Montag, 18. Dezember 2017

Eine gewisse Zeit von Eva Markert

Foto von Eva Joachimsen


Silke setzte sich einen Augenblick aufs Sofa und blickte sich um. Schön hatte sie das Zimmer geschmückt. Richtig weihnachtlich. Ein großer Adventskranz mit orangenen Schleifen und Kerzen, dekoriert mit getrockneten Apfelsinenscheiben, Nüssen und einer Zimtstange, prangte mitten auf dem Tisch. Auf den Regalen standen Engel in verschiedenen Größen aus unterschiedlichen Materialien und sie hatte ein paar goldene Sterne aufgehängt. Überall waren Kerzen verteilt. Die würden gleich die richtige Stimmung verbreiten: festlich, vielleicht sogar ein bisschen romantisch. Er sollte sich wohl bei ihr fühlen.
Sie holte die Schale mit den Weihnachtsplätzchen aus der Küche. Dieses Jahr hatte sie seit langer Zeit mal wieder gebacken. Sie wusste, Sascha mochte besonders gern den selbstgemachten Kuchen seiner Mutter, und sie hoffte, dass ihre Plätzchen mithalten konnten.
Silke schaute auf die Uhr. In zehn Minuten würde sie die Kaffeemaschine einschalten und die Kerzen anzünden. Sascha war immer pünktlich. Wenn er dann kam, war alles fertig – komplett mit Kaffeeduft und Kerzenschein.
Sie lehnte sich zurück. Wie lange kannte sie ihn jetzt? Schon fast drei Monate. Das erste Mal war sie ihm im Bus begegnet, als sie zur Arbeit fuhr. Er stieg zwei Stationen nach ihr ein. Sie erinnerte sich noch, dass er ihr sofort auffiel, weil er so sympathisch aussah. Er hatte ein freundliches Gesicht, warme braune Augen und einen Mund, der immer zu lächeln schien. Doch sie hatte auch gleich gemerkt, dass er ein ganzes Stück jünger war als sie.
Von da an begegnete sie ihm laufend – im Bus, auf der Straße, an der Kasse im Supermarkt, fast als ob das Schicksal seine Hand mit im Spiel hätte. Offenbar arbeitete er ebenfalls irgendwo im Zentrum der Kleinstadt. Nach einer Weile begannen sie, sich zuzulächeln oder grüßend zu nicken, und eines Morgens, als im Bus zufällig der Platz neben ihrem frei war, setzte er sich zu ihr. Er war ganz unkompliziert. „Hallo, ich bin Sascha“, stellte er sich fröhlich vor und streckte seine Hand aus.
Silke war einen Moment irritiert. Sie hätte erwartet, dass er auch seinen Nachnamen nannte. Er schaute sie abwartend an. Sie räusperte sich, lächelte und schüttelte seine Hand. „Und ich bin Silke.“
„Die jungen Leute duzen sich halt alle“, hatte sie damals gedacht und dann war ihr schlagartig aufgegangen, dass er sie anscheinend dazuzählte. Dabei war sie, wie sie später herausfand, ganze fünfzehn Jahre älter als er. Aber das merkte man kaum, weder an ihrem Aussehen, noch in ihrem Verhalten. Sie war zierlich, hatte noch eine straffe Haut, war lebhaft und lachte gern. Deshalb hielten die meisten sie auch für jünger.
In der Zeit danach hatte Silke festgestellt, dass ihre Gedanken öfter zu Sascha wanderten, als ihr lieb war. Nein, das stimmte nicht ganz. Es war ihr lieb. Sie dachte gern an ihn und lächelte immer automatisch, wenn sein Bild vor ihrem geistigen Auge erschien. Aber gab es wirklich eine Chance für sie beide – trotz des Altersunterschieds?
Sie kaufte sich ein paar neue Klamotten und Schuhe mit hohen Absätzen, auch wenn die leider ziemlich unbequem waren. Ihr Haar ließ sie in einem helleren Blond tönen und sogar die Wimpern verlängern. Wenn sie sich in ihrem neuen Look im Spiegel betrachtete, sah sie kaum einen Tag älter aus als Sascha. Er war 29. Das hatte er ihr mal so nebenbei erzählt. Sie hatte nichts dazu gesagt. Wahrscheinlich ahnte er, dass er jünger war, aber er brauchte ja nicht genau zu wissen, wie viel.
