Dienstag, 8. Dezember 2020

Heiligabend – Stille Nacht von Eva Markert

 

Illustration: © Franz Metelec – pitopia de

Herbert war tatsächlich zu Bett gegangen! Um neun Uhr, heute, am Weihnachtsabend! Als wäre ein ganz normaler Tag! Ja, sie wusste, sein Nachtschlaf war ihm heilig. „Wenn ich nicht spätestens um neun Uhr ins Bett gehe, bin ich den ganzen nächsten Tag wie gerädert“, behauptete er immer. Du meine Güte, am Heiligen Abend, da hätte er wirklich mal eine Ausnahme machen können! Aber nein, nach der Bescherung und dem Essen hatte er gegähnt, ihr einen Kuss gegeben und sein Sprüchlein aufgesagt: „Wenn ich nicht spätestens um neun Uhr …“, und so weiter, sie konnte es nicht mehr hören!

Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen, sodass sich die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum zu verflüssigen schienen und die bunten Kugeln verschwammen. Gut, zugegeben, sie und Herbert waren nicht mehr die Jüngsten, sie hatten bereits Enkelkinder, aber mit 65 war man doch noch kein Mummelgreis!

Früher war Herbert ganz anders gewesen: unternehmungslustig, voll Energie und guter Laune. Ach, könnte es noch einmal sein wie damals!

Sie lehnte sich zurück, starrte in die Kerzen auf dem Adventskranz und sinnierte. Wenn sie die Wahl hätte, welches Weihnachtsfest würde sie gern noch einmal erleben?

Die Kerzen brannten ruhig, eine fast hypnotische Wirkung ging von ihnen aus. Die Umgebung wich zurück und löste sich in den Schatten auf. Es gab nur noch diese Flammen, und ihr Licht leuchtete bis in die Vergangenheit hinein. In eine Zeit, als sie das Fest noch mit echter Weihnachtsfreude im Herzen gefeiert hatte.

Plötzlich fühlte sie sich wieder wie die frisch verheiratete junge Frau vor dem ersten Weihnachtsfest mit ihrem Ehemann. Schon in der Adventszeit hatte sie die Wohnung festlich geschmückt, Plätzchen gebacken, eingekauft und alles liebevoll vorbereitet. Ganz besonders sollte es werden, denkwürdig und unvergesslich. Nun, unvergesslich wurde dieser Heilige Abend tatsächlich, jedoch nicht so, wie sie es sich erhofft hatte.

Zunächst fing alles gut an: Sie saßen im Weihnachtszimmer, die Kerzen auf dem Tannenbaum verbreiteten ein herrlich warmes Licht und im Hintergrund lief stimmungsvolle Weihnachtsmusik. Sie hatte ihm ein echtes Schweizer Messer gekauft, das er sich schon lange wünschte. Die hübsche Kette mit dem Smaragdanhänger, die er ihr geschenkt hatte, trug sie heute noch.

Später war sie in die Küche gegangen, um letzte Hand an das Weihnachtsessen zu legen. Von da an nahm das Unglück seinen Lauf: Aus irgendeinem Grund waren die Klöße völlig zerfallen. Und der Rotkohl war angebrannt.

Herbert versuchte, sie zu beruhigen. „Das macht nichts,“, sagte er. „Wie die Klöße aussehen, ist mir völlig egal. Mit der Soße schmecken sie bestimmt sehr gut. Und vom Rotkohl nehmen wir eben nur, was oben im Topf liegt und nicht angebrannt ist.“

Notgedrungen stellte sie zwei Teller mit matschigem Kloßbrei und einem Kleckschen Rotkohl auf den Tisch und holte den Braten. Aber der schmeckte ganz komisch, ebenso die Soße. Weil sie statt Salz reichlich Zucker daran getan und es nicht gemerkt hatte, weil sie vor lauter Aufregung nicht daran gedacht hatte, die Soße abzuschmecken.

