Foto von Monique Lhoir |
1930
Es hatte seit ein paar Tagen geschneit. Das kurische
Haff war zugefroren. Die Fischer des Dorfes Süderspitze waren vor Sonnenaufgang
mit Pferden, Schlitten und Eisseglern zur Eisfischerei aufgebrochen. Zu ihrer
Ausrüstung gehörten eine Eisaxt mit einem extralangen Schaft, eine Schöpfkelle,
um Eisstücke aus der Öffnung zu entfernen, und Stellnetze. Ferner eine
Holzstange, um die Netze unter das Eis zu schieben, und ein langes Holzbrett.
Zwei Holzschlegel, ein Hocker, ein großes Windsegel, das die Fischer vor dem
eisigen Wind schützen sollte, befanden sich ebenfalls im Gepäck. Natürlich
ausreichend Proviant, denn sie blieben den ganzen Tag bis spät am Abend
draußen. Die Verpflegung bestand aus kräftigen Wurstbroten, fettem Speck,
geräuchertem Fisch und hochprozentigem Kurenkaffee. Sie waren in ihren alten,
speckigen Jacken gut eingepackt. Die dicken Filzstiefel sollten die Füße vor
dem Erfrieren bewahren.
Die fünfjährige Helga stand am Ufer und schaute
hinter ihnen her. Sie durfte nicht mit. Auch ihr inzwischen zehnjähriger Bruder
Alfred nicht. Mutter Anna verbot es, obwohl manch ein Junge bereits mit seinem
Vater hinausfuhr. Doch einige Kinder waren schon im Haff ertrunken.
Helga zog das Wolltuch
fester um ihre Schultern. Es war feucht und kalt. Die Fischer konnte sie längst
nicht mehr erkennen. Der Horizont war kaum wahrnehmbar. Schnee und Himmel
gingen bei aufgehender Sonne ineinander über. Helga wusste von Erzählungen, was
die Männer draußen taten. Auf einer Fläche von ungefähr achtzig mal achtzig
Zentimetern musste das Eis weichen. Dazu benutzten die Fischer die Eisaxt und
hoben die Eisstücke mit ihren Händen aus dem eisigen Wasser. Eine harte Arbeit.
Danach wurde erst einmal ein kräftiger Schluck aus dem Haff getrunken, zusammen
mit dem Kurenkaffee. Helgas Mutter mochte es nicht, wenn die Männer betrunken
nach Hause kamen.
Das Fischen konnte beginnen. Dazu wurde ein Netz am
Ende der Holzstange befestigt und durch die Eisöffnung unter das Eis geschoben,
die andere Hälfte in die entgegengesetzte Richtung. Zu guter Letzt wurde das
Holzbrett ins Eisloch verbracht. Dann begann das Klappern. Ein Fischer stellte
den primitiven Hocker vor das Brett, nahm die beiden Holzschlegel und schlug
kräftig auf das Ende des Brettes: Tick-tock-tock, tick-tock-tock,
tick-tock-tock. Helga hörte die Geräusche am Ufer. Die Fische sollten auf diese
Weise aus ihrem Winterschlaf aufgeweckt werden und in die Netze gehen. Das
monotone Holzgeklapper klingt wie Musik von Eingeborenen aus Afrika und tönte
ebenfalls von verschiedenen Stellen herüber, ohne dass Helga die Fischer sah.
Das Sonnenlicht glänzte auf der gleißenden Fläche und trieb ihr Tränen in die
Augen.
Vielleicht hätten die Fischer, wie es ihr Bruder
Alfred tat, ein Loch in die Eisfläche bohren und die kleine Eisangel nehmen
sollen. Damit bekam er viele Stinte zu fassen und musste nicht die Eisdecke
aufbrechen.
Helga raffte ihren langen Rock und lief ins Dorf
zurück. Anna stand am Herd und blickte sich um, als ihre Tochter die Hütte
betrat. „Was machst du bei der Kälte am Haff?“, fragte sie. „Hilf mir lieber in
der Küche.“ Anna hatte einen Topf mit Wasser über den Ofen gehangen. Die Mutter
hoffte, dass die Männer am Abend Fisch brachten, um zu Weihnachten eine frische
Fischsuppe kochen zu können. Sonst würde es geräucherten Stint geben. Helga war
aufgeregt. Sie wünschte sich für ihre Stoffpuppe ein neues Kleid. Oder gar für
sie selbst? Eines, wie es die erwachsenen Mädchen trugen, mit Stickerei und
einer mit Spitzen besetzten Schürze.
Anna knetete den Teig für das Brot. Helga schnappte
ein paar Krümel auf und steckte sie in den Mund. „Nicht naschen.“ Die Mutter
schlug ihrer Tochter scherzhaft auf die Hand. „Geh in die Schlafstube und
schaffe Ordnung“, sagte sie. „Der Weihnachtsmann wird uns bestimmt nicht
besuchen, wenn er sieht, dass die Räume schmutzig sind.“
Helga schlenderte in die kleine Stube, die ihrem
Bruder und ihr im Winter als Schlafkammer diente. Im Sommer vermietete Anna
diese an Sommerfrischler aus der Stadt. Das brachte zusätzliches Geld. Das
winzige Fenster war zugefroren. Helga betrachtete die Eisblumen. Plötzlich tat
sich ein Loch auf, die bizarren Kristalle verschwanden. Helga schlich näher
heran und lugte hindurch. Riesige Augen blickten sie von der anderen Seite an,
ein undeutliches Schnauben war zu hören. Ein Elch.
