Samstag, 9. Dezember 2017

Isländische Weihnachtsfeen von Carolin Olivares



Foto von Carolin Olivares
„Nein, also wirklich. Das geht doch nicht!“ Fassungslos schüttelte Tante Iris ihre schulterlangen blonden Haare. Sie war Frisörin und hatte immer tolle Frisuren.
Dass ihre Lieblingstante so ungehalten reagierte, überraschte Marlena. Das war überhaupt nicht ihre Art. Aber das mit dem Computer machte Tante Iris verrückt.
Papa hatte sein Weihnachtsgeschenk am Morgen des ersten Feiertages vom Gabentisch im Wohnzimmer geholt und nicht etwa in sein Arbeitszimmer gebracht. Das war zu voll, da musste er erst ausmisten. Den Computer hatte er im Zimmer mit den schönen alten Möbeln und Ölbildern aus Island abgestellt. Das war eigentlich Mamas Zimmer. Und dort standen jetzt alle: Papa, Mama, Tante Iris, Marlena und ihre kleine Schwester Ida. Aus dem Esszimmer, wo sie gerade noch ihr Familien-Weihnachtsfrühstück genossen hatten, mit Blick auf den Christbaum, klang ganz fröhlich Rudolf, The Rednose Reendear herüber.
„Weißt du, Iris“, sagte Mama entschuldigend zu ihrer Schwester, „er hat eben in seinem Zimmer keinen Platz.“
„Papa hat nicht aufgeräumt“, krähte Ida gut gelaunt und setzte ihren Kuschelhasen energisch auf den anderen Arm.
„Sigrun, das kann nicht dein Ernst sein!“ Tante Iris schaute jetzt ganz traurig. „Das sind die Sachen aus deinem Zimmer in unserem Haus in Island.“
„Das sind Feensachen“, rief Ida fröhlich.
Das hatte Marlena gerade sagen wollen. Jetzt aber konzentrierte sie sich, denn als Nächstes würde die Familiengeschichte auf den Tisch kommen und da wollte sie etwas beisteuern.
„Sigrun, versuch jetzt nicht, mich für dumm zu verkaufen“, fuhr Tante Iris streng fort. „Wir sind beide gebürtige Isländerinnen und wir halten etwas von Feen, Elfen, Hexen und Gnomen.“
Das schlechte Gewissen war Mama an der Nasenspitze anzusehen. Papa guckte in die Luft.
„Und Oma Brunhilde hat die Feen seinerzeit gebeten, Mamas Möbel zu segnen. Dann erst hat sie die Sachen nach Deutschland geschickt“, sagte Marlena ganz schnell. Sie liebte dieses altmodische Erwachsenenwort seinerzeit sehr.
„Genau“, erklärte Tante Iris, „was glaubt ihr denn, Sigrun und Peter, warum es bei euch so gut läuft? Das habt ihr den Feen zu verdanken. Und die mögen so ein modernes Gerät gar nicht in ihrer Nähe, überhaupt nicht, auf gar keinen Fall.“
Marlenas Familie flog jedes Jahr mindestens einmal nach Island zu Mamas Eltern. In Island glaubten alle Leute an Feen. Auch Papa, der kein Isländer war und noch dazu Buchhalter, glaubte an das kleine Volk, wenn er dort war. Zurück in Deutschland hielt er dann wieder alles für Humbug. Bei der isländischen Regierung gab es sogar eine Feenbeauftragte. Immer wenn eine Straße gebaut wurde, rief man die Dame. Sie überprüfte dann, ob die Feen durch den Straßenbau gestört wurden. Wie sie das machte, war Marlena allerdings nicht klar. Darüber erfuhr man auch nichts Genaues.
Mama nagte an ihrer Unterlippe. Papa runzelte die Stirn. „Unsinn, Feenunsinn“, brummelte er vor sich hin.
Da sagte Tante Iris ganz ruhig und freundlich: „Die Feen werden euch schon zeigen, wo es lang geht.“

Am Morgen des zweiten Weihnachtstages lief Papa wie ein Besessener zu den Klängen von Jingle Bells durch das Haus, weil er sein Smartphone nirgends finden konnte. Völlig verzweifelt ließ er sich auf die Eckbank in der Küche fallen. „Gestern Abend habe ich es auf meinen Schreibtisch gelegt“, stöhnte er und raufte sich die Haare. „Jetzt ist es weg, einfach weg.“
Iris, Marlena und Ida saßen ebenfalls am Tisch und aßen Plätzchen.
„Das ist schon komisch“, sagte Marlena.
„Ja, in der Tat“, bestätigte Tante Iris.
„Irgendwie lustig“, schmatzte Ida und bot ihrem Kuschelhasen ein Vanillekipferl an.
Mama stand vor dem Herd und zog ein ganz komisches Gesicht.
„Mama, hast du vielleicht ein Gespenst gesehen?“, fragte Marlena. Das Durcheinander fand sie ziemlich spannend.
„Nein, aber meine volle Kaffeetasse ist irgendwie schon zweimal vom Tisch gerutscht, als ich gerade nicht hingesehen habe.“
„Was du nicht sagst!“ Genüsslich biss Iris in einen Schokoladenlebkuchen.
„Dafür gibt es bestimmt eine vernünftige Erklärung. Wahrscheinlich bist du an die Tasse gestoßen“, meinte Papa. „Aber mein Handy! Wo ist es?“
„Schleier“, erklärte Iris. „ Die Feen haben einen Schleier über dein Handy geworfen.“
„Oh!“, rief Marlena begeistert.
„Schleier, Schleier, Schleier“, trällerte Ida.
„Blödsinn“, entgegnete Papa aufgebracht.

