Diese Geschichte spielt in einer Zeit, als Kinder noch
Klaus, Bernd oder Jörg hießen. Meine Eltern hatten sich entschlossen, mich Uwe
zu nennen. Uwe ist mit seinen drei Buchstaben ein sehr sparsamer Name und ich
fand ihn nie besonders schön. Doch in der Schule erfuhr ich von einer
beachtlichen Besonderheit: Trotz seiner Kürze besteht er aus zwei Teilen. Beim
Silbenklatschen war das unüberhörbar. Wir übten das Silbenklatschen, um dem
verborgenen Rhythmus auf die Spur zu kommen, der in allen Wörtern wohnt. Dabei
entsteht ein Takt, der fast wie Musik ist. Bernd, mein Banknachbar aus fünf
Buchstaben, konnte sich nur wundern, dass Uwe zwei Klatscher ergab. Beim
Schreiben hätte ich meinen Namen sogar trennen dürfen, doch in diese
Verlegenheit kam ich eigentlich nie. So viel Platz war in der Zeile immer noch.
Da gab es andere Wörter für die es nützlich war, das Silbenklatschen drauf zu
haben. Auch Mädchennamen gehörten dazu, die kamen oft mit mehr als zwei Takten
daher. Das störte mich nicht, außer bei meiner kleinen Schwester Regina. Zum
Glück nannten wir sie immer nur Gina, damit war die Gerechtigkeit
wiederhergestellt.
An einem Tag im Advent wurde Gina wetterfest
eingemummelt, ich holte derweil den Schlitten aus dem Schuppen. In der Nacht
hatte es geschneit und Papa fand es höchste Zeit, einen Weihnachtsbaum zu
besorgen. Ich kann mich nicht erinnern, woher die anderen Leute im Dorf damals
ihre Bäume bekamen, Verkaufsstände wie heute gab es jedenfalls noch nicht.
Vielleicht hatte der eine oder andere eine Tanne im Garten, bei uns wuchsen
dort nur Obstbäume. Wir mussten in den Wald und ich hatte meine Zweifel, ob
Papa den Förster vorher gefragt hatte. Wie auch immer, ein Abenteuer würde es
allemal, denn noch nie zuvor waren wir dabei mitgenommen worden. Gina kam auf
den Schlitten, Papa zog ihn und ich stapfte nebenher und durfte die kleine Säge
tragen. Erst kratzten die Kufen noch auf dem Straßenpflaster, auf den Feldwegen
wurde es besser und im Wald angekommen war die Schneedecke noch wie neu. Gina
musste jetzt vom Schlitten herunter, damit sie nicht zu frieren begann.
Folglich ging es langsamer voran und außerdem sollten wir nun besonders
vorsichtig laufen, denn überall konnten sich Äste oder Löcher verbergen. Hin
und wieder waren Spuren von Tieren zu sehen. Die von Hasen und Rehen schaute
ich mir mit Interesse an. Doch sollte es hier auch Wildschweine geben!
Augenblicklich verwandelte ich mich in einen Spurenleser und hielt besorgt nach
entsprechenden Abdrücken Ausschau.
Wildschweine hätten Angst vor Menschen, meinte Papa,
und schlug vor, ein Lied zu singen. Dann wüssten die Tiere, dass wir da sind
und blieben in ihrem Versteck. Ich brachte als Alternative ein, lieber mit
einem Stock gegen die Bäume zu schlagen. Das wäre ein besserer Krach als unsere
Stimmen, denn schließlich könnte der Förster in der Nähe sein. Papa lachte, ich
fand das leichtsinnig und Gina fing tatsächlich an zu singen. Schneeflöckchen,
Weißröckchen, wann kommst du geschneit - ihr aktuelles Lieblingslied aus dem
Kindergarten. Papa machte mit, doch nicht als Sänger, sondern als Trompeter. So
machte er es immer und er konnte es sogar ziemlich gut. Mit geschürzten Lippen
ahmte er eine Trompete nach, erfand dabei meist eine muntere zweite Stimme, und
brachte so erst den richtigen Schwung in die Melodie. Er nannte es Hausmusik
und oft hatte er schon gesagt, eines Tages würde er sich eine Trompete zulegen,
uns allen ein Instrument beibringen und dann kämen wir als Familienorchester
bei den lustigen Musikanten groß raus. Im Fernsehen hatte ich solch
musizierende Familien schon gesehen und der Gedanke, auf diese Art berühmt und
bewundert zu werden, gefiel mir. Auch jetzt klang es gut, aber erst mit meiner
Stimme wurde die Sache rund. Dass ich besser singen konnte als Gina lag auf der
Hand. Also trällerten wir das Schneeflöckchen mit großem Spaß mehrmals zu dritt
und ich stellte mir dabei die andächtig lauschenden Wildschweine hinter den
Büschen vor. Dann hatten wir unser Ziel, eine Schonung mit jungen Kiefern
erreicht.
