Samstag, 3. Dezember 2016

Marla und Nele von Martina Pawlak

Bild von Martina Pawlak


An einem frostigen Nachmittag im Dezember bedeckten dicke, graue Wolken den Himmel. Unzählige Schneeflocken drängten sich darin und sehnten sich danach, endlich dieser fast schon unerträglichen Enge entfliehen zu können.
Die Schneeflocken wussten nicht, was sie erwarten würde, wenn sie ihr Wolkenheim verließen. Aufgeregt schwatzen und kicherten sie miteinander, um sich ein wenig davon abzulenken, wie bang ihnen doch eigentlich vor dem Sprung ins Ungewisse zumute war.
Die Spannung war kaum noch auszuhalten, als der Himmel schließlich seine Schleusen öffnete. Nur zögerlich machten sich die ersten Schneeflocken auf die Reise. Manche versuchten sogar, sich festzuhalten, aber es war sinnlos, denn ständig rückten hinter ihnen weitere Schneeflocken nach. Und so verließ eine nach der anderen den Schutz der Wolke und glitt lautlos und sacht zur Erde.
Es dauerte eine ganze Weile, dann konnten auch Marla und Nele dem Getümmel entrinnen. Nele hatte es kaum erwarten können, endlich die enge Wolke zu verlassen. Sie sehnte sich nach Freiheit und Abenteuer. Marla hingegen wäre gerne noch eine Zeit lang geblieben. Sie hatte sich in der Wolke zu Hause gefühlt, stets gut geschützt und behütet. Alles Neue und Unbekannte löste Furcht in Marla aus. Doch nun war auch ihre Zeit gekommen, die Welt außerhalb der heimischen Wolke zu erobern. Während Nele freudig über den Wolkenrand hüpfte, musste Marla ihren ganzen Mut zusammennehmen und ließ sich schließlich einfach fallen.
Sanft schwebten Marla und Nele hinunter. Der Anblick war einfach überwältigend. Die Erde war mittlerweile mit einer dicken, weißen Schneedecke überzogen und es gab nur noch ganz wenige schwarze Flecken. Es dämmerte bereits und überall glitzerten und funkelten kleine Lichter.
Marla hielt den Atem an. So etwas Herrliches hatte sie nicht erwartet. Die Landschaft unter ihr sah aus wie gemalt. Ein gewaltiges Glücksgefühl durchströmte Marla, welches eine derart intensive Wärme verursachte, dass Marla fürchtete, zu schmelzen. Einzig und allein dieser Augenblick so frei und unbeschwert durch die Luft zu schweben, schien das Leben lebenswert zu machen. Sie wünschte sich, diesen Moment auf ewig festhalten zu können. Alles andere ... die Vergangenheit, die Zukunft ... erschien plötzlich unwichtig. Nur die Gegenwart zählte.
Als Marla Nele ihre Gefühle mitteilte, lachte diese nur.
»So ein Blödsinn, Marla. Dir mag das reichen, aber mir ganz sicher nicht. Warum sollte ich nur durch die Luft schweben wollen? Siehst du denn nicht, wie schön es dort unten ist? Schau dir die herrlichen Lichter an. Sicher leuchten sie nur für uns. Weil wir erwartet werden, weil wir etwas Besonderes sind, weil ICH etwas Besonderes bin. Ich werde mir das schönste Fleckchen Erde aussuchen, das ich finden kann. Einen Ort, wo mich jeder sehen und bewundern wird.«
 Und schon hielt Nele Ausschau nach einem geeigneten Landeplatz. Ein großer Baum, der mit vielen Lichtern geschmückt war, erregte ihre Aufmerksamkeit. »Perfekt«, rief Nele aus. »Das ist genau der richtige Platz für mich. Hoch oben auf die Spitze des Baumes will ich mich niederlassen. Wie herrlich werde ich in seinem Lichterschein schimmern. Alle Leute werden mich bewundern und sagen 'Oh seht nur die bildschöne Schneeflocke. Sie ist die zauberhafteste Schneeflocke, die wir jemals gesehen haben'«.
Um ihr Ziel zu erreichen, begann Nele zuerst langsam, dann immer heftiger zu schaukeln. Der Ort ihrer Träume näherte sich, doch kurz vor dem Ziel frischte der Wind leicht auf. Nele kam ins Trudeln und verlor die Kontrolle. Haarscharf schwebte sie am Baum vorbei. Schwarzer, nass glänzender Asphalt lag direkt vor ihr. Dann war von Nele nichts mehr zu sehen.
Und Marla? Marla ließ sich sanft vom Wind treiben. Auch wenn er sie ins Ungewisse trug, hatte sie keine Angst. Unaufhaltsam näherte sich die Erde. Marla schloss die Augen ...
Als sie die Augen wieder aufschlug, fand sie sich auf den Ästen einer kleinen Tanne wieder. Die Sicht über einen großen, herrlichen Garten war von diesem Ort einfach wunderbar. Marla beobachtete, wie Menschen hinter den Fenstern ihres Hauses Kerzen an einem Baum entzündeten, wie sie gemeinsam lachten, sich umarmten und sich freuten. Sie sah zu, wie sich einige Spatzen um das Futter am Vogelhäuschen balgten und Kaninchen zwischen den Sträuchern spielten. Marla teilte die Freude der Kinder, die im Garten einen Schneemann bauten und sich mit Schneebällen bewarfen. Das Leben war herrlich und Marla blickte voller Zuversicht in die Zukunft.
Die kleine Schneeflocke betrachtete jeden Tag als großes Geschenk und genoss jeden einzelnen Moment. Und sie konnte noch viele Tage genießen … bis die ersten wärmenden Strahlen der Sonne Marla in einen funkelnden kleinen Wassertropfen verwandelten, der ganz langsam an dem Tannenzweig herunterlief und auf dem ersten, sich bereits am Boden zeigendem Grün, zersprang.




Marla und Nele aus »FABELhafte Geschichten«. Erhältlich als eBook (farbig illustriert) und als Taschenbuch (s/w illustriert) bei Amazon.


Kurzvita:
Martina Pawlak, Jahrgang 1967, lebt mit Mann, zwei Söhnen und einer Katze am Rande des nördlichen Ruhrgebietes. Im Laufe der Jahre entstanden zahlreiche Kurzgeschichten und Kinderbücher, die als eBook, teilweise auch als Printausgabe, veröffentlicht wurden.
Autorenseite auf Amazon: https://www.amazon.de/Martina-Pawlak/e/B008JANNOI/ref=ntt_dp_epwbk_0