Freitag, 1. Dezember 2017

Von Kindern Katzen und Engeln von Ingeborg Höverkamp





Ein bitterkalter Eiswind blies vom Böhmerwald herüber, das Thermometer war auf minus 30 Grad gesunken, gut einen halben Meter hoch lag der Schnee, und es konnte passieren, dass man in einer Schneeverwehung bis zum Hals einbrach, so dass Mutter mich auf dem weiten Schulweg begleiten musste. Unser Haus stand auf einem Berg, außerhalb des kleinen Städtchens, umgeben von Wiesen und Feldern, und man konnte es nur über einen schmalen Feldweg erreichen.

Die Geschichte, die ich erzählen möchte, trug sich in der Vorweihnachtszeit zu, am vorletzten Schultag vor den Weihnachtsferien, als ich elf Jahre alt war. Jeden Morgen war es dunkel, wenn ich um sechs Uhr zur Messe ging, die funkelnden Dezembersterne über mir, den vor Frost knirschenden Schnee unter den Schuhen, und es war wieder dunkel, wenn ich am Nachmittag gegen halb fünf aus der Schule kam und Mutter schon mit heißem Tee auf mich wartete. Es war die Adventszeit, in der es im Haus nach Zimt, Vanille, Tannengrün und nach Geheimnissen duftete, in der man abends bei Kerzenschein beisammensaß und Weihnachtslieder sang, mit ungelenken Kinderhänden Christbaumschmuck bastelte, und sich so sehr bemühte brav zu sein, dass die Wangen vor Eifer glühten. Natürlich schrieb ich auch einen Wunschzettel ans Christkind, den ich aufs Fensterbrett legte - Mutter sagte, dass in der Nacht Engel den Wunschzettel abholten. Jahrelang hatte ich auch Zettel an den Storch geschrieben und mit einem Zuckerstück beschwert, aufs Fensterbrett gelegt. Endlich hatte der Storch das ersehnte Geschwisterchen gebracht! Der Kleine, gerade mal drei Monate alt, schlief an jenem Abend satt und zufrieden in seinem Körbchen. Das Herdfeuer prasselte und verbreitete eine behagliche Wärme, wie sie nur durch ein richtiges Feuer entsteht. Muschi, unsere Katze, hatte sich neben dem Herd zusammengerollt und träumte vor sich hin. Unser geschäftiges Treiben beim Plätzchenbacken schien sie keineswegs zu stören.
Mutter hatte eben einen Schokoladenguss angerührt, um die fertigen Plätzchen zu garnieren, und ich stand am Küchentisch und stach aus dem ausgerollten Teig mit Schablonen Plätzchen aus, Sterne, Monde, Herzen, Blumen, Hasen und Christbäume. Meine Gedanken aber waren beim Krippenspiel, zu dem unsere Mütter morgen in die Schule eingeladen waren. Halblaut memorierte ich mein Gedicht, das ich als Engel aufzusagen hatte, blieb an einer Stelle stecken und wollte zu meinem Schulheft laufen, das am Fensterbrett lag, um in Text nachzusehen. Da stieß ich gegen das Kuchenblech, das mit entsetzlichem Getöse  auf den Küchenfußboden krachte. Im nächsten Augenblick war in unserer Küche die Hölle los! Das Baby fing an zu schreien und Muschi schoss wie ein Blitz von ihrem Schlafplatz hervor, sprang, als wären tausend Hunde hinter ihr her, auf die Anrichte, , tappte in die Schüssel mit der flüssigen Schokolade, flitzte über die Tischplatte und raste auf den Stuhl zu, über dem mein blütenweißes, frisch gebügeltes Engelshemd hing. Ich kam eine Sekunde zu spät, um sie daran zu hindern, mit ihren Schokoladenpfoten über mein Engelshemd zu tappen. Mutter hatte das Brüderchen auf den Arm genommen, um es zu beruhigen, und Muschi stolzierte nun, als sei nichts geschehen, überall Schokoladespuren hinterlassend, zu ihrem Lieblingsplatz hinter dem Herd.