„Wir müssen ja nicht gleich heiraten“, dachte sie, wenn ihr solche Zweifel kamen. Eine schöne, harmonische Beziehung, wenigstens für eine gewisse Zeit, das wäre schön. Ja, inzwischen konnte sie sich so etwas wieder vorstellen. Lange Zeit war sie Männern aus dem Weg gegangen. Kein Wunder, nach den Erfahrungen, die sie mit Lars gemacht hatte. Er hatte sie häufig beschimpft und wie Dreck behandelt. Jedes Mal, wenn er betrunken war – und das war er oft –, wurde er gewalttätig. Und verletzend. „Alte Vettel“ nannte er sie dann. „Du hast deine besten Jahre schon lange hinter dir.“ Lars hatte viel darauf herumgeritten, dass er fast zehn Jahre jünger war als sie, besonders, wenn sie ihm Vorwürfe machte, weil er sein Leben nicht in den Griff bekam. „Was weißt du schon!“, meinte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. „In meinem Alter sieht man das anders.“
Irgendwann konnte Silke es nicht länger ertragen. Doch es hatte sich als sehr schwierig erwiesen, ihn loszuwerden. Trotz seiner augenscheinlichen Verachtung für sie hing er an ihr wie eine Klette. Als es ihr endlich geglückt war, hatte sie ihre Freiheit genossen. Und es herrlich gefunden, allein zu sein.
Seit einer Weile jedoch – genauer gesagt, seit sie Sascha kannte – war das nicht mehr so. Immer mehr sehnte sie sich nach jemandem, der zu ihr gehörte. Und Sascha war so ganz anders als Lars. Er war ausgeglichen, sanft und – nein, nicht liebevoll, das war nicht das richtige Wort, sondern eher aufmerksam.
Silke blickte erneut auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Sie nahm einen Elisenlebkuchen aus der Plätzchenschale und biss hinein. „Hm“, dachte sie. „Aromatisch, weich und saftig. Genau so muss Lebkuchen schmecken.“ Ein dummer Spruch kam ihr in den Sinn: Liebe geht durch den Magen. Sie lächelte in sich hinein. Na, wenn das stimmte, konnte heute Nachmittag ja nichts schiefgehen ...
Das erste Mal hatte sie auf diese besondere Weise an Sascha gedacht, nachdem sie ihm in der City mal wieder in die Arme gelaufen war. Es regnete in Strömen. Trotzdem blieb er stehen. Zufällig befanden sie sich vor einem Café. Er schlug vor, eine Tasse Kaffee zu trinken. Aus der einen Tasse wurden drei. Sie erfuhr, dass er erst vor Kurzem in die Stadt gezogen war und seine Eltern und seine Brüder sehr vermisste. „Aha. Er hat also keine Freundin“, hatte sie automatisch gedacht.
Weil sie beide Singles waren, unternahmen sie gelegentlich etwas zusammen. Sie gingen ein paar Mal ins Kino, essen oder verabredeten sich für Spaziergänge. Einmal war sie sogar mit ihm bei einem Rockkonzert – ihm zuliebe.
Es war leicht, sich mit Sascha zu unterhalten, auch weil er ein so guter Zuhörer war. Sie vertraute ihm sogar an, was sie mit Lars erlebt hatte. Bis auf die Sache mit dem Altersunterschied. Das behielt sie lieber für sich. Saschas Empörung und sein Mitgefühl waren aufrichtig, das las sie in seinen Augen.
Vielleicht war er auch deshalb bei aller Lockerheit eher zurückhaltend zu ihr. Bestimmt wollte er sie nicht überfordern. Aber niemals hatte sie das Gefühl, er fände sie zu alt, im Gegenteil. Er machte ihr oft Komplimente und sagte, dass ihr etwas gut stand und sie hübsch aussah.
Seit Kurzem hatte er damit angefangen, ihr ein Begrüßungs- und Abschiedsküsschen zu geben. Und manchmal legte er seinen Arm um ihre Schultern oder seine Hand auf ihre. Das täte er doch sicher nicht, wenn sie ihm nichts bedeuten würde! Und nun wurde es Zeit für den nächsten Schritt. Sie hatte es sich wirklich reiflich überlegt, aber ja, obwohl sie schon 44 war, hatte diese Beziehung eine Chance. Einen solchen Mann durfte sie sich nicht entgehen lassen. Zumindest für eine Weile könnten sie glücklich miteinander sein.
