Dienstag, 20. Dezember 2016

Freud und Leid in der Weihnachtszeit von Heidi Dahlsen

Foto von Eva Joachimsen

Für mich war es ein Schock, als mein Papa freudestrahlend verkündete: „Hurra, ich habe einen neuen Job.“ Er klatschte in die Hände. „Am 1. Dezember geht es los. Ein schönes Häuschen auf dem Land habe ich auch schon gefunden. Anna-Lena, stell dir nur vor, dann wohnen wir auf dem Land, haben einen großen Garten und …“
„Stopp!“, rief ich wütend aus. „Papa, das ist nicht dein Ernst. Dann muss ich die Schule wechseln.“
„Ja, aber du bist eine gute Schülerin, ein wunderbares Mädchen und wirst sicher schnell Freunde finden.“ Er kam auf mich zu, hob mich in die Luft und wirbelte mich herum.
„Papa, lass das! Ich bin fünfzehn und kein Baby mehr.“
„Komm, Anna-Lena, sei kein Spielverderber. Du weißt doch, wie gerne ich wieder als Architekt arbeiten würde.“
Mir kamen die Tränen. Mama nahm mich tröstend in die Arme. „Warte doch erst mal ab und schau dir die neue Schule an und die Mitschüler aus deiner Klasse.“
„Ich will aber aus der Stadt nicht weg. Simon sagt, dass die Landeier in unserem Alter alle zurückgeblieben sind.“
„Was weiß der schon? Hat er schon mal ländlich gewohnt?“, fragte Mama.
„Er musste bisher immer die Ferien bei seinen Großeltern in der Nähe eines Kuhstalles im miefenden Kleinkleckersdorf verbringen und hat die Kinder dort alle aufwachsen sehen. So richtige Freunde hat er nie gefunden.“
„Wenn er mit solchen Vorurteilen rangegangen ist, dann ist doch klar, dass die Einheimischen einen Bogen um ihn gemacht haben.“
Ich zuckte mit den Schultern, rief Simon an und klagte ihm mein Leid.

Nach einiger Zeit kam Papa in mein Zimmer und setzte sich zu mir aufs Bett. In der Hand hatte er das Tablet. „Anna-Lena, schau dir doch wenigstens mal unser neues Haus an. Du darfst dir auch ein Zimmer aussuchen. Wenn das nichts ist?“
Genervt warf ich einen Blick auf den Bildschirm. Papa ließ sich davon nicht beirren und die Fotos an meinem Auge vorbeifliegen.
Mein Herz machte auf einmal einen Hüpfer. „Stopp!“ Mein Finger strich zurück. Ich setzte mich auf. „Oh, toll. Wow! Ist das wirklich wahr?“
Papa strahlte über das ganze Gesicht und nickte.
„Mama, komm mal bitte“, rief ich aufgeregt.
„Was ist denn?“ Sie setzte sich zu uns.
„Schau mal, ein Pool im Keller und hier im Dachgeschoss das große Zimmer.“
Mama grinste. „Ja, das hätte ich gern als Schlafzimmer, auch weil dieses schöne Bad“, sie blendete das nächsten Bild ein, „gleich nebenan liegt.“
„Papa hat gesagt, ich kann mir ein Zimmer aussuchen. Also, ich nehme das gesamte Dachgeschoss. Dafür dürft ihr euch unten ausbreiten.“
Papa seufzte. „Ich wusste es, es wird dir gefallen.“ Er drückte mir einen dicken Schmatz auf die Wange.
„Igitt, Papa. Ich bin …“
„ … fünfzehn. Ich weiß. Abgemacht ...“ Er hielt mir seine Hand hin, in die ich nun nur zu gern einschlug.
Mama schaute mich an. „Und wegen der neuen Freunde …“
„ … ich weiß. Keine Vorurteile.“

