Montag, 7. Dezember 2020

Süßer die Glocken nie klingen ... von Elsa Rieger


(Aus den Familienerinnerungen)

Ich hatte einen Onkel. Hugo war sein Name. Als ich geboren wurde, war er vierzig, ich war vierzig, als er starb.

Er und mein Vater waren Cousins, ihre Mütter Schwestern. Alle lebten sie in einer Herrschaftswohnung, eher schon Palasträumlichkeiten, im siebten Wiener Gemeindebezirk, auf der Mariahilfer Straße. Als ich Kind war, gingen wir oft dorthin auf Besuch. Onkel Hugo war vier Jahre älter als mein Vater, und da sie wie Brüder in einem Haushalt aufwuchsen, benahmen sie sich auch als erwachsene Männer so.

Nicht nur die Haare, auch die Zähne meines Onkels verabschiedeten sich, und er trug ein falsches Gebiss. Das mochte er gar nicht leiden. Im Normalfall bemerkte man das nicht, aber zu Festlichkeiten, wie Weihnachten, das wir – sehr erfreulich für Kinder – zweimal an Heiligabend feierten, einmal bei uns, dann ging es in die Mariahilfer Straße zu weiteren Geschenken.

Dort gab es eine riesige Wohnung, viel größer als unsere.

Links des Eingangs führte der Gang zu einer Art Ballsaal – so empfand ich diese Räumlichkeit wenigstens an Kind. Straßenseitig eine Front mit drei hohen Flügelfenstern, die außen Holzläden hatten, eine Art Kamin an der Stirnwand, über dem ein erschreckend ausladender Ölschinken dräute. Abgebildet war eine Sandalenheldenszene, in der wilde Recken, bepackt mit quellenden Muskeln, halb nackte, entsetzt blickende Damen – genauso ausladend wie das Gemälde selbst – von schnaubenden Rössern pflückten, um sie zu verschleppen. Viel später fand ich heraus, es war die Kopie eines Bildes von Antonio Molinari aus dem 17. Jahrhundert mit dem Titel: Der Raub der Sabinerinnen.

Nur am Heiligen Abend wurde dieser Saal geöffnet, der Lamettachristbaum ragte neben den Sabinerinnen etwas windschief und wildbewegt, eindeutig von Tante Ada geschmückt, aber ganz ohne Sicherheitsnadeln, zur Decke. Um ihn versammelte sich die Familie. Meine Tante Ada, ihre Schwester Tante Ida, ja, sie hießen wirklich Ada und Ida und sahen sich ziemlich ähnlich mit ihren ondulierten Löckchen. Daneben stand ihr Bruder, Onkel Hans, seines Zeichens evangelischer Pfarrer und sein Lebenspartner Onkel Ferry, beide sehr modern eingestellt für die damalige Zeit und einfach bezaubernd lustig und wohltuend zwischen den Merkwürdigkeiten. Komplett machte die Feierrunde Onkel Hugo, mein Bruder, unsere Eltern, die Oma mütterlicherseits, die mit uns wohnte und das Herz des Haushalts war, denn die Eltern waren Künstler und viel unterwegs.

Unter dem Tannenbaum lagen die Päckchen und wir sangen, relativ falsch, aber mehrstimmig „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Alle Strophen. In der letzten Strophe war dem Chor die Harmonie des Gesangs dann endgültig entglitten. Nicht ganz unschuldig daran war Onkel Hugo, er sang nämlich so was von falsch und laut dazu, dass er immer mehr Stimmen auf seine Seite zwang, es gab kein Entrinnen.

Danach las Onkel Hans aus dem Lukas Evangelium den Klassiker unterm Baum vor, die Weihnachtsgeschichte. Es folgte ein letzter Versuch, den Familienchor auf einen Nenner zu bringen, und wir schmetterten: „Oh du fröhliche Weihnachtszeit“. Es war überstanden und wir Kinder stürzten uns auf die Päckchen, während Tante Ada in die Küche stürzte, zu ihrem seit ungefähr vier Stunden im Ofen schmurgelnden Schweinsbraten.

Wir drückten unsere Geschenke an uns und folgten den Erwachsenen in den anderen Teil der Wohnung an die festlich gedeckte Tafel. Also was Tante Ada eben für angemessen festlich hielt. Das bedeutete ein weißes Tischtuch, nicht ganz weiß, weil alte Flecken manche Stellen zierten und Stoffservietten. Die Gläser mussten heimlich, am besten bei einem Klobesuch, auf die man sie scheinbar gedankenlos mitnahm, nachgewaschen werden.

Die Verwandtschaft trainierte vorausschauend ihre Kiefermuskeln, weil ja jeder wusste, was nun kommen würde, indem viel gelacht wurde. Onkel Hans erzählte Schnurren aus der Pfarrei, dazu ein anderes Mal.

„Sitzen alle?“ Gebrüll aus der Küche.

„Ja!“, brüllten wir zurück.

