Donnerstag, 1. Dezember 2016

Die Ritterburg von Pebby Art




Ungeduldig rutschte Opa Willy auf seinem Stuhl hin und her. Seine Enkel Max und Fabian tobten bereits um die Kaffeetafel. Alle waren gesättigt. Alle, bis auf einer. Willys Schwiegersohn Frank lud gerade ein weiteres Stück Torte auf seinen Teller.
Willy stöhnte leise.
Frank betrachtete die Sahneschnitte auf seinem Teller und stach hinein. Schweigend schaute Willy dem Tortenteil auf Franks Gabel nach, sah, wie es zwischen Gaumen und Zunge seines Schwiegersohnes verschwand. Franks Doppelkinn schaukelte genüsslich hin und her. Der leichte Schmollmund schaute zufrieden drein. Ein paar blonde Locken umgarnten kranzförmig den rundlichen Kopf. Auf dem restlichen Haupt spiegelten sich die Lichter des Weihnachtsbaumes wider. Die grünen Augen seines Schwiegersohnes ließen Opa Willy nicht erkennen, ob sie ihren Sättigungsgrad erreicht hatten, oder ob sie nach noch mehr Stücken Torte verlangten.
Das zufriedene „Puh" aus Franks Kehle und sein Zurücksinken auf den Esszimmerstuhl ließen Willy aufatmen.
„So, dann wollen wir mal den Kaffeetisch abräumen." Willys Tochter Anne stand auf und begann, die Teller und Tassen zusammenzuräumen. Opa sprang auf und half ihr. Auch Frank erhob sich.
„Ich gehe mal frische Luft schnappen." Frank holte eine Schachtel Zigaretten aus seinem grauen Baumwollhemd hervor und quetschte sich an dem strahlenden Weihnachtsbaum vorbei auf die Terrasse.
„Kann er nicht mithelfen?", raunte Willy seiner Tochter zu.
„Aber Papa." Anne zog die Spülmaschinentür auf. „Er hat doch gestern und heute fast den ganzen Tag in der Küche gestanden."
Anne hatte recht. Frank war Bäcker, und er backte fast so gerne wie er aß. Selbst Kochen konnte er. Willy wusste, dass er ihm Unrecht tat, doch er war heute einfach so aufgeregt und ungeduldig wie ein kleines Kind.
Gleich würden Anne, Frank, Max und Fabian einen Weihnachtsspaziergang machen. Und er würde endlich das aufbauen können, woran er wochenlang gearbeitet hatte.
Die Ritterburg.
Die Ritterburg für Max.
Er sah sie schon im Wohnzimmer stehen: groß und prächtig – einfach einmalig.
Schon als kleiner Junge hatten ihn diese Männer mit ihren Rüstungen fasziniert. Wie sehr hatte er sich eine Ritterburg von seinen Eltern gewünscht. Doch sein Wunsch war nie in Erfüllung gegangen.
Später hätte er gerne seiner Tochter Anne eine Ritterburg geschenkt, leider war seine Frau dagegen. Sie hatte es nicht als ratsam empfunden, ein Mädchen mit kriegerischen Sachen spielen zu lassen. Außerdem hatte es Willy damals an Zeit gemangelt, um eine so aufwändige Holzarbeit herzustellen.
Aber jetzt war es endlich so weit. Sein Enkel Max sollte stolzer Besitzer einer selbstgebauten Burganlage werden. Alles hatte Opa Willy in wochenlanger, um nicht zu sagen, monatelanger Arbeit aus Holz geschnitzt, gesägt und zurechtgeschliffen. Zum Schluss hatte er die Burg noch naturgetreu gestrichen. Nun war der große Augenblick zum Greifen nahe. Willy rieb sich die Hände.
Max und Fabian stürmten immer noch um den Esszimmertisch, wobei der kleine Fabian hinter dem großen Bruder herwatschelte, so schnell es ihm eben möglich war. Mit seinen eineinhalb Jahren hatten seine Beine des öfteren Koordinationsschwierigkeiten. Sie verhedderten sich entweder ineinander oder stolperten über den Fußboden. Max hingegen raste wild hin und her. Seine blonden Locken tanzten um sein rundliches Engelsgesicht. In ihm hatten sich eindeutig die Gene des Vaters durchgesetzt. Fabian dagegen glich mit seinen braunen, glatten Haaren und dem zarten Gesicht eher seiner Mutter.