Während Papa die Bäume prüfte, saßen wir auf dem
Schlitten und sahen zu. Kiefern sind mit ihren langen Nadeln und spärlichen
Ästen keine idealen Weihnachtsbäume, aber andere Nadelbäume hatte unser Wald
nicht zu bieten. Deshalb suchte er lange, schüttelte immer wieder Schnee von
den Zweigen, dann sägte er zwei Exemplare ab. Warum zwei? Das fragte ich auch.
Der eine Baum hatte einen geraden Stamm, der andere dichte Zweige. Zusammen
ergäben sie einen ansehnlichen Weihnachtsbaum, wir würden schon sehen. Mit
einem Seil zu einem Bündel verschnürt wurden die Bäume an den Schlitten
gehängt, meine Schwester und ich teilten uns die Sitzfläche, jedenfalls bis zum
Waldrand. Bis dort wurden wir gezogen, mit dem Baumpaket im Schlepp.
"Schaut mal, wie wir die Kufenspuren verwischen", sagte Papa
fröhlich. "Als wären wir überhaupt nicht da gewesen." Dann mussten
wir laufen und die Bäume durften fahren. War die ganze Sache vielleicht doch
ein Raubzug? Ich habe es nie erfahren.
Nachmittags verschwand Papa mit dem Bäumen im
Schuppen. Der mit dem geraden Stamm bekam Bohrlöcher und die abgeschnittenen Äste
des anderen als neue Arme angesteckt. So viel hatte ich verstanden, doch nicht
gesehen, denn ab diesem Moment hatte die Verwandlung als geheimnisvoll zu
gelten und das Ergebnis würde erst am Weihnachtsabend in vollem Schmuck
präsentiert. Also blieben wir in der Stube, die von einem großen Kachelofen
gewärmt wurde. Und groß heißt wirklich riesig. Er reichte bis zur Decke. Mama,
meine Schwester und ich konnten uns gleichzeitig mit dem Rücken daran stellen,
ohne zu drängeln. Wenn Papa ihm mit Kohle ordentlich eingeheizt hatte, wurde er
so heiß, dass man die Kacheln nicht mit der Hand anfassen konnte. Diese Hitze
ließ sich zum Beispiel hervorragend nutzen, um Bratäpfel zu machen. Dafür gab
es im Ofen eine Röhre mit zwei kleinen Eisentüren. An den Türchen konnte man
gut Handschuhe trocknen, doch im Inneren der Röhre war es glühend heiß. Zwei
Äpfel auf einem Teller hineingestellt, und im Handumdrehen reifen die Bratäpfel
heran, zischen Saft aus ihren Poren und beginnen süß zu duften. Gut, ein wenig
länger dauerte es schon, und wir nutzten die Wartezeit für unsere
Wunschzettel.
Mama kam herein. "Na, malt ihr schön? Vertragt
ihr euch?" Beide Fragen bedurften keiner Antwort, wir waren hoch
konzentriert. Gina malte ihre Puppe aus. Bei den Umrissen hatte ich ihr geholfen,
nun schaffte sie es nicht, mit dem Farbstift innerhalb der Linien zu bleiben.
Sie war eben noch klein.
Mama schaute mir über die Schulter: "Ein
Polizeiauto?"
Ich war noch nicht sehr weit mit dem Bild, staunte
aber trotzdem über die Frage: "Sieht man das nicht?"
"Du hast doch schon so viele Autos."
"Das ist eines mit Fernsteuerung, mit Licht und
Sirene."