Nachdem ich meinen ersten Schock überwunden hatte, brach ich in Tränen aus. Unmöglich konnte ich das schokoladeverschmierte Engelshemd morgen zum Krippenspiel anziehen. In jener Zeit konnte man es auch nicht mal schnell in die Waschmaschine stecken. Und, wenn man sich doch entschlossen hätte, es zu waschen, dann hätte man es einweichen müssen bis zum nächsten Morgen und dann erst waschen. Und wie sollte es denn so schnell trocknen? Aus der Traum vom Engel! Mutter kam mit dem aus Leibeskräften schreienden Baby zu mir und strich mir übers Haar, während ich so laut schluchzte, dass es einen Stein erbarmt hätte. Da fiel Mutters Blick aufs Fensterbrett, auf dem neben dem Schulheft, die Goldsterne lagen, die ich am Nachmittag in der Schule gebastelt hatte. Man könnte doch ...
"Weißt du, was wir machen werden", begann sie. "Wir nähen einfach Goldsterne über Muschis Schokoladen-Pfotenspuren." Das Baby hatte sich inzwischen beruhigt und war wieder eingeschlafen und Mutter legte es ins Körbchen. Dann machte sie sich an die Arbeit. Am Ende hatte ich ein wunderschönes goldglitzerndes Engelsgewand. Selig, wie Kinder nur selig sein können, zeigte ich es unserer Katze, der ich im Stillen schon verziehen hatte. "Na, wie gefällt es Dir, Muschi?" Sie hielt in ihrer Katzenwäsche inne - noch immer schleckte sie Schokolade von ihren Pfoten und schüttelte sich ab und zu, wobei ihr weißer Schnurrbart heftig zitterte, mit einem leicht angewiderten Gesichtsausdruck, der zu sagen schien:"Mäuse wär`n mir lieber." Aufmerksam betrachtete sie einen Moment lang das glitzernde Gewand und fuhr dann ungerührt mit ihrer Katzenwäsche fort.

Bleibt nur noch zu sagen, dass das Krippenspiel am nächsten Morgen ohne Pannen aufgeführt werden konnte. Unsere Mütter waren sichtlich gerührt von unserem kindlich-ergreifenden Spiel. Nachdem die Engelsschar "Vom Himmel hoch, da komm ich her", gesungen hatte, löste ich mich aus dem Kreis, trat hinter die Krippe und sagte mein vierstrophiges Gedicht auf. Ich blieb nicht stecken. Am Ende klatschten die Mütter begeistert Beifall. Meine Mutter aber wurde von den anderen Müttern lautstark gelobt, was für ein wunderschönes Engelsgewand sie da gezaubert hatte. Sie lächelte und schwieg.

Auf dem Nachhauseweg nahm sie mich in den Arm und sagte: "Muschi bekommt heute eine Extraportion Milch!". Und wir lachten, lachten, bis wir fast keine Luft mehr bekamen, fassten uns an den Händen und stapften übermütig durch den Schnee. Und die klare Winterluft trug unser Lachen über die verschneite Landschaft.

©Ingeborg Höverkamp

Geschichte aus:

Weihnachten - Vom Wintermärchen zum Stall von Bethlehem

Das Buch ist eine wundervolle Einstimmung auf die Weihnachtszeit. 24 Autorinnen und Autoren haben in ihr Schatzkästchen gegriffen und heitere und besinnliche Geschichten rund ums Fest beigesteuert. Diese festliche Anthologie ist auch ein ideales Weihnachtsgeschenk.
Ingeborg Höverkamp, die Herausgeberin, hat eine bunte Mischung an literarischen Texten gesammelt: Märchen, Sketche, ironische Texte, Erzählungen zum Brauchtum an Weihnachten, ein Briefdokument aus sibirischer Gefangenschaft, spannende Begegnungen, Geschichten aus der Kindheit, biblische Begebenheiten und vieles mehr. Die Geschichten drehen sich um den Zauber der Weihnacht, den Nürnberger Christkindlesmarkt, das Weihnachtsfest im Erzgebirge, um eine Krippenfigur, die an Heiligabend lebendig wird, Pannen beim Weihnachtsessen, eine Weltreise rund um den Weihnachtsstern und um die Hirten, denen ein Engel die Geburt des Messias verkündet.

Weihnachten - Vom Wintermärchen  zum Stall von Bethlehem, Hg Ingeborg Höverkamp, ein Lesebuch, Allitera-Verlag, München, ISBN: 3869069848, im Buchhandel erhältlich

Ingeborg Höverkamp ist freie Autorin und lebt in der Metropolregion Nürnberg. Sie ist auch Dozentin an der Akademie des CPH Nürnberg für Autobiografisches Schreiben und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, u.a. eine Biografie  "Elisabeth Engelhardt - eine fränkische Schriftstellerin", den Roman "Zähl nicht, was bitter war", den Krimi "Tödlicher Tee" und die beiden Anthologien "Nie wieder Krieg" und "Von der Trümmerstadt zur Frankenmetropole". Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis und der Aufnahme in das Internationale Lexikon "Outstanding Writers of the 20th Century.