Ein bitterkalter Eiswind
blies vom Böhmerwald herüber, das Thermometer war auf minus 30 Grad gesunken,
gut einen halben Meter hoch lag der Schnee, und es konnte passieren, dass man
in einer Schneeverwehung bis zum Hals einbrach, so dass Mutter mich auf dem
weiten Schulweg begleiten musste. Unser Haus stand auf einem Berg, außerhalb
des kleinen Städtchens, umgeben von Wiesen und Feldern, und man konnte es nur
über einen schmalen Feldweg erreichen.
Die Geschichte, die ich
erzählen möchte, trug sich in der Vorweihnachtszeit zu, am vorletzten Schultag
vor den Weihnachtsferien, als ich elf Jahre alt war. Jeden Morgen war es
dunkel, wenn ich um sechs Uhr zur Messe ging, die funkelnden Dezembersterne
über mir, den vor Frost knirschenden Schnee unter den Schuhen, und es war
wieder dunkel, wenn ich am Nachmittag gegen halb fünf aus der Schule kam und
Mutter schon mit heißem Tee auf mich wartete. Es war die Adventszeit, in der es
im Haus nach Zimt, Vanille, Tannengrün und nach Geheimnissen duftete, in der
man abends bei Kerzenschein beisammensaß und Weihnachtslieder sang, mit
ungelenken Kinderhänden Christbaumschmuck bastelte, und sich so sehr bemühte brav
zu sein, dass die Wangen vor Eifer glühten. Natürlich schrieb ich auch einen
Wunschzettel ans Christkind, den ich aufs Fensterbrett legte - Mutter sagte,
dass in der Nacht Engel den Wunschzettel abholten. Jahrelang hatte ich auch
Zettel an den Storch geschrieben und mit einem Zuckerstück beschwert, aufs
Fensterbrett gelegt. Endlich hatte der Storch das ersehnte Geschwisterchen
gebracht! Der Kleine, gerade mal drei Monate alt, schlief an jenem Abend satt
und zufrieden in seinem Körbchen. Das Herdfeuer prasselte und verbreitete eine
behagliche Wärme, wie sie nur durch ein richtiges Feuer entsteht. Muschi,
unsere Katze, hatte sich neben dem Herd zusammengerollt und träumte vor sich
hin. Unser geschäftiges Treiben beim Plätzchenbacken schien sie keineswegs zu
stören.
Mutter hatte eben einen
Schokoladenguss angerührt, um die fertigen Plätzchen zu garnieren, und ich
stand am Küchentisch und stach aus dem ausgerollten Teig mit Schablonen
Plätzchen aus, Sterne, Monde, Herzen, Blumen, Hasen und Christbäume. Meine
Gedanken aber waren beim Krippenspiel, zu dem unsere Mütter morgen in die
Schule eingeladen waren. Halblaut memorierte ich mein Gedicht, das ich als
Engel aufzusagen hatte, blieb an einer Stelle stecken und wollte zu meinem
Schulheft laufen, das am Fensterbrett lag, um in Text nachzusehen. Da stieß ich
gegen das Kuchenblech, das mit entsetzlichem Getöse auf den Küchenfußboden krachte. Im nächsten
Augenblick war in unserer Küche die Hölle los! Das Baby fing an zu schreien und
Muschi schoss wie ein Blitz von ihrem Schlafplatz hervor, sprang, als wären tausend
Hunde hinter ihr her, auf die Anrichte, , tappte in die Schüssel mit der
flüssigen Schokolade, flitzte über die Tischplatte und raste auf den Stuhl zu,
über dem mein blütenweißes, frisch gebügeltes Engelshemd hing. Ich kam eine
Sekunde zu spät, um sie daran zu hindern, mit ihren Schokoladenpfoten über mein
Engelshemd zu tappen. Mutter hatte das Brüderchen auf den Arm genommen, um es
zu beruhigen, und Muschi stolzierte nun, als sei nichts geschehen, überall
Schokoladespuren hinterlassend, zu ihrem Lieblingsplatz hinter dem Herd.
Nachdem ich meinen ersten
Schock überwunden hatte, brach ich in Tränen aus. Unmöglich konnte ich das
schokoladeverschmierte Engelshemd morgen zum Krippenspiel anziehen. In jener Zeit
konnte man es auch nicht mal schnell in die Waschmaschine stecken. Und, wenn
man sich doch entschlossen hätte, es zu waschen, dann hätte man es einweichen
müssen bis zum nächsten Morgen und dann erst waschen. Und wie sollte es denn so
schnell trocknen? Aus der Traum vom Engel! Mutter kam mit dem aus Leibeskräften
schreienden Baby zu mir und strich mir übers Haar, während ich so laut
schluchzte, dass es einen Stein erbarmt hätte. Da fiel Mutters Blick aufs
Fensterbrett, auf dem neben dem Schulheft, die Goldsterne lagen, die ich am
Nachmittag in der Schule gebastelt hatte. Man könnte doch ...