Und gleich würde er kommen. Sie schloss die Augen, stellte sich vor, wie sie eng aneinandergeschmiegt auf dem Sofa saßen, sein Gesicht sich ihrem näherte, seine Lippen ihre berührten, seine Hände …
Silke schreckte hoch. Vor lauter Erinnerungen und Träumen hatte sie nicht mehr auf die Zeit geachtet. Hastig schaltete sie die Kaffeemaschine ein und begann, die Kerzen zu entzünden. Ob sie ihn einfach, ganz natürlich, wie selbstverständlich, mit einem Kuss begrüßen sollte? Einem richtigen? Vielleicht wäre das der beste Auftakt für diesen Nachmittag.
Als die letzte Kerze brannte, klingelte es. Silke hatte ein wenig Herzklopfen, als sie aufdrückte. Sie hörte ihn die Treppe hinaufspringen. „Hi, Silke“, rief er fröhlich, riss das Papier von einem Strauß leuchtend roter Amaryllis und drückte ihr die Blumen in die Hand. Er gab ihr sein Begrüßungsküsschen und sie ihm ein Dankesküsschen. Für mehr eignete sich die Situation nicht.
„Ist das schön hier!“, rief Sascha ehrlich begeistert, als sie ins Wohnzimmer traten. „Richtig weihnachtlich!“
Sie stellte die Vase mit den Blumen auf den Tisch und setzte sich neben ihn aufs Sofa. „Ich liebe Advent und Weihnachten“, sagte sie.
„Ich auch. Es ist die schönste Zeit des Jahres.“
Wieder einmal waren sie sich einig.
Aber heute Nachmittag lief das Gespräch nicht so mühelos wie sonst. Warum fühlte sie sich plötzlich ihm gegenüber gehemmt? Ärger flammte in ihr auf. Auch daran hatte Lars Schuld! Sie war früher nie schüchtern gewesen. Er hatte ihr auch ihre Ungezwungenheit und ihr Selbstvertrauen genommen.
Doch auch Sascha benahm sich nicht wie sonst. Es kam ihr so vor, als würde er sie ab und zu verunsichert, zweifelnd, fast ein wenig misstrauisch beäugen.
Vielleicht brauchte er ein wenig Starthilfe, ein Zeichen von ihr. Sie rückte ein Stück näher an ihn heran und lächelte ihm direkt in die Augen. „Erzähl mir, was du magst“, bat sie mit rauer Stimme.
„Was meinst du?“ Er schien verwirrt.
Sie lachte und berührte kurz seine Hand. „An Weihnachten“, fügte sie hinzu.
„Ach so.“ Sascha lachte nun auch.
Sie erzählten sich, warum sie Weihnachten liebten. Für Sascha war es vor allem ein Familienfest. Silke hatte keine Familie mehr, nur eine Schwester, die in Neuseeland lebte. Sie drückte leicht Saschas Arm und ließ ihre Hand liegen. „Vielleicht können wir ja dieses Jahr zusammen feiern?“
Er beugte sich vor und griff nach seiner Kaffeetasse. Ihre Finger rutschten ab. „Das geht leider nicht“, erwiderte er. „Ich fahre über Weihnachten und Neujahr nach Hause.“
Ach ja, natürlich! Das hätte sie sich denken können. Unwillkürlich seufzte sie.
„Hast du irgendwelche Wünsche oder Pläne für das neue Jahr?“, erkundigte er sich.
Silke horchte auf. So kamen sie der Sache schon näher. Hatte er dieses Thema deshalb angeschnitten? Sie senkte den Blick. „Erzähl mir erst, was du dir wünschst“, bat sie leise.
Sascha zögerte einen Moment. „Ich möchte endlich jemanden finden, der zu mir passt.“
Atemlos lauschte sie.
Er lehnte sich zurück. „Und vielleicht habe ich sie sogar schon gefunden.“
Silke stieg die Hitze ins Gesicht. Damit konnte er doch nur sie meinen! Sie spürte es. Jetzt! Jetzt gleich würde er sie küssen. Richtig küssen. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu.
Doch er küsste sie nicht, sondern kramte herum. Verwirrt hob Silke die Lider. Himmel, hatte sie tatsächlich gerade die Augen geschlossen?
Sascha holte sein Smartphone aus der Tasche, hantierte damit und reichte es ihr. Silke sah ein Gruppenfoto mit Männern und Frauen in einem Lokal. „Meine Kollegen bei der Weihnachtsfeier“, erklärte er. „Schau mal vorne, ganz links.“
Vorne ganz links stand eine junge Frau, groß und kräftig gebaut, mit dunklem, lockigem Haar, die übers ganze Gesicht lachte. „Das ist Liliane Weimer“, fügte er hinzu. „Wie findest du sie?“
„N-Nett“, stammelte Silke.