"Ja, und nach zwei Tagen kaputt."
Ich legte den Stift beiseite und sah sie verwundert
an.
"Was soll ich mir denn sonst wünschen?" Ich
überlegte. "Ein Fahrrad?"
"Dein Fahrrad ist doch noch prima in Ordnung.
Wachse du erst mal noch ein wenig, dann gibt es ein größeres."
Sie hatte wirklich ein Talent, mir das Wunschzettel
malen zu verleiden. Neue Blätter waren noch da, doch womit füllen? Das Polizeiauto
blieb die beste Idee, und es könnte wertvolle Dienste leisten, wenn der Kran
das nächste Mal von der Teppichkante in die Baugrube stürzte und die Feuerwehr
allein nicht mehr klarkam. Ein Krankenwagen würde auch noch nützlich sein, aber
gab es den mit Fernsteuerung?
"Wie wäre es denn mit einem Wunsch, mit dem man
Musik machen kann?", sagte Mama.
Das war ein ganz und gar neuer Gedanke. Aber nicht
schlecht, der würde selbst den Weihnachtsmann überraschen.
"Ja, ein Klavier!", rief ich. In der Schule
stand eines und ich hatte einmal darauf geklimpert, als die Klappe über den
Tasten nicht verschlossen war. Eigentlich durfte man das nicht, aber es war
aufregend laut und hatte Spaß gemacht.
"Das ist zu groß. Wo sollen wir das
hinstellen?", lachte Mama. "Vielleicht ein Instrument, das auch
Kinder mit sich herumtragen können?"
Sie schien die Sache wirklich ernst zu meinen.
"Aber Tasten müsste es schon haben." So
leicht wollte ich mich nicht von der Vorstellung trennen, auf einem
Klavierhocker zu sitzen.
"Was hältst du von einer Ziehharmonika? Die hat
Tasten und klingt sehr schön."
Ich wusste, was eine Ziehharmonika war. Mein Onkel
hatte eine, für Erwachsene hießen die Dinger wohl Akkordeon, und es war
fantastisch, was er damit machen konnte. Einmal hatte er mit dem riesigen
Kasten auf den Knien in der Küche gesessen und uns etwas vorgespielt. Die Hände
zogen und drückten den Faltenbalg, die Finger tanzten eilig über Tasten und
Knöpfe. Wir kannten die meisten Lieder und weil ihm immer noch eines einfiel,
durften wir viel länger aufbleiben als üblich. Eine Ziehharmonika macht eine
besondere Musik, als wären es mehrere Instrumente, und schon bei seinem Besuch
hatte ich mir gewünscht, den Kasten einmal selbst halten und ausprobieren zu
dürfen. Warum war ich nicht selbst darauf gekommen?
"Ja, die wünsche ich mir. Und Papa muss eine
Trompete bekommen."
Ich sah uns schon gemeinsam musizieren. Ich auf dem
Stuhl, die Riemen über den Schultern, eine Hand durch die Schlaufe gesteckt,
die Finger griffbereit. Papa steht neben mir, schwenkt beim Spiel seine goldene
Trompete, Mama und Gina, im Takt von einem Bein auf das andere schunkelnd,
singen kräftig gegen unsere Klänge an. Das war sie doch, die Hausmusik. Da
würde Papa sich freuen - und am Weihnachtsabend ordentlich überrascht sein,
wenn der Weihnachtsmann bringt, was ich mir gewünscht habe. Vorfreude kitzelte
mich im Bauch. Also ans Werk und losgemalt.
"Ich will auch eine Ziehharmonika", meldete
sich Gina.
Dafür war sie noch zu klein, aber das zu sagen würde sie
nur ärgern.
"Die ist viel zu schwer zu lernen. Wünsch dir
eine Flöte, die malt sich auch viel besser."
Mit flinken Strichen zeichnete ich ihr eine vor, da
müsste Mama im Familienorchester eben alleine singen.
Ruckzuck war Gina mit ihrem Wunschzettel fertig. Viel
zu malen gab es da auch nicht. Während ich noch lange zu tun haben würde, holte
sie sich einen Löffel aus der Küche und ließ sich schon einmal einen runzelig
braunen Bratapfel aus der Ofenröhre geben. Er und sein Teller waren noch sehr
heiß, sie sollte vorsichtig sein und pusten. Pusten, fand ich, war eine gute
Übung, wenn sie einmal Flöte spielen wollte.
