Donnerstag, 22. Dezember 2016

Die verzauberten Schlittschuhe, von Marianne Schaefer


Zur Weihnachtszeit, in einer kleinen Stadt, gar nicht weit von hier, wartete ein kleines Mädchen aufs Christkind. Es hieß Marie und kam aus einer sehr, sehr armen Familie. Gerade einmal acht Jahre alt, wünschte Marie sich nichts sehnlicher als ein paar Schlittschuhe. Doch jedes Jahr ging das Fest des Schenkens vorüber und ihr größter Wunsch war nicht  in Erfüllung gegangen.

Als in diesem Jahr die ersten Flocken herabwirbelten, sah Marie bittend zum Himmel empor. Würde das Christkind ihr endlich den sehnlichsten Wunsch erfüllen und ihr Schlittschuhe bringen? Traurig dachte sie an das letzte Weihnachtsfest zurück. Seit der Vater arbeitslos war, ging es der Familie nicht so gut. Viele kleine Wünsche mussten sie sich versagen, weil das Geld nicht reichte.
Als Marie am Heiligen Abend dann eine Puppe unter dem liebevoll geschmückten Baum sah, gab es ihr einen Stich ins Herz. Die Puppe war schön, aber eben nicht das, was sie sich erhofft hatte. Um die Eltern nicht zu betrüben, drückte sie das Püppchen ans Herz und lächelte mit Tränen in den Augen.
Im Januar fror der See im Stadtwald zu. Alt und Jung tummelte sich auf dem Eis und Marie sah traurig zu. Tag für Tag stand sie nach der Schule mit großen, sehnsuchtsvollen Augen an der Eisfläche. Stundenlang harrte sie aus, obwohl ihr Hände und Füße von der eisigen Kälte schmerzten.
In Gedanken sah sie sich als berühmte Eisprinzessin über die Eisfläche tanzen, vom Publikum beklatscht.

Auch heute konnte Marie es nicht erwarten, endlich wieder in den Stadtwald zu kommen. Diesmal war die Eisfläche leer, bis auf ein kleines Mädchen, das ungefähr in ihrem Alter war. Es trug eine weiße Pelzmütze mit zwei lustigen Bommeln, die ihr beim Gleiten auf dem Eis hinterher wehten. Auch der wunderschöne, rote Mantel mit Pelzbesatz bewegte sich im Wind. Aber das Allerschönste waren die Schlittschuhe. Das fremde Mädchen tanzte, nein, es schwebte wie eine Schneeflocke und in Gedanken tanzte Marie jeden Schritt mit. So anmutig hatte sie noch nie jemanden dahingleiten sehen!
Marie schaute an sich herunter. Wie erbärmlich sah sie doch aus in ihrem schäbigen Mantel, mit der verfilzten Mütze auf dem Kopf. Als sie wieder aufsah, war das Mädchen verschwunden, als habe es sich in Luft aufgelöst.
„Schade“, dachte Marie. „Ich hätte noch stundenlang zuschauen können.“
Als sie den Stadtwald verlassen wollte, stolperte sie über ein Hindernis. Es waren die Schlittschuhe, die das fremde Kind sicher vergessen hatte! Marie überlegte nicht lange. Mit fast feierlichem Gefühl legte sie die Schlittschuhe an. Sie passten wie für sie gemacht. Plötzlich geschah etwas Seltsames: Ihre armselige Bekleidung verwandelte sich in ein schneeweißes, funkelndes Eislaufkostüm und in ihren dunkelbraunen Haaren glitzerte es, als hätte der Himmel sie mit Sternenstaub überschüttet.
Im Nu stand Marie auf dem Eis und begann zu laufen. Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl, so dahinzugleiten.
„Ein Traum, ein Märchen!“, jubelte sie innerlich. „Bin ich es, die mit den Schlittschuhen tanzt, oder tanzen sie mit mir?“, fragte sie sich und befürchtete:  „Gleich werde ich erwachen.“ Doch vorerst glitt sie auf einem Fuß dahin, drehte Pirouetten, machte Luftsprünge und wurde immer mutiger. Sie vergaß Zeit und Raum.
„Ich bin eine Eisprinzessin“, jauchzte sie und machte einen Sprung. Da hörte sie das Krachen und Klirren des Eises unter sich und sank durch ein Loch in das eiskalte Wasser. Sie glitt tiefer und tiefer hinab, wunderte sich, dass sie nicht nass wurde, nicht fror oder ertrank. Schließlich landete sie mit ihren Schlittschuhen auf einer spiegelglatten Eisfläche, inmitten eines hell erleuchteten Saales.
„Schon wieder eine Traumtänzerin!“, hörte sie eine Stimme. „Wie heißt du, Kind, und warum bist du hier?“
Ein elfenähnliches Geschöpf in einem himmlisch, glitzernden  Eislaufkostüm begrüßte sie freundlich.
„Ich heiße Marie und möchte Eiskunstläuferin werden.“
„Nichts anderes?“, wurde sie gefragt.
Leise, aber bestimmt, gab sie Antwort. „Nein! Das ist mein allergrößter Wunsch!“
„Dann lass uns sofort beginnen. Du hast sehr viel zu erlernen!“
Und Marie tanzte, tanzte, tanzte … bis sie mit den Worten entlassen wurde: “Und nun geh deinen Weg!“
Plötzlich befand sie sich wieder auf dem Eis an der Oberfläche des Sees und all die wunderschönen Sachen, die sie getragen hatte, ebenso die Schlittschuhe, waren verschwunden. Sie stand dort in ihrer armseligen Bekleidung, sehr verwirrt, weil sie nicht wusste, war dies nun Traum oder Wirklichkeit gewesen ...

Das Jahr verging schnell. Und wieder nahte der Heilige Abend.
Als die Kerzen am Baum brannten, klingelte es an der Haustüre. Die Mutter öffnete und kam mit einem Paket für Marie zurück, liebevoll eingepackt. „Das wurde soeben für dich abgegeben“, sagte sie.
Mit klopfenden Herzen öffnete Marie das Geschenk. Sie glaubte nicht, was sie sah: Es waren funkelnagelneue Schlittschuhe und eine Nachricht lag auch dabei: „Für Marie, die  zukünftige erfolgreiche Eiskunstläuferin!“

©Marianne Schaefer

Die Geschichte ist in "Winterliche Erzählungen" des Karina-Verlags erschienen.