Ende November war unser Umzug gemeistert. Nachdem ich mein neues Zimmer eingerichtet und alle Sachen verstaut hatte, wollte ich mich im Wohngebiet etwas umschauen. Ich war neugierig, ob Mädchen in meinem Alter in der Nähe wohnen.
Am Spielplatz sah ich Jugendliche in meinem Alter auf einer Bank sitzen und ging erfreut zu ihnen.
„Hallo“, sagte ich zur Begrüßung. „Ich bin Anna-Lena und wohne seit heute hier.“
„Aha“, machte ein Mädchen, das aussah, als wäre es einem Modemagazin entsprungen. Sie musterte mich von oben bis unten und fragte gelangweilt: „Welche Schule? Welche Klasse?“
„Realschule, 7. Klasse“, antwortete ich.
„Oh, eine Blödine“, rief sie belustigt aus. „Ich verkehre nur mit Gymnasiasten. Und ein Tipp so ganz nebenbei … deinen Look solltest du unbedingt etwas ändern. So kann man doch nicht rumlaufen.“ Sie wandte sich den anderen zu: „Kommt, wir gehen. Diese Gesellschaft müssen wir uns nicht antun.“
Wie Schafe dem Leithammel trotteten alle anderen kichernd hinter ihr her.
Traurig trat ich meinen Rückweg an und verließ bis zum Abendessen mein Zimmer nicht mehr.

Am Montagmorgen setzte mich Mama vor der neuen Schule ab. Eigentlich wollte sie mich bis zum Klassenzimmer begleiten, aber das lehnte ich ab. Was sollten denn die anderen von mir denken? Dass ich ein Kleinkind bin?! Mit flauem Gefühl im Magen ging ich in das Klassenzimmer.
Der Lehrer stellte mich vor und betonte sogleich, dass ich sehr gute Noten habe und meine Mitschüler sich ein Beispiel an mir nehmen sollten. Und wenn ich mich weiterhin anstrengen würde, könnte ich sogar zum Gymnasium wechseln.
„Eine Streberin hat uns gerade noch gefehlt“, sagte ein Mädchen und alle lachten.
Das war‘s! Schlimmer hätte der Neuanfang nicht laufen können. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben, sodass ich die Pausen allein auf dem Schulhof verbrachte. Die Heimfahrt im Bus wurde zum Spießrutenlauf, denn alle flüsterten, wenn ich in ihre Nähe kam.
In der Schule galt ich als Streberin und bei den Jugendlichen im Wohngebiet als Blödine.
Alle urteilten über mich, obwohl sie mich gar nicht kannten. Sie gaben mir nicht mal eine Chance. Von Vorurteilen hatten die scheinbar alle noch nichts gehört. Ich fühlte mich sehr einsam. Abends konnte ich ewig nicht einschlafen oder träumte so schlecht, dass ich schweißgebadet erwachte.
Zum Schulbus lief ich ganz langsam, um den Hänseleien bereits am frühen Morgen aus dem Weg zu gehen. So passierte es immer öfter, dass ich den Bus verpasste. Nachdem ich erfolglos versucht hatte, mich einzuleben und neue Freunde zu finden, fasste ich den Entschluss, nicht mehr in die Schule zu gehen.
Es dauerte jedoch gar nicht lange, bis meine Eltern davon erfuhren. Mein Papa rief umgehend eine Familienkonferenz ein und zu dritt beratschlagten wir, was mir helfen würde, mich wohler zu fühlen.
„Wenn ihr es erlaubt, hätte ich gern ein Haustier“, sagte ich. „Dem ist es egal, was ich für Klamotten anhabe oder ob ich mich bemühe, gute Schulnoten zu bekommen.“
„Eine gute Idee“, meinte Papa. „Hast du an ein bestimmtes Tier gedacht?“
„Ich hätte auch gern ein Haustier“, meldete sich Mama zu Wort. „Was haltet ihr davon, wenn wir ein vierbeiniges Familienmitglied aufnehmen, das uns bei der Fitness unterstützt, mit uns kuschelt und zusätzlich noch unser Haus bewacht?“
Ich bekam große Augen und konnte es kaum fassen. Eigentlich hatte ich mir wenigstens ein Kätzchen, Häschen oder Meerschweinchen erhofft, denn bisher durfte ich kein Tier haben, weil es sich in der kleinen Stadtwohnung nicht wohlgefühlt hätte. Mein Herz klopfte wie wild vor Freude. „Mama, meinst du einen Hund? Das wäre so toll.“
In Gedanken sah ich mich schon im Garten mit einem Welpen spielen.
Papa stand auf und ging in sein Arbeitszimmer.
Als er kurz darauf zurückkam, legte er ein paar Bücher auf den Tisch.
„Eigentlich wollte ich mit meinem Weihnachtswunsch noch etwas warten“, sagte er grinsend. „Aber wenn nun schon mal die Sprache darauf kam, dann schaut mal hier.“
Wir blätterten in dem Buch mit den Hunderassen und wurden uns schnell einig. Ein kleiner Wuschel sollte es werden. Papa startete unterdessen den Computer und suchte nach Züchtern. Als er den Bildschirm zu uns drehte, staunten wir nicht schlecht.
„Du musst gleich wieder übertreiben“, sagte Mama lachend. „Wir hatten uns auf einen kleinen wuscheligen Hund geeinigt.“
„Ach“, sagte Papa und winkte ab, „der hier ist am Anfang auch ganz klein.“
Wir schrieben eine e-Mail an den Züchter und warteten ungeduldig auf die Antwort. In der Zwischenzeit besorgten wir Körbchen, Leine, Halsband und Futternäpfe, eben alles, was ein Welpe so braucht. Papas Wunsch stimmten wir ohne zu zögern zu und kauften deshalb gleich alles eine Nummer größer.
Nach ein paar Tagen zog Toby, ein Bernersennenhund, bei uns ein. Seinen Namen hat Mama ausgesucht. Als sie ihn sah, rief sie spontan: „Der sieht ja so zerzauselt aus, als hätte er gerade getobt.“