Danach begann das große Warten. Es dauerte Ewigkeiten
von einer Adventskerze zur nächsten. Immer waren noch viele Tage im Weg und sie
sträubten sich zu vergehen. Aber endlich konnten auch sie nicht verhindern,
dass es Weihnachtsabend wurde. Alles war, wie es sein musste. Während meine
Schwester und ich in der Badewanne waren, hatte der Baum seinen Platz vor dem
Fenster bezogen, sich prächtig herausgeputzt und leuchtete nun festlich.
Darunter standen die bunten Teller bereit. Für später. Nur aus einem Schritt
Entfernung durften wir schon einmal in Augenschein nehmen, welches leckere
Angebot sie für uns bereithielten. Auf dem Tisch drehte sich die Pyramide -
Finger weg von den Kerzen! Ordentlich hinsetzen, im Fernsehen einen Trickfilm
schauen und lauschen, ob da Geräusche an der Tür sind.
Dann war es so weit. Es polterte im Flur, die Tür ging
auf. "Draußen vom Walde komme ich her ...", mit Stiefeln, dicker
Jacke und großem Sack. Hinter der bärtigen Maske klang seine Stimme dumpf und
er blickte uns aus dunklen Augenschlitzen an. Gina bekam es mit der Angst, doch
ihr "Kling Glöckchen, klingelingeling" sang sie ohne Stocken. Dann
musste ich vor dem Baum Aufstellung nehmen und war so aufgeregt, dass ich mein
Gedicht vergessen hatte. Alles weg. Dabei hatte ich es doch extra gelernt. Mama
flüsterte etwas, doch ich konnte sie nicht verstehen. In meiner Not griff ich
zum nächst besten Vers, der mir einfiel. "Lieber guter Weihnachtsmann,
schau mich nicht so böse an ..." Das war zwar nicht sehr einfallsreich und
längst nicht so feierlich wie geplant, doch es war kurz, knackig und erfüllte
seinen Zweck. Aber genug der Nebensächlichkeiten, der Sack konnte geöffnet
werden und allein darauf kam es an.
Etwas zum Spielen, etwas zum Anziehen, ein paar
Kleinigkeiten und dann hatte sich mein Wunsch in ein Geschenk verwandelt. Eine
Ziehharmonika für Kinder. Ehrlich gesagt, war ich anfänglich etwas enttäuscht.
Sie war ziemlich klein und erinnerte mich auf den Blick an etwas, mit dem
Clowns im Zirkus ihre Faxen machen. Doch sie hatte genügend Tasten auf der
einen, Knöpfe auf der anderen Seite und als ich das kleine Riemchen über dem
Faltenbalg löste, machte sie schon das erste Geräusch. Zweifellos, man konnte
mit dem Ding Musik machen, und gleich nachdem ich alle anderen Päckchen ausgewickelt
und freudig zur Kenntnis genommen hatte, machte ich mich ans Üben.
Gina bekam statt einer Flöte eine Triola. Das ist eine
entfernte Verwandte der Flöte, mit breitem Plastikkörper, bunten Tasten statt
Löchern und einem flachen Mundstück, in das Geblasen werden musste. Auch Gina
begann sofort, der Triola Töne zu entlocken.
Für Papa gab es keine Trompete, er musste sich weiter
mit dem Mund begnügen. Vielleicht war das auch besser so. Was wäre das für ein
Krawall geworden, wenn wir gleichzeitig zu dritt in der Stube auf unseren neuen
Instrumenten gespielt hätten. Von stiller Nacht konnte an diesem
Weihnachtsabend jedenfalls keine Rede sein.
Nach einer Weile hielt Mama es für besser, wenn wir in
verschiedenen Zimmern übten. Gina durfte am Baum bleiben, ich zog mich in die
Küche zurück. Dort saß ich wie mein Onkel dereinst mit seinem Akkordeon, nur
hörte es sich bei mir bei weitem nicht so an. Eine Ziehharmonika war ein
verzwickt kompliziertes Instrument und mir schwante schnell, dass es lange
dauern würde, bis meine Zuhörer das Lied erkannten, das ich zu spielen vorgab.