„Willst du rein?“, wisperte Helga. „Es ist kalt da
draußen, nicht wahr? Aber unsere Hütte ist für dich viel zu klein.“ Sie griff
nach ihrem wollenen Tuch und lief hinaus.
„Wo rennst du jetzt schon wieder hin?“, rief Anna
hinter ihr her, doch Helga hatte bereits die Hüttentür zugedrückt.
Einige Meter von ihr entfernt – da standen sie. Zwei
Elche. Sie waren wohl von der Palve gekommen. Helga blieb stehen. Sie hatte
Hochachtung vor den gewaltigen Tieren, aber keine Angst. Oft hielten sie sich
in der Umgebung des Dorfes und am Sandstrand auf.
Einen Augenblick verharrten die Tiere, sahen Helga an
und nickten ihr wissend zu. Dann wandten sie sich um und gingen quer über den
Fußweg in die Dünen hinein. Ein weiteres Mal drehten sie sich zu dem Mädchen
um, bevor sie im Wald verschwanden. Die Elche wussten, wem dieses karge
Paradies gehörte. Sie waren die Könige in ihrem wunderschönen Reich.
Helga lief zurück. Inzwischen war es stockfinster.
Vor der Hütte hatten sich ein paar Frauen versammelt, um gemeinsam am Strand
die Rückkehr der Männer abzuwarten. Sie hofften auf frischen Fisch. Helga
schloss sich ihnen an. Der Wind war stärker geworden und blies ihnen eisigen
Schnee ins Gesicht. In der Ferne konnten sie die ersten Eisschlitten erkennen,
da die Fischer Fackeln angezündet hatten. Die Freude war groß. Die Männer
hatten ausreichend Fisch gefangen, um daraus ein Weihnachtsmenü zu zaubern. Und
es blieb noch reichlich davon übrig, der geräuchert werden konnte und für
einige Tage zum Essen reichte.
Die Frauen bereiteten in Annas Küche aus acht
verschiedenen Fischsorten eine Suppe zu – eine Spezialität auf der kurischen
Nehrung. Die Männer saßen zusammen, tranken nun mit Honig gesüßten Kurenkaffee.
Nach alter Tradition wurden Weihnachtslieder gesungen.
Helga jauchzte. Sie bekam ein neues Kleid mit einer
Spitzenschürze als auch ihre Stoffpuppe. Sie fühlte sich wie ein großes
Mädchen. Müde schlief sie, den Kopf im Schoss von Anna, am warmen Steinofen ein
und wachte erst am nächsten Morgen zum Kirchgang wieder auf.
Winter 1944/45, kurz vor Weihnachten
„Beeil dich!“, rief Anna. „Wir müssen los.“ Auf der
Strandstraße standen die vollbeladenen Schlitten bereit, die im Winter den
Fischern auf dem zugefrorenen Haff zum Fischfang dienten. Das melodische
Tick-tock-tock, tick-tock-tock, tick-tock-tock auf der Eisfläche war für immer
verklungen. Nur wenige Familien besaßen Pferd und Wagen. Die Einwohner des
Dorfes Süderspitze hatten die Aufforderung erhalten, sofort ihre Hütten zu
räumen, da die Rote Armee weit vorgerückt war. Die zwanzigjährige Helga hatte
seit längerem das Donnern der Kanonen in der Ferne gehört, allerdings dem keine
Bedeutung beigemessen. Nun mussten sie ihre Heimat verlassen. Ihr Bruder Alfred
war eingezogen worden – niemand wusste, ob er noch lebte.
Helga stand vor den Dünen. Sie hatte zwei Elche
gesichtet. Ob es die gleichen von damals waren, die sie öfters antraf? Sie
schienen ihr – wie damals – wissend zuzunicken. Dann drehten sie sich um und
verschwanden im Wald. Sie würden in ihrem Revier bleiben, sie waren die Könige
in diesem Reich.
Helga warf einen letzten Blick
auf die Hütte – ihr Zuhause -, dann lief sie rasch hinter dem Treck her, um
nicht den Anschluss zu verlieren. Sie wollten über die kurische Nehrung in
Richtung Tilsit und Königsberg flüchten. Eine gefährliche Reise mit
unbestimmten Ausgang.
Kurischer Kaffee
Die Fischer mussten sich
aufwärmen. Das Mischungsverhältnis ist beliebig.
Warmes Bier
klarer Schnaps, nicht unter 40 %
- besser 50 %
Kaffee
© Monique Lhoir
Monique
Lhoir
Sie schreibt seit dem Jahr 2000 Kurzgeschichten und Romane und verfügt über
diverse Veröffentlichungen. Ihre Liebe gilt Norddeutschland, hier insbesondere
den nordfriesischen Inseln. Hierüber hat sie einen 6teiligen historischen Roman
„Arjan von Föra“ geschrieben. Im Augenblick leitet sie – neben einem eigenen neuen
Romanprojekt - Schreibgruppen und erarbeitet mit den Teilnehmern
Kurzgeschichten bis hin zur Veröffentlichungsreife.