"Weißt du, was wir
machen werden", begann sie. "Wir nähen einfach Goldsterne über
Muschis Schokoladen-Pfotenspuren." Das Baby hatte sich inzwischen beruhigt
und war wieder eingeschlafen und Mutter legte es ins Körbchen. Dann machte sie
sich an die Arbeit. Am Ende hatte ich ein wunderschönes goldglitzerndes
Engelsgewand. Selig, wie Kinder nur selig sein können, zeigte ich es unserer
Katze, der ich im Stillen schon verziehen hatte. "Na, wie gefällt es Dir,
Muschi?" Sie hielt in ihrer Katzenwäsche inne - noch immer schleckte sie
Schokolade von ihren Pfoten und schüttelte sich ab und zu, wobei ihr weißer
Schnurrbart heftig zitterte, mit einem leicht angewiderten Gesichtsausdruck,
der zu sagen schien:"Mäuse wär`n mir lieber." Aufmerksam betrachtete
sie einen Moment lang das glitzernde Gewand und fuhr dann ungerührt mit ihrer
Katzenwäsche fort.
Bleibt nur noch zu sagen,
dass das Krippenspiel am nächsten Morgen ohne Pannen aufgeführt werden konnte.
Unsere Mütter waren sichtlich gerührt von unserem kindlich-ergreifenden Spiel.
Nachdem die Engelsschar "Vom Himmel hoch, da komm ich her", gesungen
hatte, löste ich mich aus dem Kreis, trat hinter die Krippe und sagte mein
vierstrophiges Gedicht auf. Ich blieb nicht stecken. Am Ende klatschten die
Mütter begeistert Beifall. Meine Mutter aber wurde von den anderen Müttern
lautstark gelobt, was für ein wunderschönes Engelsgewand sie da gezaubert
hatte. Sie lächelte und schwieg.
Auf dem Nachhauseweg nahm
sie mich in den Arm und sagte: "Muschi bekommt heute eine Extraportion
Milch!". Und wir lachten, lachten, bis wir fast keine Luft mehr bekamen,
fassten uns an den Händen und stapften übermütig durch den Schnee. Und die klare
Winterluft trug unser Lachen über die verschneite Landschaft.
©Ingeborg Höverkamp
Geschichte aus:
Weihnachten - Vom Wintermärchen zum Stall von
Bethlehem
Das Buch ist
eine wundervolle Einstimmung auf die Weihnachtszeit. 24 Autorinnen und Autoren
haben in ihr Schatzkästchen gegriffen und heitere und besinnliche Geschichten
rund ums Fest beigesteuert. Diese festliche Anthologie ist auch ein ideales
Weihnachtsgeschenk.
Ingeborg
Höverkamp, die Herausgeberin, hat eine bunte Mischung an literarischen Texten
gesammelt: Märchen, Sketche, ironische Texte, Erzählungen zum Brauchtum an
Weihnachten, ein Briefdokument aus sibirischer Gefangenschaft, spannende
Begegnungen, Geschichten aus der Kindheit, biblische Begebenheiten und vieles
mehr. Die Geschichten drehen sich um den Zauber der Weihnacht, den Nürnberger
Christkindlesmarkt, das Weihnachtsfest im Erzgebirge, um eine Krippenfigur, die
an Heiligabend lebendig wird, Pannen beim Weihnachtsessen, eine Weltreise rund
um den Weihnachtsstern und um die Hirten, denen ein Engel die Geburt des
Messias verkündet.
Weihnachten -
Vom Wintermärchen zum Stall von
Bethlehem, Hg Ingeborg Höverkamp, ein Lesebuch, Allitera-Verlag, München, ISBN: 3869069848, im Buchhandel erhältlich
Ingeborg Höverkamp ist freie Autorin und lebt
in der Metropolregion Nürnberg. Sie ist auch Dozentin an der Akademie des CPH
Nürnberg für Autobiografisches Schreiben und hat bereits zahlreiche Bücher
veröffentlicht, u.a. eine Biografie
"Elisabeth Engelhardt - eine fränkische Schriftstellerin", den
Roman "Zähl nicht, was bitter war", den Krimi "Tödlicher
Tee" und die beiden Anthologien "Nie wieder Krieg" und "Von
der Trümmerstadt zur Frankenmetropole". Sie wurde mehrfach ausgezeichnet,
u. a. mit dem Elisabeth-Engelhardt-Literaturpreis und der Aufnahme in das
Internationale Lexikon "Outstanding Writers of the 20th Century.