„Bei der Weihnachtsfeier habe ich sie näher kennengelernt.“ Er lächelte vor sich hin. Dann begann er, ausführlich von der Feier zu berichten und was Lilli alles gesagt, gemacht, getan hatte.
Silke hörte stumm zu. „Wie alt ist sie?“, platzte sie mittendrin plötzlich heraus.
„Keine Ahnung. Mitte zwanzig, schätze ich.“
„Aha“, dachte Silke, während sie ihn weiterreden ließ, „er will also doch eine Jüngere. Wie bin ich bloß darauf gekommen, dass er eine alte Schraube wie mich nehmen würde?“
Sascha schaute sie abwartend an. Sie riss sich zusammen. „Entschuldige“, sagte sie, „ich habe gerade nicht gehört, was du gesagt hast.“
„Meinst du, ich sollte ihr was zu Weihnachten schenken? Oder wäre das verfrüht?“
Silke überlegte. „Eine Kleinigkeit kann nicht schaden.“
„Was eignet sich denn? Über was würdest du dich zum Beispiel freuen?“
Wieder dachte Silke nach. „Etwas Weihnachtliches. Ein Tannenbäumchen oder etwas mit einer schönen Kerze.“
„Gute Idee. Danke für den Rat.“ Er zwinkerte ihr zu. „Und für dich suche ich auch was Hübsches. Vielleicht einen Engel. Der würde gut hier hineinpassen.“
Die ersten Kerzen verloschen, doch sie zündete keine neuen an. Als es zu dunkel wurde, schaltete sie das Deckenlicht ein und brachte die Plätzchenschale und die Kaffeetassen in die Küche.
Nicht lange danach stand er auf. „Vielen Dank“, sagte er. „Es war ein sehr gemütlicher Nachmittag.“
„Ich danke für deinen Besuch.“
An der Tür wandte er sich noch einmal um. Seine Stimme klang herzlich, als er sagte: „Ich bin so froh, dass ich dich habe. Mit dir kann ich über alles reden. Es ist ganz merkwürdig. Du warst von Anfang an wie eine große Schwester für mich.“
Sie lächelte gezwungen, murmelte irgendwas von Bruder, bis demnächst und komm gut nach Hause, ehe sie endlich die Tür schließen konnte.
„Große Schwester“, dachte sie und schnaubte. Eine große, ältere, ziemlich alte Schwester. In dem Moment kam sie sich reichlich albern vor. Auch eine Träne lief ihr über das Gesicht.
Dennoch war sie merkwürdigerweise weniger niedergeschlagen, als sie vermutet hätte.
Sie putzte sich die Nase, ging ins Schlafzimmer, zog den kurzen Rock und die hochhackigen Schuhe aus und räumte sie in den Schrank. Stattdessen wählte sie Jeans und ein Sweatshirt.
Zufällig fiel ihr Blick in den Spiegel. Sie sah gut aus. Die schmal geschnittenen Jeans betonten ihre schlanke Figur und das Blau des Sweatshirts hob ihre blonden Haare hervor. Nein, richtig alt war sie nicht. Noch nicht.
Sie reckte ausgiebig die Arme. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Auf dem Tisch stand die Vase mit den leuchtend roten Amaryllis. Sie seufzte, wollte sie zuerst beiseitestellen, überlegte es sich jedoch anders. Die Blumen waren einfach zu schön, um in einer Ecke zu stehen. Sie rückte sie in die Mitte des Tisches, zündete neue Kerzen im Raum an und goss sich ein Glas Wein ein.
Bald war Weihnachten – das Fest der Liebe und der Hoffnung. Kurz darauf begann ein neues Jahr, randgefüllt mit Unbekanntem, mit Möglichkeiten und Chancen. Hatte sie nicht allen Grund, optimistisch zu sein?


Eva Markert war vor ihrer Pensionierung Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch, und sie besitzt ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache. Außerdem ist sie staatlich geprüfte Übersetzerin. In ihrer Freizeit arbeitete sie viele Jahre als Lektorin und Korrektorin in einem kleinen Verlag mit.
Eva Markert schreibt Kinder- und Jugendbücher, Romane und Kurzgeschichten. Die meisten Texte veröffentlichte sie als Indie-Autorin. Viele davon wurden auch übersetzt. Ein Teil ihrer Kurzgeschichten ist in Anthologien enthalten. Zwei Weihnachtsbücher für Kinder erschienen in einem kleinen Verlag.
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