Donnerstag, 17. Dezember 2020

Zahn um Zahn von Evelyn Sperber-Hummel

Foto von Eva Joachimsen

 

„Nun sieh dir das mal an!“

„Was denn?“ Beppo verstand nicht, warum Harras so wütend knurrte.

„Na, dieser miese Kerl da unten. Gibt dem Finchen einen Tritt."

Beppo schaute durch die Öffnung im Fußboden. "Nicht mal jetzt, wo sie tot ist, lässt dieser Kerl sie in Ruhe."

"Wenn ich könnte, wie ich wollte, dann würde ich dem mal so richtig in den Hintern beißen", knurrte Harras.

„Die Zeiten sind leider vorbei.“ Beppo seufzte.

Tapp - tapp - tapp. Leise Schritte näherten sich.

„Das wird sie schon sein.“ Harras sprang hoch und drückte mit seinen Pfoten auf die Türklinke. Es war tatsächlich Finchen, die da völlig verschüchtert stand.

„Na, dann komm man erst mal rein“, sagte Harras und gab ihr einen freundschaftlichen Nasenstüber.

Finchen tapste durch die Tür und blieb überrascht stehen. Vor ihr lag ein richtiges Paradies. Überall Kuschelecken und Futterplätze voller Leckerbissen. Große und kleine Artgenossen wedelten zur Begrüßung mit den Schwänzen. Ein offener Durchgang auf der anderen Seite des Saals gab den Blick frei auf eine bunte Wiese, auf der sich Blumen und Blätter im milden Frühlingslüftchen wiegten. „Seltsam“, sagte sie, „ich komme doch gerade aus dem Winter und hier scheint die Sonne.“

„Da staunst du, was?“ Beppo stupste Finchen an. „Ich heiße Beppo. Wir haben gerade gesehen, wie der Kerl da unten dir einen Tritt gegeben hat. War's sehr schlimm?“ 

Finchen fing leise an zu winseln. „Ach, für mich war's nicht konnte mich nie leiden, war froh, als ich meinen letzten mehr schlimm. Du weißt ja, wenn du tot bist, spürt dein Körper keine Schmerzen mehr. Aber Frauchen hat sehr gelitten. Sie tut mir so leid. Jetzt ist sie ganz allein mit diesem Widerling, der Schnaufer machte.“ Finchens Winseln ging in leises Jaulen über.

Neugierig kamen andere Tiere von draußen herein. Katzen, Meerschweinchen, Kaninchen, Wellensittiche und viele andere. Finchen sperrte erstaunt Augen und Schnauze auf. Einige der Tiere kannte sie von früher. „Hey,“ sagte der Kater Roland, „schön, dich wieder zu sehen. Wie geht's denn unserem Frauchen?“

Sofort war Finchens Wiedersehensfreude wie weggeblasen. „Unser Frauchen ist sehr traurig, genauso wie damals, als du gestorben bist.“

„Und der Grobian? Ist der immer noch da?“

„Ja.“ Finchen jaulte jämmerlich. Alle Hunde fingen an zu heulen, und auch die anderen Tiere stimmten, jedes auf seine Art, in den Jammer ein. Die Katzen maunzten, die Mäuse quiekten, Frösche quakten, Spatzen tschilpten, Pferde wieherten, Hirsche röhrten, Schafe blökten, Schlangen zischelten, Truthähne kollerten und noch viele andere Tiere drückten ihr Mitgefühl aus. Sogar ein Löwe ließ es sich nicht nehmen, mit kräftigem Gebrüll zu dem Konzert beizutragen.

Da ging die Tür auf und ein gewaltiges Wesen mit langem dichtem Bart, das in sich alle Tiere, Pflanzen und Menschen zu vereinen schien, trat ins Zimmer. „Was ist denn hier los?“, fragte es.

„Guck doch selbst“, sagte Harras und zeigte auf die Öffnung im Fußboden. Das Wesen bückte sich und schaute durch das Loch.

„Wer ist denn das?“ flüsterte Finchen Roland zu.

„Das ist der Boss hier oben, die Menschen nennen ihn Gott, aber bei uns ist er einfach der Kumpel“, antwortete der Kater. "Wirst sehen, der ist schwer in Ordnung. Der nimmt kein Blatt vors Maul."

„Das ist ja wirklich eine Sauerei.“ Kumpel richtete sich auf und machte ein grimmiges Gesicht. „Wie dieser furchtbare Mensch dein armes Frauchen peinigt, das ist grauenhaft. Komm mal her, kleines Finchen.“ Kumpel nahm die Schnauzerhündin auf den Arm und drückte sie an seine Brust. Tröstend streichelte er ihr über das Fell.

„Kann man denn da gar nichts machen?“, fragte Beppo. Bei der Vorstellung, wie er nach den Waden des zweibeinigen Ungeheuers schnappte und zubiss, lief ihm der Speichel über die Lefzen.

„Doch, da kann man etwas machen.“ Kumpel schaute unternehmungslustig in die Runde. „Wir müssten dieser menschlichen Schande mal so richtig eins auf die Schnauze geben", sagte er.

"Siehst du", flüsterte Roland Finchen zu, "er spricht sogar unsere Sprache."

"Na, wer von euch ist bereit?" Der Kumpel strich sich über den Vollbart und schaute die Tiere unternehmungslustig an.

Sofort bellten alle Hunde zustimmend.

„Und nicht nur diesem Bösewicht, es gibt noch mehr von der Sorte. Denen muss man mal einen spürbaren Denkzettel verpassen, den sie nicht so schnell vergessen.“

Am nächsten Tag schwebten Hunderte von Hunden, jeder begleitet von einem Schutzengel, auf die Erde. Dort zerstreuten sie sich in alle Richtungen, jeder kannte die  Adresse seines Einsatzortes und wusste, was zu tun war.

Finchen durfte auch mitfliegen. Sie, Harras und Beppo machten sich auf den Weg zu dem Widerling, der Finchen immer gequält und ihr sogar noch einen Tritt gegeben hatte, als sie schon tot war.

Frauchen saß da und weinte sich die Augen aus.

„Hör doch auf mit dem Geflenne, war doch bloß ein Köter. Au!“

Erschrocken schaute Frauchen hoch.

„Au!“ schrie der Mann noch einmal, „mich hat was gebissen.“ Er krempelte die Hosenbeine hoch. Tatsächlich, da waren deutliche Bissspuren in beiden Waden. „Au! Verflucht!“ schrie der Mann zum dritten Mal. Diesmal schaute er entsetzt auf seine blutenden Hände.

Beppo und Harras waren in ihrem Element. „Mit so viel Genuss habe ich in meinem ganzen Leben nicht gebissen“, knurrte Harras, der jahrelang als Polizeihund gearbeitet hatte.

Finchen war unbemerkt auf Frauchens Schoß geklettert und leckte ihr die Tränen von den Augen. 

Als die himmlische Hundemeute nach getaner Arbeit wieder im Kuschelecken-Paradies versammelt war, schaute Finchen durch die Öffnung im Fußboden. Auf der Erde läuteten die Weihnachtsglocken. Frauchen stand am Fenster und wischte sich versonnen über die Augen. Ein nachdenkliches Lächeln spielte um ihren Mund.

 





Evelyn Sperber-Hummel, geboren in Hamburg, lebt auf einem Weingut in der Pfalz. Sie hat viele Jahre als Redakteurin gearbeitet. Jetzt schreibt sie Kurz- und Langprosa, Lyrik und szenische Texte.
Leseproben und weitere Informationen gibt es auf ihrer Autorenseite.