Am darauffolgenden Samstag machten wir einen Familienausflug zum Hundeplatz, um am Welpenspiel teilzunehmen. Nachdem die Ausbildung bereits begonnen hatte, kamen zwei Cavalier-King-Charles-Welpen dazu. Da ich meine Aufmerksamkeit auf die süßen Welpen gelenkt hatte, bemerkte ich gar nicht, dass die Zwillinge Marlon und Maja aus meiner Klasse das dazugehörige Herrchen bzw. Frauchen waren. Sie beäugten mich misstrauisch und ich versuchte sie zu ignorieren und konzentrierte mich auf Toby. Die Trainerin gab uns Hinweise zur Erziehung und wie wir uns verhalten sollen, wenn wir unterwegs auf andere Hunde treffen.
Danach begann die Spielzeit. Alle Welpen stürmten los. Die Cavaliere schienen an Toby einen Narren gefressen zu haben, denn sie wichen nicht von seiner Seite. Den Zwillingen war das gar nicht recht. Sie riefen ständig nach ihren Hunden und versuchten sogar, sie mit Gewalt von Toby wegzuzerren.
„Susi und Strolch, kommt!“, rief Maja und Marlon ergänzte: „Mit dem Köter spielt ihr nicht!“
Toby konnte das nicht verstehen, hopste hinter ihnen her und versuchte durch lautes Bellen seine beiden neuen Freunde zum Spiel aufzufordern.
„Verschwinde!“, sagte Marlon grob zu Toby.
Als die Trainerin das mitbekam, forderte sie ihn auf, dies nicht zu tun, denn die Hunde sollen sich kennenlernen und gute Freunde werden.

