Freitag, 2. Dezember 2016

Wichteln von Eva Markert

Bild von Krisi Sz.-Pöhls

Wie jedes Jahr sollte gewichtelt werden. Darauf legte die Chefin großen Wert, wegen des Betriebsklimas. Sie bereitete die Zettelchen mit den Namen der Kollegen sogar immer selbst vor.
Als die Buchhandlung am ersten Adventssamstag schloss, versammelten wir uns bei dem großen Weihnachtsbaum neben der Kasse. Niemand fehlte, außer Bettina. Heute war ihr freier Tag. Die Glückliche! Zwar hatte sie versprochen, ebenfalls zu erscheinen, aber anscheinend war ihr etwas dazwischengekommen. Na ja, egal. Dann musste sie eben den Zettel nehmen, der übrig blieb.
Ich unterdrückte ein Gähnen, als ich mir eins von den selbstgebackenen Plätzchen nahm, die die Chefin mitgebracht hatte. An dem Glühwein nippte ich vorsichtshalber nur. Ich war zum Umfallen müde nach diesem stressigen Arbeitstag. Und nachdem ich stundenlang die leise Weihnachtsmusik ertragen hatte, die aus den Lautsprechern rieselte, waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt. Den anderen ging es bestimmt ebenso, doch die Chefin bestand auf dieser kleinen vorweihnachtlichen Zeremonie, bei der sie uns immer eine frohe Weihnachtszeit wünschte. Frohe Weihnachtszeit! Für sie vielleicht. Im Advent klingelte nämlich ihre Kasse. Für uns, die wir dafür rennen mussten, war es weniger angenehm.
Zum Schluss, kurz bevor wir endlich nach Hause gehen konnten, wanderte die Dose mit den zusammengefalteten Namenszetteln herum.
Ich musste an letztes Jahr denken. Damals war Bettina erst kurz bei uns. Ich fand sie von Anfang an besonders sympathisch und wir verstanden uns auf Anhieb. Wir arbeiteten beide in der Kinderbuch-Abteilung. In unseren seltenen freien Minuten unterhielten wir uns über Gott und die Welt und verbrachten auch die eine oder andere Mittagspause, einmal sogar einen Sonntagnachmittag miteinander. Wir hätten richtig gute Freundinnen werden können. Wenn dieses Wichteln nicht gewesen wäre.
Zufällig erfuhr ich, dass Bettina den Zettel mit meinem Namen gezogen hatte. Sie selbst verriet es mir nicht. Aber eine Kollegin, die ihren Mund sowieso nie halten konnte, sah es zufällig und erzählte es mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Ich war gespannt, welches Geschenk Bettina für mich besorgen würde. Um ihr ein bisschen zu helfen, erwähnte ich mal beiläufig, dass eine spezielle Handcreme – die nicht allzu teuer war – mir besonders zusagte. Vielleicht war sie ja froh über diesen kleinen Hinweis.
Als ich bei der Weihnachtsfeier am vierten Advent das leichte, quadratische Päckchen bekam, wusste ich sofort, dass es keine Handcreme enthielt. Das Geschenk war sehr hübsch verpackt in fröhliches buntes Weihnachtspapier mit einer dicken roten Schleife, an der eine Schokoladenkugel befestigt war. Vorsichtig löste ich das Band und das Papier. Zum Vorschein kam ein Bilderrahmen mit dem altmodischen Portrait eines kleinen Mädchens. Wahrscheinlich war es ein Druck eines alten Ölgemäldes – oder was weiß ich, ich kenne mich damit nicht aus. Das Kind hatte lockige, helle Haare und trug ein langes, einfaches Kleid in einem staubigen Graublau und eine weiße Schürze. Ernst blickte es mich aus dem Bilderrahmen an, doch als ich genauer hinsah, kam es mir so vor, als läge ein leicht spöttischer Ausdruck in seinem Gesicht.
Das also war Bettinas Geschenk für mich ... Ich verzog ein wenig die Mundwinkel. Bestimmt hatte das Ding jahrelang auf ihrem Dachboden in einer Kiste mit altem Zeug gelegen. Irgendwie schäbig, das Ganze. Hauptsache, es kostete nichts. Na, viel wert schien ich ihr ja nicht zu sein. Ich schaute zu ihr hinüber und sah, dass sie mich beobachtete. Ich lächelte flüchtig und steckte das Bild in meine Handtasche. Ich würde es zu Hause in dem Schrank verstauen, in dem ich allerhand Krimskrams, Kitsch und Ramsch aufbewahrte. Oder am besten warf ich es gleich in den Müll.
Danach ergab sich keine Gelegenheit mehr zu einem Gespräch. An den letzten Tagen vor Heiligabend war einfach keine Zeit dafür. Die Kunden drängten sich durch das Geschäft und es kam mir so vor, als ob es in der Stadt kein Kind geben könnte, dass Weihnachten nicht mindestens ein Buch von uns auf seinem Gabentisch vorfinden würde.
Um ehrlich zu sein, hatte ich auch keine große Lust mehr, den Kontakt mit Bettina zu pflegen. Knauserigkeit war mir zuwider und mit einem Geizhals, das wusste ich, könnte ich nie und nimmer befreundet sein.