Schon hörten wir die eiligen Pumps durchs Vorzimmer klappern, Papa sprang auf und öffnete Ada die Tür. Da stand sie mit roten Bäckchen und der großen Bratkasserolle in den Händen. „Burschi, geh hol die Knödel, die Bratensoße und das Rotkraut.“

„Das kann ich doch nicht alles tragen!“

Also gingen unsere Eltern los und waren wieder zurück, ehe Hugo den Satz beendet hatte. Zufrieden steckte er einen Zipfel der Stoffserviette in den Kragen, griff in den Mund und holte seine Zähne heraus. Er legte sie neben seinen Teller auf den Tisch. Uns Kinder begeisterte das, den Papa weniger. Er sagte: „Nimm sofort das Gebiss in die Gosch’n, du Trottel!“

„So schmeckt’s aber besser“ antwortete Onkel Hugo ungerührt, auch nicht beleidigt, er kannte Gustl ja lange genug, und folgte nicht. Warum unser Vater das jedes Jahr wieder anmerkte, ist mir unklar, denn er wusste doch, dass es sinnlos war.

In der Zwischenzeit holte Tante Ada den Bratenspieß aus der Schürzentasche, ging mit der Pfanne rund um den Tisch, stach in die Fleischscheiben und ließ sie auf die Teller platschen.

Gut, sie platschten nicht wirklich, sie staubten eher. Wenn man die schwarzbraune Kruste durchgebissen hatte und zum Kern vorgedrungen war, brauchte es lange, bis es wieder möglich war, ein Wort zu sprechen, wollte man nicht die, durch das ewige Braten vertrockneten Fleischfasern durch die Gegend sprühen. Zur Befeuchtung waren die Semmelknödel dafür so durchweicht, dass man sie schlürfen konnte. Tante Ada hatte mit einem Wort für alles gesorgt. Erschöpft ließ sie sich nach der Speisenausgabe auf den Stuhl fallen. Wir kauten. Kauten und staubten. Stumm. Hier und da ein würgendes Hinunterschlucken.

Indessen sprachen die Schwestern miteinander. Oder besser gesagt, Ida, die früher Soubrette war, und deren Stimme daher operettenartig zwitscherte, erzählte den neusten Klatsch, wofür sie von Ada mit Stentorstimme – die man benötigt, um Wagner-Arien zu singen – ein „Blödsinn!“ oder „So ein Schwachsinn, wo du das wieder her hast!“ um die Ohren bekam. Wir schluckten. Und kaum hatte jemand von uns den Schweinsbraten auf seinem Teller vertilgt, warf Tante Ada ihm ein weiteres Stück vor. Also lernten wir, niemals aufzuessen, was zufolge hatte, dass sie brüllte: „Schmeckt’s dir nicht?“ Und ohne die sicherlich verlogene Antwort abzuwarten, weiter: „Also ich finde, der ist heut ganz besonders gut gelungen!“

Irgendwann war das dann ausgestanden und wir Kinder spielten noch eine Weile mit den neuen Sachen, bis die Eltern zum Aufbruch drängten.

Zum Abschiedskuss hatte Onkel Hugo die Zähne wieder eingesetzt, das war angenehm.

 

 

Einige Jahre später war es dann so weit, es fand nur mehr in unserer Wohnung ein gemeinsames Weihnachtsfest statt. Die alten Tanten und Onkel waren in der Zeit körperlich zusammengeschrumpft, aber Onkel Hugo legte sein Gebiss unverdrossen auch bei uns neben den Teller, egal, wie oft mein Papa auch „so ein Trottel“ sagte.

Der Christbaum stand aufrecht und strahlend, das Essen schmeckte, der Chorgesang war falsch wie eh und je. Ich war froh, dass wir Heiligabend nicht hin- und herfahren mussten, auch wenn mir „Der Raub der Sabinerinnen“ ein bisschen fehlte.

Alles in allem waren es immer wunderschöne Weihnachten im Kreise unserer verhaltensoriginellen, und gerade deswegen liebenswerten Familie.

 

Elsa Rieger

Facebook: https://www.facebook.com/elsa.rieger

Website: https://www.elsarieger.at/

Bücher: https://tinyurl.com/yxuqaxbr

Vita:

1950 in Wien als Kind eines Schauspielerehepaares geboren, war für Elsa Rieger schon als Vierjährige klar, dass sie ebenfalls diesen Beruf ergreifen würde. Sie saß während der Proben neben ihrem Papa im Theater der Courage, während er Regie führte und deklamierte das Gehörte, ohne zu verstehen, was sie da mit Inbrunst sagte.

»Hochbegabt, das Kind«, flüsterten die Eltern. Doch wie so oft im Leben, kam es anders.

Nach Schauspielausbildung und Buchhandelslehre war sie in der Inspizienz und Abendregie des Theaters der Courage beschäftigt, verliebte sich unsterblich, gründete eine Familie und ging einem bürgerlichen Beruf nach, dem Buchhandel. Mitunter quälte sie sich durch das Leben. Dann fand sie ein Ventil.

Sie begann wie besessen zu schreiben. Ihre Texte zeichneten sich zunächst vor allem dadurch aus, dass sie schlecht waren. Sie gab jedoch nicht auf und fand ihren Schreib- und Lebensweg.

Heute bietet sie Lektorate für Selfpublisher an und schreibt nach wie vor.

Es ist das Alltägliche, es sind die ganz normalen Merkwürdigkeiten, die Elsa Rieger faszinieren. So geht sie durch ihre Heimatstadt und staunt und schreibt ...

 

Ihr neuester Roman ist eine Familiengeschichte rund um einen Jungen, der mit sechzehn an Schizophrenie erkrankt. »Hanna und die Zauberer«. Erhältlich bei Amazon, Hugendubel, Thalia