Samstag, 17. Dezember 2016

Das Mädchen mit dem Feuerzeug Sabine Ludwigs

Foto von Eva Joachimsen

Am Heiligabend hingen bleierne Wolken am Himmel. Die Luft war eisig, und schwere, weiße Flocken fielen ununterbrochen zur Erde. Schnell brach die Dunkelheit herein, und man sah nur noch vereinzelte dick vermummte Menschen durch die Straßen hasten.
Die Holzbuden des Weihnachtsmarktes waren bereits abgebaut. Alle Geschäfte hatten geschlossen und trotz der erleuchteten Schaufenster wirkte der Marktplatz düster. Flüsternd legte sich der Schnee auf die Stadt und deckte alles zu.
„Wie ein Leichentuch“, dachte das Mädchen. „Ein großes, entsetzlich kaltes Leichentuch.“
In ihrem Jäckchen, den Jeans und Sneakers fror sie erbärmlich. Ihre Zähne schlugen mit leisem Klappern aufeinander. Die Füße waren so eisig, dass sie ihre Zehen nicht mehr spüren konnte, und die Hände waren blau vor Kälte. Sie blies einige Male hinein und rieb die Handflächen aneinander, um sie ein wenig zu wärmen.
Ihre Nase lief. Ungeduldig wischte sie den Schleim mit dem Ärmel fort und versuchte vergeblich, die aufsteigenden Tränen zurückzuzwinkern. Sie liefen aus den Augenwinkeln und vermischten sich mit den schmelzenden Schneekristallen auf ihrem Gesicht.
„Scheiße!“, flüsterte das Mädchen. „Verdammte Scheiße.“
Ein Zittern überlief ihren Körper. Sie biss sich auf die Lippen, die taub vor Kälte waren, und zog die Flasche Baccardi, die sie aus einem Supermarkt hatte mitgehen lassen, unter der Jacke hervor. Fast leer. Sie nahm einen Schluck, und schob sie wieder zurück. Das harte Glas fühlte sich irgendwie tröstlich an.
Ziellos irrte sie durch die Straßen zwischen den Wohnblocks. Ein Mann kam ihr entgegen. „Entschuldigung“, sprach sie ihn an. „Haste etwas Kleingeld übrig? Oder `ne Kippe?“
Er schaute nicht einmal auf, so als existierte sie gar nicht. „Frohe Weihnachten!“, grölte sie ihm hinterher, doch er drehte sich nicht um.
Resigniert fuhr sie sich das feuchte, dunkle Haar. Den ganzen Tag über hatte sie Passanten vergeblich um ein paar Cents angebettelt. „Und jetzt hocken sie daheim“, dachte sie. „All die Papis mit den Mamis. Im Warmen. Unterm Weihnachtsbaum. Mit ihren lieben Kleinen, einem ganzen Berg Geschenken und `ner fetten Weihnachtsgans.“
Ihr Magen knurrte und zog sich zu einem pochenden Klumpen zusammen. Deprimiert schleppte sie sich weiter, blind für den Lichterglanz hinter den Fenstern, taub für die Weihnachtslieder, die gedämpft aus den Häusern klangen.
Etwas in ihrem Inneren schrie. Es schrie nach Essen, Wärme, nach Licht, nach ... nach ... Jedenfalls schrie es, bis es irgendwann in ein erbärmliches Wimmern überging.
Jeder Schritt tat weh, sie konnte kaum noch laufen. Sie schlug den Kragen hoch, schob ihre Hände in die Taschen und spielte mit dem billigen Plastikfeuerzeug herum.
In dem Winkel zwischen einem Kiosk und einer mit Graffitis beschmierten Tiefgarage, in dem es trotz der Schneedecke nach Urin stank, hockte sie sich schließlich hin. Erschöpft lehnte sie den Kopf gegen die Mauer und zog die Beine an.
Eine alte Frau ging mit einem Dackel vorbei.
„He!“, rief das Mädchen. „Warte ...“
Der Hund kläffte. Da, wo er sein Geschäft erledigt hatte, dampfte es. Die Alte zerrte an seiner Leine, und schlurfte davon.
Schnee rieselte lautlos vom Himmel. Die einzigen Geräusche waren der Atem des Mädchens, das Scharren, wenn sie die Flasche aufschraubte, und das Gluckern, wenn sie trank.
In der Ferne läuteten Glocken. „Christmette“, dachte sie und beobachtete, wie Menschen zur Kirche gingen. Vorbei an der Ecke zwischen dem Kiosk und der Garage, vorbei an ihr, mit abgewandten Blicken. Ihr Lachen und Stimmgewirr verklang. Es wurde wieder still.
Das Mädchen trank den Rest Baccardi, und zog das Feuerzeug hervor. Es ratschte, als sie an dem Rädchen drehte. Orangerote Funken sprühten, dann erstrahlte eine gelbe Flamme und tauchte alles in eine wundersame Helligkeit.
„Was für ein eigenartiges Licht!“, sinnierte das Mädchen. „So hell und warm. Man könnte beinahe denken, dass ich vor einem Kamin sitze.“
Sie hörte förmlich das Prasseln lodernder Flammen. Die brennenden Scheite verströmten ein rauchiges Aroma und ab und zu knackte das Holz laut in der Glut. Das Mädchen streckte ihre Füße der wohltuenden Hitze entgegen. „Gleich wird jemand kommen und fragen, ob ich heißen Kakao und Zimtsterne möchte“, dachte sie und lächelte.
Da blies der Wind die kleine Flamme aus.
Zurück blieben Frost und eine Finsternis, die sie blendete.
„Da ist nichts“, flüsterte das Mädchen. „Nichts ... gar nichts.“