Ich mühte mich redlich, probierte alle Tasten aus und erlebte so manche
Klangüberraschung. Tasten und Knöpfe drücken, gleichzeitig den Blasebalg
abwechselnd pressen und ziehen - es gelang mir nicht, auch nur einen einzigen
Ton zweimal zu wiederholen. Meinem frisch entflammten Ehrgeiz, ein lustiger
Musikant zu werden, tat das jedoch keinen Abbruch. Nur die Arme und Finger
wurden mir allmählich schlapp. Es war Zeit für eine Pause.
Ich ging in die Stube zurück, das Weihnachtsglitzern
war noch da. Gina lag bäuchlings auf dem Teppich und blätterte in ihrem neuen
Bilderbuch. Die Triola lag neben ihr. Möglicherweise war es leichter, diesem
kleinen Spielzeug eine Melodie zu entlocken? Schließlich gehörte ein handliches
Liederheft dazu, in dem mit den Farben der Tasten genau aufgeschrieben war, in
welcher Reihenfolge man sie drücken sollte. So viel Komfort gab es bei mir
nicht. Gina hatte nichts dagegen, doch hatte sie in der kurzen Zeit bereits so
viel Spucke in das Mundstück gesabbert, dass ich erst einmal einen Lappen holen
musste. Auch Schokolade von ihrem Pfefferkuchenmund klebte da und es gab erste
Riefen im Plastik, die sie mit ihren Zähnen geknabbert hatte. Keine
appetitliche Angelegenheit, aber wenn ich nur die gespitzten Lippen an die
Öffnung legte, würde es schon gehen. Ich trötete ein wenig herum und fand schon
nach wenigen Versuchen, dass, wer wirklich wollte, genau erkennen konnte, wie
alle meine Entchen ihr Köpfchen unters Wasser steckten.
Dann forderte Gina ihr Recht. Sie meinte, nun auch
meine Ziehharmonika ausprobieren zu dürfen. Das konnte ich ihr jedoch nicht
erlauben. So ein empfindliches Instrument würde in tapsigen Händen leicht
Schaden nehmen, nicht auszudenken es fiele herunter. Trotzig forderte sie ihre
Triola zurück. Ich holte mir meine Ziehharmonika und behielt sie stets
griffbereit in meiner Nähe, bis unsere Eltern bestimmten, dass wir nun müde
seien.
Als alle mit Betten aufschütteln, Schlafanzug holen,
Zähne putzen oder sonst was beschäftigt waren, schlich ich mich noch einmal in
die Wohnstube. Meine Ziehharmonika konnte nicht einfach unter dem Weihnachtsbaum
liegen bleiben. Sie musste sicher verwahrt werden, wo Gina sie nicht einfach
heimlich nehmen und kaputt machen konnte. In den Schrank? Nein, dort konnte sie
leicht gefunden werden. Mein Blick fiel auf die Röhre im Kachelofen. Sie war
hoch genug, ohne Stuhl konnte Gina nicht hineinsehen und außerdem käme sie nie
im Leben auf die Idee, dort nachzuschauen. Der Ofen war schon fast kalt, ich
legte meine Hand auf das Blech in der Röhre, auch hier drohte keine Gefahr
mehr. Ich schob meine Ziehharmonika hinein, klappte die Türchen zu und ging ins
Bett.
Der erste Weihnachtstag begann mit einem
Familienfrühstück, bei dem wir Lebkuchen in warme Milch tunken durften.
Eigentlich wollten wir danach mit unseren Geschenken spielen, doch zuerst ging
es an die frische Luft. Wir liefen ein wenig auf dem Hof herum, füllten für
Papa Holz in die Eimer und schütteten Körner ins Vogelhäuschen. Dann begann es
zu nieseln und wir durften wieder rein. Noch während wir die Jacken auszogen
kam Mama aus der Stube und sagte: "Irgendwas riecht komisch."
Papa schob uns zur Seite.
"Ja, es stinkt verschmort. Irgendwie nach
Kabelbrand."
Ich versteinerte. "Meine
Ziehharmonika!"