Bettina spürte die Missstimmung zwischen uns. Einmal fragte sie mich, ob ich mich über sie geärgert hätte. Natürlich stritt ich das ab. Ich war viel zu stolz, um zuzugeben, wie sehr mich ihr liebloses Geschenk kränkte.
Danach zog auch sie sich von mir zurück, und so gingen wir seit einem Jahr nur noch höflich-kollegial miteinander um.
Als ich gerade meine Hand in die Dose steckte, um ein Papierchen herauszunehmen, platzte Bettina herein. „Da komme ich ja gerade noch rechtzeitig“, rief sie fröhlich. „Ich habe auf dem Weihnachtsmarkt gestöbert und dabei die Zeit völlig vergessen.“
Sie stellte sich neben mich und griff ebenfalls in die Dose, entrollte den Zettel, lächelte kurz und steckte ihn ein. Mir wurde bewusst, dass ich noch gar nicht nachgesehen hatte, für wen ich dieses Jahr das Wichtelgeschenk besorgen musste. Es war die Chefin. Was sollte ich der wohl kaufen … Na ja, irgendeinen Mist würde ich schon finden.
Bettina wandte sich an einen Kollegen aus der Sachbuchabteilung. Unwillkürlich hörte ich zu. „Ich habe etwas Wunderschönes auf dem Weihnachtsmarkt entdeckt“, sagte sie. „Schau mal.“
„So was bekommt man auf dem Weihnachtsmarkt?“, fragte er erstaunt.
„Da gibt es einen Stand mit gebrauchten Büchern. Es war trotzdem nicht billig, kann ich dir sagen! Ich habe mir damit sozusagen selbst ein Weihnachtsgeschenk gemacht.“
Ich schaute dem Kollegen über die Schulter. Die Seite des Buches, die er aufgeschlagen hatte, zeigte ein altmodisches Portrait von zwei Kindern, offensichtlich Geschwistern. Der Junge trug einen Matrosenanzug, das Mädchen ein rosa Kleid mit Rüschen.
„Lasst mal sehen.“ Ich nahm das Buch an mich. „Kinderportraits im Wandel der Zeit“, lautete der Titel. Verwundert blickte ich Bettina an.
„Ich liebe Bilder von Kindern“, erzählte sie begeistert. „Für mich gibt es nichts Schöneres. Ich habe schon eine ziemlich große Sammlung von Fotografien, Postkarten, Lithografien und Drucken.“
„Was … findest du … daran … so toll?“, stotterte ich.
„Zum Beispiel hier.“ Bettina schlug eine Seite am Anfang des Buches auf. „Dieses Bild ist ein Ausschnitt aus einem Gemälde, das im Mittelalter entstanden ist. Damals wurden Kinder wie Miniatur-Erwachsene dargestellt. Und doch ...“ Sie schwieg einen Moment. „Und doch kann ich das Kind in diesem Gesicht erahnen. Ich lese darin Vertrauen, Unschuld, Verletzlichkeit, Hoffnung und Neugier auf das Leben … Den Zauber des Anfangs. Das finde ich so großartig an Kinderbildern.“
„Ach, so ist das“, stammelte ich.
„Solche Portraits faszinieren mich“, setzte sie lebhaft hinzu. „Die kann ich mir stundenlang anschauen.“
„Ah ja“, kam es aus meinem Mund.
Bettina steckte das Buch in ihren Einkaufskorb. „Ich kann es kaum noch erwarten, mir die Bilder an Heiligabend anzuschauen.“
Danach unterhielt sie sich mit der Chefin. Auf einmal war ich gar nicht mehr müde. Ich trank meinen Glühwein aus und aß noch ein Plätzchen.
Die Vorweihnachtsfeier neigte sich ihrem Ende zu, die Ersten brachen bereits auf.
Bettina verabschiedete sich auch gerade. Spontan ging ich zu ihr hin. „Sollen wir uns im Café gegenüber noch einen Pharisäer gönnen?“, schlug ich vor.
„Nee, du. Ich hab keine Zeit. Vielleicht ein anderes Mal.“
In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber für einen Moment glaubte ich, in ihrem Gesicht die Züge eines Kindes zu erkennen – eines kleinen, verletzten Mädchens.
Dann war sie fort. Und ich wusste: Ein anderes Mal würde es nicht geben.
 © Eva Markert

Eva Markert war vor ihrer Pensionierung Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch, und sie besitzt ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache. Außerdem ist sie staatlich geprüfte Übersetzerin. In ihrer Freizeit arbeitete sie viele Jahre als Lektorin und Korrektorin in einem kleinen Verlag mit.
Eva Markert schreibt Kinder- und Jugendbücher, Romane und Kurzgeschichten. Die meisten Texte veröffentlichte sie als Indie-Autorin. Viele davon wurden auch übersetzt. Ein Teil ihrer Kurzgeschichten ist in Anthologien enthalten. Zwei Weihnachtsbücher für Kinder erschienen in einem kleinen Verlag.
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Krisi Sz.-Pöhls lebt recht zurückgezogen in Oppenheim am Rhein.
Malen gehört seit ihrer Kindheit zu ihren Hobbys. Mittels Fortbildungen ist die Autodidaktin Künstlerin geworden.
Mehr von ihr auf ihrer Homepage www.salidaswelt.com
oder bei  www.zazzle.de/mbr/238764950947258943