Der Schnee unter ihr hatte die letzten trockenen Fasern der Hose durchnässt. Doch sie merkte es nicht, blieb einfach sitzen und machte das Feuerzeug wieder an.
Das Flämmchen flackerte und spendete ein lebendiges, schimmerndes Licht. Da, wo der Schein die Kioskmauer berührte, verschwamm das Grau, schmolz dahin, tropfte zu Boden wie schmutziges Wasser und die Wand wurde glasklar.
„Das gibt `s doch nicht!“ entfuhr es dem Mädchen. Sie schaute in ein Esszimmer. In einer Ecke tickte eine Standuhr. Der Tisch war gedeckt und auf dem Adventsgesteck in der Mitte brannten vier rote Kerzen. Da stand eine große Schüssel Kartoffelsalat mit goldgelber Mayonnaise  und eine Schale Mostrich, Bockwürste dampften auf einer Platte. Alles verströmte solch einen appetitlichen Geruch, dass dem Mädchen das Wasser im Mund zusammenlief und sie ohne nachzudenken danach griff.
In diesem Augenblick fiel ihr das Feuerzeug aus den steifen Fingern und verlosch.
„Nein!“, schrie das Mädchen. „Nein!“ Ihre gefühllosen Hände wühlten im Schnee, tasteten herum, durchpflügten ihn und umschlossen endlich das Feuerzeug.
Sie versuchte, es zu entzünden. Einmal ... zweimal und ein drittes Mal, doch nichts passierte. „Komm schon ... komm schon ...“, stammelte sie. Endlich flammte es auf - und beleuchtete einen Weihnachtsbaum. Wachskerzen waren an den Zweigen befestigt, die goldenen Flämmchen tanzten und brachten die Kugeln in den dichten Tannenzweigen zum Glänzen. Fünkchen glommen, schwirrten wie Glühwürmchen umher und stoben davon.
Eines blieb zurück, dehnte sich aus und formte sich zu einem großen Stern. Sein Strahlen hüllte das Mädchen ein wie ein schützender Mantel. Plötzlich erinnerte sie sich daran, was ihre Großmutter ihr einmal erzählt hatte: „Jeder von uns hat einen Stern, und wenn ein Mensch stirb, fällt dieser Stern zur Erde und trägt die Seele in den Himmel hinauf.“
Einmal, ganz kurz, wurde alles schwarz. Dann konnte das Mädchen die Welt von oben sehen.
Sie lachte. Sie lachte und lachte und konnte überhaupt nicht mehr aufhören. Sie hatte keinen Hunger mehr und fror auch nicht. Sie war nicht länger traurig oder ängstlich.
Ganz tief unter sich sah sie ein Mädchen in einem Winkel an eine Hauswand gelehnt sitzen. Sie war beinahe noch ein Kind, doch je höher der Stern aufstieg, desto kleiner wurde sie, schwand dahin, schrumpfte zu einem winzigen Punkt, der schon bald nicht mehr zu sehen war.
Früh am nächsten Morgen benachrichtigte der Kioskbesitzer die Polizei: „Da liegt `n Mädchen in der Gasse. Tot ... Wahrscheinlich `ne Schnapsleiche.“
Als die Beamten mit einer Mitarbeiterin des Jugendamtes eintrafen, sahen sie den Leichnam des Mädchens starr an der Mauer lehnen.
„Das ... das ist Céline“, murmelte die Sachbearbeiterin. „Céline Reuter.“ Sie versuchte den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken.
Der Schnee begann das Mädchen zuzudecken. Ein großes, entsetzlich kaltes Leichentuch. Ihr Gesicht war bleich, beinahe durchscheinend, und die Augen waren unverwandt auf die Kioskwand gerichtet. Eine zarte Hand mit violett verfärbten Fingernägeln umklammerte ein Feuerzeug, mit dem sie sich wohl hatte wärmen wollen. Das Merkwürdigste aber war, dass ihr Mund zu einem Lächeln verzogen war. Beinahe so, als hätte sie etwas ganz und gar Wunderbares gesehen.
Nach dem Märchen „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ von Hans-Christian Andersen.
© Sabine Ludwigs
 Die Autorin Sabine Ludwigs (www.sabine-ludwigs.de) war für einen Kleinverlag als Lektorin und Pressesprecherin tätig. Zur Schriftstellerei fand sie 2004. Bis etwa 2010 verfasste sie ausschließlich Kurzprosa. Es kam zu zahlreichen Publikationen in Anthologien bei diversen Verlagen und Zeitungen. Ihre Arbeiten sind in Print- und Hörmedien sowie als E-Book publiziert. Ein Teil ist Unterrichtsmaterial für das Fach Religion/Ethik an weiterführenden Schulen, wie auch an Grundschulen (Leseförderung). Inzwischen veröffentlicht die Autorin vorwiegend Unterhaltungsromane.
2011 erfolgte ihre erste Einzelveröffentlichung, eine Kurzgeschichtensammlung ihrer bis dahin publizierten Krimis und Thriller (Die Totmacher). 2012 erschien ihr Debütroman „Der Sommer mit dem Erdbeermädchen“ sowie in den drei Folgejahren „Meine Seele weiß von dir“, „Acht Tage bis Ewigkeit“, „Winterspaß und Weihnachtszauber und „Stirb! Rotköpfchen“. Sabine Ludwigs wurde mit dem Friedens-Literaturpreis des Berliner Kulturrings und mit dem Literaturpreis Gedichte & Balladen der Ideale Stiftung ausgezeichnet.