Herbert machte gute Miene zum bösen Spiel und begann zu essen, aber mehr als ein paar Bissen schaffte er nicht. Sie hatte schon vor ihm aufgegeben. Es war einfach ungenießbar. Er legte sein Besteck ab und fragte: „Haben wir zufällig Pizza in der Tiefkühltruhe?“

Das war leider nicht der Fall und so machte sich Herbert ein Käsebrot. Ihr war der Appetit vergangen.

Noch oft hatten sie sich in den folgenden Jahren an ihren ersten gemeinsamen Weihnachtsabend erinnert und herzlich darüber gelacht. Damals allerdings hatte sie bitterlich geweint und Herbert hatte alle Mühe gehabt, sie zu trösten.

Eine der Kerzenflammen begann, fröhlich zu tanzen, als wollte sie ihr etwas Wichtiges sagen. Sie beobachtete sie und musste unwillkürlich an ausgelassene Kinder denken. „Ich glaube, die schönsten Weihnachtsfeste habe ich erlebt, als die Kinder noch klein waren“, kam es ihr in den Sinn.

Sie erinnerte sich an den Heiligabend in dem Jahr, als ihr zweiter Sohn gerade geboren worden war. Michael war damals schon fünf. Sie spürte seine kleine warme Hand in ihrer, als sie gemeinsam vor der Wohnzimmertür warteten, bis von innen aufgeschlossen wurde. Vor lauter ungeduldiger Freude hüpfte er auf und nieder. Und dann sein Gesicht, als er den Weihnachtsbaum sah! Dieses ehrfürchtige Staunen, das Glänzen in seinen Augen, sein Jubelschrei, als er die Geschenke unter der Tanne entdeckte.

Sie lächelte versonnen, dann runzelte sie plötzlich die Stirn. Da waren noch andere Geräusche … ein Greinen, Schreien, Weinen. Ach ja, jetzt fiel es ihr wieder ein. Das Baby war krank. Am Nachmittag hatte Thomas plötzlich hohes Fieber bekommen. In tiefer Sorge lief sie immer wieder zum Bettchen, um nach dem Kind zu sehen, machte ihm Wadenwickel, hob es heraus und trug es herum, um es zu beruhigen. Gleichzeitig fürchtete sie, dass Michael die ganze Weihnachtsfreude verdorben wurde. Die Aufgabe, sich um den Ältesten zu kümmern, hatte vor allem Herbert übernommen und seine Sache sehr gut gemacht.

Inzwischen waren ihre Söhne erwachsen und selbst schon Väter. Morgen waren Herbert und sie bei Michael eingeladen. Dort erwartete sie auch ein Weihnachtsfest mit Kindern. Gab es etwas Herzerfrischenderes, als mit Kindern zu feiern?

Nein, sicher nicht, aber – sie seufzte – es gab auch nichts Unruhigeres. So wie im letzten Jahr bei Thomas, als sie diese krachenden Kopfschmerzen bekommen hatte. Die schrillen Stimmen der Enkel schnitten ihr wie scharfe Messer ins Trommelfell und hallten in ihrem Kopf wider. Das Geschrei, das Gelächter, die ständigen Fragen, das Trappeln von kleinen Füßen, die knallenden Türen, wenn die Kinder aufgeregt durch die Räume rannten … Nein, das war nichts mehr für sie. Es ging ihr schlicht und einfach auf die Nerven. „Nicht umsonst bekommt man in meinem Alter keine Kinder mehr“, dachte sie. Sie konnte nur hoffen, dass sie den morgigen Tag besser überstehen würde.

Gab es denn gar kein Weihnachten, an das sie ohne Vorbehalte zurückdenken konnte? Ein vollkommenes Fest, wo rundum alles so gewesen war, wie es sein sollte?

Eine Kerzenflamme knisterte leise, es klang geheimnisvoll.