Anne rief ihre Kinder zu sich, um sie mit den endlos vielen Utensilien auszurüsten, die für einen Winterspaziergang nötig waren. Plötzlich meldete sich Max zu Wort.
„Ich komme nicht mit", verkündete er und Opa klappte die Kinnlade herunter.
„Doch, Max," drängelte Willy. Seine Hände fuchtelten in der Luft herum. „Spazierengehen ist schön und ist ... ."
„Nein!" Max blickte entschlossen. „Wenn Opa hierbleibt, bleibe ich auch hier.“ Er versteckte seine Hände unter den Achseln und sah Anne herausfordernd an.
„Wenn du hierbleibst, bringt das Christkind dir keine Geschenke." Anne hielt ihm die Handschuhe hin.
Max grüne Augen schauten jetzt auf den Boden. Nach einem Augenblick Bedenkzeit gab er sich geschlagen.
„Okay." Mit vorgezogener Unterlippe griff er nach dem Handschuhpaar.
Willy lächelte seine Tochter dankbar an.
Schnell schloss Opa Willy die Tür hinter ihnen zu. Dann rauschte er in den Keller und holte die Ritterburg hervor. Liebevoll platzierte er sie neben dem Weihnachtsbaum. Die Zugbrücke ließ er herunter und postierte dort einen stolzen Ritter auf einem glänzenden Rappen. Die aus Holz gesägten Bäume und Sträucher schmückten ringsum die komplette Burganlage. Den Aussichtstürmen mangelte es nicht an Wachposten. Gerecht verteilte Opa Willy sie auf die einzelnen Türme. Sechs Ritter näherten sich auf edlen Pferden der Burg.
Zunächst platzierte Willy sie neben den Esszimmerstühlen, doch nach reiflicher Überlegung räumte er sie auf die andere Seite, mittig ins Zimmer, damit Max sie in seinem Eifer nicht übersah. Kritisch betrachtete Willy nochmals die gesamte Anlage vom Wohnzimmereingang aus, wobei er sich auf den Boden hockte, um Max' Sichtweise nachzuvollziehen. Willys Augen strahlten. Sie glänzten verräterisch feucht in den Augenwinkeln. Schön! Einfach schön!
Gleich würde Max kommen und einen Freudenschrei ausstoßen. War auch wirklich alles perfekt?
Ja … Nein. Moment. Es fehlte noch der gebrauchte kleine Bäckereiladen aus Plastik. Den hatte Anne ja noch für Fabian besorgt. Willy holte das alte Schätzchen herbei und stellte es rechts neben den Tannenbaum.
Da klingelte es auch schon. Willy riss die Haustür auf.
„Ich habe das Christkind gesehen!", jubelte er zur Tür hinaus.
Staunende Freude aus Kinderaugen leuchtete ihm entgegen.
„Es hat etwas Wunderbares mitgebracht", trällerte Willy weiter.
Max stürmte an ihm vorbei ins Haus.
„Im Wohnzimmer, neben dem Weihnachtsbaum!", wieherte Willy seinem Enkel hinterher und folgte ihm. Max durchquerte bereits das Wohnzimmer.
„Wau! Stark!", rief er.
Fabian wackelte an Willy mit lauten, euphorischen Quietschgeräuschen vorbei.
Willy gefror das Lachen im Gesicht.
„Nein!", rief er, „Nicht die olle Bäckerei! Hier, schaut, die tolle Burg."
Doch keines der beiden Kinder schenkte ihm noch Beachtung.
Den Rest des Abends hockte Opa auf dem Fußboden und ließ die Burg von sechs tapferen Rittern erobern. Seine Enkel versorgten ihn derweil mit leckerem Kuchen.

© Pebby Art

Pebby Art schreibt und illustriert Kinderbücher. Sie hat ein literaturwissenschaftliches Studium absolviert und beschäftigt sich seit 1999 intensiv mit dem Schreiben. Wenn sie nicht am Computer sitzt und Geschichten erfindet, unterrichtet sie in Integrationskursen und auch ehrenamtlich beim DRK.
Unter dem Pseudonym „Jamie Craft“ ist dieses Jahr „Die Prophezeiung. Das Inferno von Little Germany, New York“ erschienen. Es ist der erste Roman der Autorin im Erwachsenengenre.