meine kleinen Geschenke, bevor ich mich niederkniete und meine auspackte. 

Wir spielten den ganzen Abend, bis ich müde auf der Couch in Muttis Arm einschlief und mir im Traum beim Christkind wünschte, mir niemals den Glauben an seiner Existenz zu nehmen. 

 

Die Autorin Sigrid Wohlgemuth wurde in Brühl, bei Köln geboren. 1996 erfüllte sich die selbstständige Kauffrau ihren Traum, zog nach Kreta und machte die Insel zu ihrer Wahlheimat. Die Mittelmeerinsel, ihre Bewohner, die kretische Küche und das Schreiben wurden zu ihrem Lebensmittelpunkt. Es entstanden Geschichten und Romane, die überwiegend auf Kreta spielen. Nicht nur in ihren Erzählungen, sondern auch bei Lesungen, bei VHS Kochkursen in Deutschland und auf Kreta, sowie in Live – Kochshows auf der Insel möchte Sie dem Gast die kretische Kultur, sowie Land und Leute näherbringen.

Das Lebensmotto von Sigrid Wohlgemuth: „Lebe deinen Traum, bevor es zu spät dazu ist.“ 

Bisher erschienen 

2020 Schrei in der Brandung - Twentysix 

2019 Weihnachtskind – Anthologie Weihnachtsgeschichten - Selbstverlag 

2019 Ein Stück Süden für dich - Kreta Roman, Franzius Verlag GmbH 

2017 Und tschüss … Auf nach Kreta! -Kreta Roman mit Rezepten, Franzius Verlag GmbH 

2015 Der Duft von Oliven, Kreta Roman - Der kleine Buchverlag/Lauinger Verlag 

2013 Drei Stühle - Köstliche kretische Geschichten & Rezepte Stories & Friends Verlag 

2012 Bis am Baum die Lichter brennen - Anthologie – Weihnachtsgeschichten HS Verlag – Österreich 

Zahlreiche Veröffentlichen in Anthologien und Zeitschriften. 

Seit 2017 Beiträge: Zeitschrift Das Lavendelo Natürliches. Selber. Machen. 

Weiteres: 

August 2018 – Food-Expertin für ADAC Reisemagazin Kreta https://web.facebook.com/KRETA.GESCHICHTEN.REZ EPTE/ 

 https://kreta-erzaehlungen-rezepte.jimdo.com/kretischenatur/kretische-natur/ sigrid.wohlgemuth@yahoo.de