Geheimnisvoll, so hatte sie die Weihnachtszeit erlebt, als sie selbst noch ein Kind war. Ihre Mutter und sie bereiteten gemeinsam alles vor, sie machten die Weihnachtsplätzchen, die sie auch dieses Jahr wieder gebacken hatte, und abends setzten sie sich zusammen hin und sangen die alten, bekannten Weihnachtslieder. Noch heute konnte sie alle Strophen auswendig. Sie erinnerte sich auch an das freudige Gefühl, das sie jedes Mal durchflutet hatte, wenn sie am Morgen des 24. Dezembers aufwachte. Es war einfach der schönste Tag des Jahres, viel, viel schöner als Geburtstag oder Ostern!

War es damals perfekt gewesen? Ein Weihnachtsabend fiel ihr ein – sie musste sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Aus irgendeinem Grund glaubte sie fest, eine Puppenstube zu bekommen. Sie wünschte sich schon so ewig eine! Es war ihr aller-, allergrößter Wunsch im Leben überhaupt!

Doch statt einer Puppenstube fand sie unter dem Tannenbaum nur einen Puppentisch und drei Puppenstühlchen. Später spielte sie viel und gern mit diesen kleinen Möbeln, aber an jenem Abend empfand sie nur bittere Enttäuschung.

„Das Christkind denkt, du bist noch zu klein für eine Puppenstube“, erklärte die Mutter ihr.

„Blödes Christkind“, stieß sie mit zornigen Tränen in den Augen hervor.

Im Geiste hörte sie die vorwurfsvollen Stimmen der Eltern: „Du bist undankbar! Das Christkind hat dir so viele schöne Geschenke gebracht!“ Heiß war ihr die Schamesröte ins Gesicht gestiegen.

Mit einem Mal verlosch die knisternde Flamme. Der Docht war in flüssigem Wachs ertrunken. Die drei anderen Kerzen auf dem Adventskranz waren fast heruntergebrannt. Wenn sie noch länger hier sitzen wollte, musste sie in die Küche gehen und neue Kerzen aus dem Schrank hervorkramen. Sie seufzte leicht verstimmt.

In diesem Augenblick wurde ihr schlagartig etwas bewusst: Das undankbare Kind von damals, es lebte immer noch in ihr! Anstatt sich zu freuen über das, was sie hatte, wollte sie etwas haben, was es nicht gab: Perfektion. Das vollkommene Weihnachtsfest.

Sie stand auf, holte vier Kerzen für den Adventskranz, zündete sie an und goss sich ein Glas von dem Rotwein ein, der ihr besonders gut schmeckte. Von ihren Lieblingsplätzchen waren auch noch welche da. Sie suchte das Buch mit den Weihnachtsgeschichten heraus, das sie schon lange nicht mehr zur Hand genommen hatte, und setzte sich gemütlich in eine Sofaecke.

Für sie war dieser Heilige Abend eine Stille Nacht.

Herbert schlief, ihre Kinder und Enkel feierten im Trubel und sie genoss ihren ganz persönlichen Weihnachtsabend. Perfekt war er nicht, aber gut. So vollkommen, wie er eben sein konnte.

 

Kurzvita:

Eva Markert lebt in Deutschland und in den Niederlanden.

Vor ihrer Pensionierung war sie Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch und sie besitzt ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache. Außerdem ist sie staatlich geprüfte Übersetzerin. Zusätzlich hat sie Erfahrung im Lektorieren und Korrekturlesen von Texten.

Eva Markert übersetzt aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen ins Deutsche und schreibt selbst Kinder- und Jugendbücher, Romane sowie Kurzgeschichten. Die meisten Texte veröffentlichte sie als Indie-Autorin. Viele ihrer Kurzgeschichten sind in Anthologien enthalten. Zwei Weihnachtsbücher für Kinder erschienen in einem kleinen Verlag.

Autorenseite bei Amazon: Eva Markert