Als Nächstes fiel beim Weihnachts‑Resteessen die Uhr im Wohnzimmer von der Wand. Keiner sagte ein Wort. Papa traute sich kaum, in sein Auto zu steigen und es zu starten. Aber er musste zur Tankstelle. Als er den Motor anließ, verreckte er. Mit hängendem Kopf stieg er wieder aus. Als er an seinem Schreibtisch etwas erledigen wollte, stellte er fest, dass seine Papiere kreuz und quer herumlagen.

Am Nachmittag kam Papa in die Küche gerannt, wo alle Mau Mau spielten. Vor Tante Iris blieb er stehen und blickte ihr fest in die Augen. „Können wir es wieder gut machen?“, fragte er leise.
Tante Iris nickte: „Aber natürlich!“
„Was müssen wir tun?“, fragte Mama.
„Den Computer woanders hinbringen“, schlug Marlena vor.
„Ja“, bestätigte Tante Iris, „das und noch ein paar andere Dinge.“
Papa setzte sich zu ihnen an den Küchentisch. Aufmerksam hörten sie Tante Iris zu. Marlena verstand alles sofort, Mama offensichtlich auch, Ida das Meiste. Papa brauchte etwas länger. 
Bild von Carolin Olivares

Nach der Beratung holte Papa, begleitet von seiner Familie, den Computer aus Mamas Zimmer und trug ihn in sein Arbeitszimmer. Er war auch derjenige, der die Möbel in Mamas Zimmer mit Rosenwasser abwischen musste. Mama schmückte den Raum mit getrocknetem Lavendel. Iris und Marlena legten eine Spitzendecke über die alte Eichentruhe und stellten kleine Schüsseln mit Honig, Bonbons und Kuchen darauf. Ida sang dazu zuerst Oh Tannenbaum, dann Hänschen klein … Als alles gerichtet war, zog Mama die Vorhänge zu. Alle setzten sich im Kreis auf den Boden. Mama, Marlena, Ida und Tante Iris schauten Papa erwartungsvoll an. Der sah aus, als müsste er sich übergeben.
Papa atmete tief durch. Dann schloss er die Augen und sagte mit belegter Stimme: “Verehrte Feen des Hauses.“ Bevor er fortfahren konnte, musste er sich räuspern. „Ich ...“ Jetzt hustete er. „ … bitte euch um Verzeihung“, fügte er kläglich und ganz leise, aber deutlich hinzu.
Zunächst geschah nichts, gar nichts. Dann wehte eine sanfte Brise durch den Raum. Sachte bewegten sich die Vorhänge. Iris und Sigrun schauten glücklich zur geschmückten Truhe. Marlena sah ganz genau, dass die beiden irgendjemandem zunickten und dabei lächelten.
Auf der Truhe flimmerte etwas. Dann wurde dort gekichert und, ja tatsächlich, geschmatzt. An der Wand tanzten Schatten wie von Schmetterlingen. Nach einer Weile hörte das Flimmern und Flattern auf. Marlena sprang auf, um nachzusehen, Ida kam hinterher. Die Schüsselchen mit Honig, Bonbons und Kuchen waren fein säuberlich ausgeschleckt.
Schnell liefen alle in Papas Arbeitszimmer. Säuberlich geordnet lagen die Papiere haargenau so da, wie Papa sie platziert hat. In der Mitte funkelte das Smartphone.
Über dem Stuhl hing ein merkwürdiges durchsichtiges Ding. Es schimmerte wie sehr feine Seide, erinnerte aber genauso an Spinnweben. Irgendwie sah es auch aus – wie ein Schleier.

© Carolin Olivares, Lektorat Carolin Olivares


Vita
Carolin Olivares ist Kultur- und Bibliothekswissenschaftlerin. Nach wissenschaftlicher Forschung, Tätigkeiten als Redakteurin, Grundschullehrerin und Kinderbuch-Bibliothekarin arbeitet sie seit 2016 ausschließlich als freie Lektorin. Zu ihrer großen Freude landen viele Manuskripte für Kinderbücher auf ihrem Schreibtisch. Unter dem Pseudonym Paula Dreyser schreibt sie, wenn es ihre Zeit erlaubt, Romane, die in den 70er Jahren angesiedelt sind.
http://www.paula-dreyser.de/de/