Freitag, 11. Dezember 2020

"Familie Liliental" aus "Nepomucks Abenteuer" von Christine Erdiç

 

In Deutschland gibt es viele schöne Wälder mit hohen Tannen und grünen Wiesen. Und am Rande eines dieser schönen Wälder steht ein kleines schiefes Haus mit einem kleinen schiefen Schornstein und kleinen schiefen Butzenfenstern.

Vor dem Haus liegt der Schnee schon meterhoch, und es schneit noch immer. Aber drinnen ist es gemütlich. Großmutter werkelt in der Küche am Herd und setzt soeben das Wasser für den Tee in einem großen kupfernen Kessel auf. Mäxchen hockt auf einem Stuhl und schaut zum Fenster hinaus. Voller Ungeduld rutscht er hin und her. „Wann kommt denn endlich der Weihnachtsmann mit unseren Geschenken?“, quengelt er. „Und Mama und Papa sind auch noch nicht da!“ „Mama und Papa müssen arbeiten, das weißt du doch. Sie kommen erst später“, erkläre ich ihm wohl zum hundertsten Mal geduldig. „Und den Weihnachtsmann kannst du nicht sehen. Der kommt erst, wenn es ganz dunkel ist, mit seinem großen Schlitten. Dann klettert er aufs Dach und wirft die Geschenke durch den Kamin.“ „Haben wir deshalb heute Abend kein Feuer im Kamin?“, fragt meine Schwester Lily. „Genau. Die Geschenke würden sonst ja in den Flammen verbrennen.“ antworte ich. Max und Lily sind noch klein, gerade mal sechs Jahre alt. Da können sie solche Sachen noch nicht wissen. Aber ich gehe schon seit vier Jahren in die Schule, und bald werde ich elf. Wir Kinder wohnen bei unserer Oma, weil unsere Eltern einen Laden in der Stadt betreiben und wenig Zeit für uns haben. Aber das macht nichts, wir leben gern mit Oma in diesem komischen kleinen Häuschen. Später werde ich einmal wie sie Kräuter und Wurzeln im Wald sammeln und daraus Heiltees und Heilsalben herstellen. Das habe ich mir fest vorgenommen.

„Ob der Weihnachtsmann uns hier auch findet?“, bohrt Mäxchen weiter. „Na klar!“, meint Lily, „Unser Name steht doch an der Tür.“  Jetzt klopft es und Mäxchen bekommt vor Aufregung rote Ohren. Dann geht die Tür auf. Das ist ganz normal, denn Oma vergisst immer abzuschließen. „Macht doch nichts“, antwortet sie gelassen, wenn man sie darauf hinweist, „Uns will doch niemand was Böses.“ Und damit hat sie wohl auch Recht. Mutter und Vater betreten die kleine Wohnküche. „Wenn das so weitergeht, schneien wir noch völlig ein“, Vater klopft sich den Schnee von den Stiefeln. Ich höre nicht zu, meine Gedanken sind bei den Weihnachtsgeschenken. Auf meiner Wunschliste steht nur ein einziger Wunsch, ein in Leder gebundenes Buch. Dort hinein möchte ich einige von Omas tollen Rezepten schreiben. Mal sehen, ob der Weihnachtsmann mir so ein Buch bringen wird.

Langsam wird es dunkel da draußen. Wir versammeln uns um den runden Holztisch und machen es uns so richtig gemütlich bei Weihnachtstee und Käse- und Schinkenbroten. Plötzlich poltert es im Kamin. Jetzt hält uns Kinder nichts mehr. Wir stürzen zum Kamin und sehen gerade noch das letzte bunte Päckchen herausfallen. Die Päckchen sind mit Namen versehen. Ich schnappe mir meines und achte nicht mehr auf die anderen. Das Päckchen ist hübsch in rotes Glanzpapier gewickelt und trägt die Aufschrift Axana. Das bin ich. Hastig entferne ich das Papier und heraus kommt ein ...

