Drei Tage vor Weihnachten erschien einem alten Mann im Traum ein Engel und sprach zu ihm:"Morgen werde ich dich besuchen. Halte dich bereit." Am nächsten Tag holte der Mann seinen Sonntagsanzug aus dem Schrank und kleidete sich mit großer Sorgfalt an, dann ging er in den Keller, um seine beste Flasche Wein heraufzuholen, briet zwei Tauben und kochte Nudeln und Rosenkohl dazu. Dann setzte er sich in seinen Lehnstuhl, um auf den Engel zu warten.
Nach einer Weile klingelte das Telefon. Sein Freund aus Kindertagen, der seit einiger Zeit krank war und das Haus nicht mehr verlassen konnte, wünschte ihm <Frohe Weihnachten> und begann zu erzählen, dass er im Krankenhaus war und ... "Hör zu", unterbrach ihn der alte Mann ungeduldig. "Ich bekomme gleich Besuch. Jetzt habe ich keine Zeit" und legte den Hörer auf.
Bald darauf klingelte es an der Haustür. "Das wird der Engel sein", dachte er und eilte zur Tür. Aber nur das kleine Nachbarsmädchen stand vor der Tür:"Erzählst du mir eine Geschichte, bitte! Du kannst so schön erzählen!" - "Heute habe ich keine Zeit", rief der Hausherr, "ich erwarte Besuch" und schlug dem Kind die Tür vor der Nase zu.
Ärgerlich über diese erneute Störung ließ sich der alte Mann in den Lehnstuhl fallen und seufzte. Dicke Schneeflocken wirbelten vor seinem Fenster. Langsam wurde es dunkel. <Ob der Engel erst kommt, wenn es finster ist.> Er erinnerte sich nun an die Zeit, als seine Frau noch lebte und das ganze Haus in der Vorweihnachtszeit nach ihrer köstlichen Vorweihnachtsbäckerei duftete. Da riss ihn die Türklingel aus seinen Gedanken.
Mühsam erhob er sich, steif geworden vom langen Sitzen, und öffnete die Tür einen Spalt breit. Im Schein der Hauslaterne sah er einen jungen Mann. Der Schnee fiel in dicken schweren Flocken. Irgendetwas Unförmiges kauerte im Halbdunkel am Gartenzaun. "Entschuldigen Sie bitte", sagte der junge Mann, "aber wir haben bei Ihnen noch Licht gesehen. Wir sind mit unserem Auto in einer Schneeverwehung stecken geblieben." Und hastig fuhr er weiter:"Wir sind nämlich auf dem Weg ins Krankenhaus. Meine Frau bekommt ein Kind. Es ist eilig." - Als der Besucher den mürrischen Gesichtsausdruck des alten Mannes sah, setzte er bittend hinzu:"Können Sie uns helfen?" - "Tut mir Leid", antwortete der Alte. Ich warte auf Besuch und kann jetzt nicht weg gehen. Aber hier, neben der Treppe, ist eine Schaufel, die kann ich Ihnen leihen." Sogleich schloss er die Haustür und schlurfte, müde geworden, zu seinem Lehnstuhl zurück. <Noch eine Stunde werde ich warten, es ist ja kurz vor Mitternacht.> Er legte noch drei Holzscheite in den Kamin, breitete eine Wolldecke auf seinem Lehnstuhl aus und wickelte sich darin ein. Bald schon fielen ihm die Augen zu.
In seinem Traum kam von ferne der Engel auf ihn zu, umstrahlt von einem hellen überirdisch schönen Licht, und blickte ihn traurig an:"Drei Mal wollte ich Dich besuchen und drei Mal hast du mich abgewiesen!"
Beim ersten Morgengrauen erwachte der alte Mann. Das Feuer im Kamin war längst erloschen und er fröstelte. Bevor er aufstand, um sich einen Kaffee zu kochen, dachte er über seine beiden Träume nach. "Ich glaube, ich habe die Botschaft des Engels verstanden", sagte er in die Stille des Raumes hinein. Und von diesem Tag an, begann der alte Mann, sein Haus und sein Herz für seine Mitmenschen zu öffnen.
©Ingeborg Höverkamp