Mehrmals täglich ging ich mit Toby spazieren. Er war ja so süß und brachte mich immer wieder zum Lachen. Jeder Grashalm schien für ihn interessant zu sein, denn er schnüffelte ausgiebig daran. Am Feldweg leinte ich ihn ab und warf ein Stöckchen. Unbeholfen tapste er hinterher. Die ersten Schneeflocken sorgten für Erstaunen und auch die zugefrorenen Wasserlachen am Feldrand erweckten seine Neugier.
Auf einmal kamen Marlon und Maja schnurstracks auf uns zu und stutzten, als sie mich erkannten. Noch bevor sie jedoch die Richtung wechseln konnten, bemerkten Susi und Strolch Toby, und es gab für sie kein Halten mehr. Sie rissen sich los und stürmten auf uns zu. Ich bückte mich zu den Winzlingen und knuddelte sie durch.
Unterdessen waren auch Marlon und Maja angekommen.
„Hallo“, begrüßte ich sie freundlich.
Bevor sie etwas erwidern konnten, sprang Toby unbeholfen über Strolch und landete mitten in einer riesigen Pfütze. Die dünne Eisschicht brach und das Wasser darunter platschte in alle Richtungen. Ich musste herzhaft lachen und die Zwillinge stimmten sogar ein. Toby schüttelte sich kurz und schon ging das rasante Spiel weiter.
Marlon lockte sein Hündchen: „Strolch, komm zu mir“, und zeigte ihm sogar einen Hundekeks.
Strolch hopste gerade um Toby herum und dachte gar nicht daran, auf sein Herrchen zu hören. Als Toby das Leckerli sah, bekam er große Augen, sprintete auf Marlon zu und schnappte sich den Leckerbissen. Danach setzte er sich artig hin, als wollte er sich bedanken.
„Toby, gib Pfötchen“, sagte ich.
Gehorsam streckte er diese Marlon entgegen.
„Oh, cool“, entfuhr es ihm. „Kann der noch mehr?“
„Klar“, sagte ich. „Schau her.“ Ich schnipste mit dem Finger, sodass Toby auf mich aufmerksam wurde und gab ihm das Kommando: „Toby, mach Baby.“
Daraufhin schmiss er sich auf den Rücken und strampelte mit allen vier Pfoten in der Luft.
„Das ist ja klasse“, sagte Marlon begeistert. „Kannst du sowas Strolch auch beibringen?“
„Ich kann dir ein Buch über Hundeerziehung borgen“, bot ich ihm an.
„Nee, ich lese nicht gern“, sagte Marlon.
Auf einmal sagte Maja zu mir: „Es tut mir leid, dass ich dich in der Schule so blöd angemacht habe. Du kannst dich gern neben mich setzen.“
Als Marlon das hörte, rief er höhnisch: „Du willst doch bloß von der abschreiben.“
„Nein“, erwiderte Maja, „abschreiben will ich nicht von dir. Wenn du mir bei den Hausaufgaben hilfst, das würde schon reichen.“ Und zu ihrem Bruder gewandt, ergänzte sie: „Marlon würde das auch gut tun. Er ist nämlich versetzungsgefährdet.“
„Okay, das mache ich“, versprach ich, „und unsere Welpen können wir ja gemeinsam erziehen und ihnen Kunststücke beibringen.“
Marlon nickte begeistert und fragte mir gleich ein Loch in den Bauch, was er tun muss, damit Strolch besser auf ihn hört.
Maja schaute auf ihre Uhr. „Oh, wir müssen jetzt gehen. Meine Oma ist da. Wir wollen Plätzchen backen und anschließend noch für unser familiäres Weihnachtskonzert üben.“
Ich sah erstaunt auf. „Ihr habt es gut. Ich sehe meine Großeltern kaum.“
„Dann komm doch mit“, bot Marlon mir an. „Unsere Oma ist total cool und freut sich über jede Hilfe. Und ich würde in der Zwischenzeit gut auf Toby aufpassen, versprochen.“
„Ich weiß nicht … ich kann doch nicht einfach …“, sagte ich zweifelnd.
Maja nickte. „Doch, du kannst.“ Sie stupste mich an und lächelte. „Und morgen können wir zusammen zum Weihnachtsmarkt gehen, wenn du möchtest.“
„Gerne“, antwortete ich und war sehr erleichtert, dass die beiden endlich freundlich zu mir waren. „Danke.“
„Wir werden in der Schule jetzt auch nett zu dir sein“, sagte Marlon. „Dann werden dich auch die anderen akzeptieren.“
„Das wäre toll.“
Ich freute mich nun auch auf Weihnachten und ein bisschen auf die Schule.

©Heidi Dahlsen


Kurzvita: Heidi Dahlsen ist verheiratet, hat zwei Kinder und eine Enkelin. Sie schreibt nicht einfach nur Bücher, sondern füllt diese mit Lebensgeschichten. Für sie ist das Schreiben eine Form des Verarbeitens ihrer Erlebnisse. Sie möchte aufwecken und wachrütteln, die Menschen sensibilisieren und mit Vorurteilen gegenüber psychischen Erkrankungen aufräumen. Sie wünscht sich, dass von diesen Krankheiten betroffene Menschen von der Gesellschaft toleriert, akzeptiert und vor allem in die Gesellschaft integriert werden. Bei allen in ihre Bücher gepackten Emotionen, Informationen und Abrechnungen gelingt es ihr noch, den Leser zu unterhalten.
Homepage: www.autorin-heidi-dahlsen.jimdo.com
Autoren-Website: www.autorin-heidi-dahlsen.jimdo.com