„So etwas Hässliches habe ich nicht bestellt!“, unterbricht die weinerliche Stimme meiner Schwester meine Betrachtungen. Langsam wende ich meine Augen von dem schönen großen Lederbuch mit dem eingearbeiteten Jadestein ab und schaue in Lilys Kiste. Darin befinden sich ein Märchenbuch, ein kuscheliger brauner Teddybär, eine leere Tüte und...ja was ist denn das? Ein kleiner Kerl mit schwarzem Strubbelhaar reibt sich gähnend die Äuglein. „Den will ich nicht“, murrt Lily. Max kommt herbeigeeilt: „Ist der süß! Das ist ein Troll“, erklärt er stolz. Jetzt sind auch Oma und die Eltern aufmerksam geworden. „Ja, wie kommt denn der in die Kiste?“, fragt Oma erstaunt. Da quäkt eine dünne Stimme in den Raum: „Bin kein Troll, bin ein Waldkobold, damit ihrs wisst!“ Der Kleine ballt seine Händchen zu kleinen Fäusten und sieht finster in die Runde. Vater hebt ihn behutsam aus der Kiste und stellt ihn auf den Boden. Er geht mir kaum bis zum Knie und tritt von einem Fuß auf den anderen. Ich gehe neben ihm in die Hocke und reiche ihm die Hand. „Hallo, ich bin Axana und wie heißt du?“ Der kleine Kerl strahlt mich mit glänzend schwarzen Augen an und piepst mit hoher Stimme: „Ich bin Nepomuck, angenehm.“

Kurze Zeit später sitzen wir alle rund um den Küchentisch und füttern Nepomuck mit Schinkenbrothäppchen. Der sitzt auf dem Tisch vor einem großen Teller und isst und isst.

Sogar Lily hat ihre Angst verloren und somit haben wir den kleinen Kobold schnell ins Herz geschlossen. Mit einem leisen Rülpser schließt Nepomuck seine Äuglein und lässt den Kopf auf den Teller sinken. Sanfte Schnarchtöne sagen uns, dass er bereits eingeschlafen ist. Vorsichtig hebe ich ihn hoch und überlege. Da sagt Lily: „Er kann doch im Puppenbett schlafen. Bitte bitte!“ Gesagt, getan. Kurzerhand wird Nepomuck neben Lilys Puppe ins Puppenbett verfrachtet. Dort schläft er den Schlaf der Gerechten. Auch wir sind jetzt recht müde, und niemand mag sich mehr so recht mit den Weihnachtsgeschenken befassen. Und so gehen im Haus nach und nach alle Lichter aus. Nur vor der Haustür brennt einsam die kleine Laterne und leuchtet in eine weiß verschneite Märchenlandschaft hinaus.

(Leseprobe aus dem Kinderbuch „Nepomucks Abenteuer“)

 

Christine Erdiç wurde 1961 in Deutschland geboren. Sie interessierte sich von frühester Kindheit an für Literatur und Malerei. Schon damals verfasste sie oft kleine Geschichten und Gedichte, die sie jedoch nie veröffentlichte.

Nach dem Abitur war sie in unterschiedlichen Bereichen tätig und reiste viel. Seit 1986 ist sie verheiratet, hat zwei Töchter und lebt seit dem Millennium in der Türkei.

Unter anderem gab sie Sprachtraining an der Universität von Izmir, machte Übersetzungen und verfasste Berichte für die Türkische Allgemeine, eine ehemalige Zeitschrift in deutscher Sprache, und gibt private Deutschstunden.

Bücher der Autorin:

Nepomuck und Finn: Mission Umweltschutz ISBN: ISBN-13 : 978-3751997478

Ostern mit Nepomuck und Finn ISBN: 978-3750407725

Weihnachten mit Nepomuck und Finn ISBN 978-3744890144

Neue Abenteuer mit Nepomuck und Finn, ISBN: 978-3-7494-5428-0
Unheimliche Geschichten, 978-1-0933-3833-1
Endstation Anatolien, ISBN: 978-3-7528-9711-1
Nepomucks Märchen, ISBN: 978-3-7460-1926-0
Mit Nepomuck auf Weltreise, ISBN: 978-3-9611-1276-0
Geschichten aus dem Reich der Hexen, Elfen und Kobolde, ISBN: 978-3-7357-9072-9
Nepomucks Abenteuer, ISBN: 978-3-9030-5618-3
Zauberhafte Gerichte aus der Koboldküche, ISBN: 978-3-7357-9215-0
Kleine Mutmachgeschichten, ISBN: 978-3-9030-5644-2
Mystica Venezia, ISBN: 978-3-9030-5670-1
Luhg Holiday, ISBN: 978-3-7431-5262-5
Glücksschmiede: Tipps für mehr Glück und Erfolg [Kindle Edition], ASIN: B00P9XA8UU
Willkommen im Luhg Holiday [Kindle Edition], ASIN: B00SVGYD12
Auf Wiedersehen im Luhg Holiday [Kindle Edition], ASIN: B01N1PU8DP

Mehr Infos unter:

Bücher- und Koboldecke https://christineerdic.jimdo.com/

Reisetipps und Literatur https://literatur-reisetipps.blogspot.com/