Fragende Blicke aus allen Richtungen.
"In der Röhre?", flüsterte ich.
Papa stürmte zum Ofen, riss die Türchen auf, griff
hinein und zuckte sofort wieder zurück.
"Zu heiß! Schnell, ich brauche
Topflappen."
Mama rannte in die Küche, ich tapste zögerlich in die
Stube.
Mit zwei Topflappen zog Papa die Ziehharmonika heraus,
vielmehr das, was von ihr übrig war. Das Plastikgehäuse war geschmolzen und zog
lange Fäden, die zu spitzen Stacheln erstarrten. Die Falten in der Mitte waren
schwarz verkohlt, die Tasten miteinander verklebt. Mit einem Schwall breitete
sich Brandgeruch im Zimmer aus. Papa legte das unförmige Etwas auf das
Ofenblech und brachte es hinaus.
Mama, Gina und ich standen wortlos vor dem Ofen.
"Wie kommt die da hinein?", fragte
Mama.
"Weggelegt", sagte ich nach einer langen
Denkpause.
"Warum? Damit sie es warm hat?"
"Ich wollte ...", mir kamen die Tränen. Was
ich noch sagen könnte, würde Mama nicht verstehen. Gina sollte sie nicht haben,
außerdem war der Ofen gestern kalt und ich wollte doch gleich heute Morgen
weiterspielen. Am allerschlimmsten aber war, dass ich nun keine Ziehharmonika
mehr hatte.
"Das war es dann wohl", sagte Mama. Sie
schaute mich noch einmal kopfschüttelnd an und ließ mich stehen. Die Fenster
mussten aufgerissen werden.
Papa kam zurück, sagte Dinge wie "ich hätte dich
für klüger gehalten" und ich heulte weiter. Danach sprach niemand mehr das
Thema an. Schließlich war Weihnachten und für Fragen später noch Zeit.
Da saß ich nun, allein mit meinem Kummer. Meine noch
nicht begonnene Musikantenlaufbahn lag in Scherben. Weihnachten roch plötzlich
seltsam, die Lichter am Baum waren noch aus, draußen regnete es. Nicht einmal
weglaufen konnte man bei dem Wetter.
Gina setzte sich mir gegenüber auf den Sessel und
begann mit ihrer Triola zu spielen. Das macht sie doch extra, dachte ich. Will
mir triumphierend zeigen, dass ihr Geschenk noch heil ist. Genau genommen war
sie doch an allem schuld! Ihretwegen musste ich die Ziehharmonika verstecken.
Ohne sie hätte sie gar nicht erst beschützt werden müssen. Erst hatte sie mir
alles kaputt und mich jetzt furchtbar wütend gemacht. Ich nahm das kleine
Liederheft ihrer Triola, holte mir einen Stift und schrieb auf die erste Seite:
"Gina ist doof."
Weil Gina noch nicht lesen konnte, erfuhr sie erst
viel später, was dort stand. Da hatte sie aber das Interesse an der Triola
längst verloren und, nur für alle Fälle, den dummen Satz durchgestrichen. Das
Heftchen lag lange in einem Schubfach verborgen, bis es mir wieder in die Hände
fiel und mich daran erinnerte, warum aus mir kein Musikant geworden ist. Nicht
so schlimm, hatte ich doch am gleichen Tag offensichtlich mit dem Schreiben
begonnen. Und nun haben sich drei zornig hingekritzelte Worte sogar in eine
kleine Weihnachtsgeschichte verwandelt.
Eine weitere Weihnachtsgeschichte und 17 weitere Erzählungen sind in
seinem Buch "Nadelprobe" enthalten. Seine Bücher sind auf der Autorenseite zu finden.
Lutz Schafstädt ist Jahrgang 1960, lebt in Potsdam und ist Autor. Mehr
Informationen über ihn gibt es auf seiner Website http://www.lutz-schafstaedt.de
seinem Buch "Nadelprobe" enthalten. Seine Bücher sind auf der Autorenseite zu finden.
Lutz Schafstädt ist Jahrgang 1960, lebt in Potsdam und ist Autor. Mehr
Informationen über ihn gibt es auf seiner Website http://www.lutz-schafstaedt.de