Foto von Carolin Olivares |
„Nein, also wirklich. Das geht doch nicht!“
Fassungslos schüttelte Tante Iris ihre schulterlangen blonden Haare. Sie war
Frisörin und hatte immer tolle Frisuren.
Dass ihre Lieblingstante so ungehalten
reagierte, überraschte Marlena. Das war überhaupt nicht ihre Art. Aber das mit
dem Computer machte Tante Iris verrückt.
Papa hatte sein Weihnachtsgeschenk am
Morgen des ersten Feiertages vom Gabentisch im Wohnzimmer geholt und nicht etwa
in sein Arbeitszimmer gebracht. Das war zu voll, da musste er erst ausmisten.
Den Computer hatte er im Zimmer mit den schönen alten Möbeln und Ölbildern aus
Island abgestellt. Das war eigentlich Mamas Zimmer. Und dort standen jetzt
alle: Papa, Mama, Tante Iris, Marlena und ihre kleine Schwester Ida. Aus dem
Esszimmer, wo sie gerade noch ihr Familien-Weihnachtsfrühstück genossen hatten,
mit Blick auf den Christbaum, klang ganz fröhlich Rudolf, The Rednose Reendear herüber.
„Weißt du, Iris“, sagte Mama entschuldigend
zu ihrer Schwester, „er hat eben in seinem Zimmer keinen Platz.“
„Papa hat nicht aufgeräumt“, krähte Ida gut
gelaunt und setzte ihren Kuschelhasen energisch auf den anderen Arm.
„Sigrun, das kann nicht dein Ernst sein!“
Tante Iris schaute jetzt ganz traurig. „Das sind die Sachen aus deinem Zimmer
in unserem Haus in Island.“
„Das sind Feensachen“, rief Ida fröhlich.
Das hatte Marlena gerade sagen wollen. Jetzt
aber konzentrierte sie sich, denn als Nächstes würde die Familiengeschichte auf
den Tisch kommen und da wollte sie etwas beisteuern.
„Sigrun, versuch jetzt nicht, mich für dumm
zu verkaufen“, fuhr Tante Iris streng fort. „Wir sind beide gebürtige
Isländerinnen und wir halten etwas von Feen, Elfen, Hexen und Gnomen.“
Das schlechte Gewissen war Mama an der
Nasenspitze anzusehen. Papa guckte in die Luft.
„Und Oma Brunhilde hat die Feen seinerzeit gebeten, Mamas Möbel zu
segnen. Dann erst hat sie die Sachen nach Deutschland geschickt“, sagte Marlena
ganz schnell. Sie liebte dieses altmodische Erwachsenenwort seinerzeit sehr.
„Genau“, erklärte Tante Iris, „was glaubt ihr
denn, Sigrun und Peter, warum es bei euch so gut läuft? Das habt ihr den Feen
zu verdanken. Und die mögen so ein modernes Gerät gar nicht in ihrer Nähe,
überhaupt nicht, auf gar keinen Fall.“
Marlenas Familie flog jedes Jahr mindestens
einmal nach Island zu Mamas Eltern. In Island glaubten alle Leute an Feen. Auch
Papa, der kein Isländer war und noch dazu Buchhalter, glaubte an das kleine
Volk, wenn er dort war. Zurück in Deutschland hielt er dann wieder alles für
Humbug. Bei der isländischen Regierung gab es sogar eine Feenbeauftragte. Immer
wenn eine Straße gebaut wurde, rief man die Dame. Sie überprüfte dann, ob die Feen
durch den Straßenbau gestört wurden. Wie sie das machte, war Marlena allerdings
nicht klar. Darüber erfuhr man auch nichts Genaues.
Mama nagte an ihrer Unterlippe. Papa
runzelte die Stirn. „Unsinn, Feenunsinn“, brummelte er vor sich hin.
Da sagte Tante Iris ganz ruhig und
freundlich: „Die Feen werden euch schon zeigen, wo es lang geht.“
Am Morgen des zweiten Weihnachtstages lief
Papa wie ein Besessener zu den Klängen von Jingle
Bells durch das Haus, weil er sein Smartphone nirgends finden konnte. Völlig
verzweifelt ließ er sich auf die Eckbank in der Küche fallen. „Gestern Abend
habe ich es auf meinen Schreibtisch gelegt“, stöhnte er und raufte sich die
Haare. „Jetzt ist es weg, einfach weg.“
Iris, Marlena und Ida saßen ebenfalls am
Tisch und aßen Plätzchen.
„Das ist schon komisch“, sagte Marlena.
„Ja, in der Tat“, bestätigte Tante Iris.
„Irgendwie lustig“, schmatzte Ida und bot
ihrem Kuschelhasen ein Vanillekipferl an.
Mama stand vor dem Herd und zog ein ganz
komisches Gesicht.
„Mama, hast du vielleicht ein Gespenst
gesehen?“, fragte Marlena. Das Durcheinander fand sie ziemlich spannend.
„Nein, aber meine volle Kaffeetasse ist irgendwie
schon zweimal vom Tisch gerutscht, als ich gerade nicht hingesehen habe.“
„Was du nicht sagst!“ Genüsslich biss Iris in
einen Schokoladenlebkuchen.
„Dafür gibt es bestimmt eine vernünftige
Erklärung. Wahrscheinlich bist du an die Tasse gestoßen“, meinte Papa. „Aber
mein Handy! Wo ist es?“
„Schleier“, erklärte Iris. „ Die Feen haben
einen Schleier über dein Handy geworfen.“
„Oh!“, rief Marlena begeistert.
„Schleier, Schleier, Schleier“, trällerte
Ida.
„Blödsinn“, entgegnete Papa aufgebracht.
Als Nächstes fiel beim Weihnachts‑Resteessen
die Uhr im Wohnzimmer von der Wand. Keiner sagte ein Wort. Papa traute sich kaum,
in sein Auto zu steigen und es zu starten. Aber er musste zur Tankstelle. Als
er den Motor anließ, verreckte er. Mit hängendem Kopf stieg er wieder aus. Als
er an seinem Schreibtisch etwas erledigen wollte, stellte er fest, dass seine
Papiere kreuz und quer herumlagen.
Am Nachmittag kam Papa in die Küche
gerannt, wo alle Mau Mau spielten. Vor Tante Iris blieb er stehen und blickte
ihr fest in die Augen. „Können wir es wieder gut machen?“, fragte er leise.
Tante Iris nickte: „Aber natürlich!“
„Was müssen wir tun?“, fragte Mama.
„Den Computer woanders hinbringen“, schlug Marlena
vor.
„Ja“, bestätigte Tante Iris, „das und noch
ein paar andere Dinge.“
Papa setzte sich zu ihnen an den
Küchentisch. Aufmerksam hörten sie Tante Iris zu. Marlena verstand alles
sofort, Mama offensichtlich auch, Ida das Meiste. Papa brauchte etwas länger.
Bild von Carolin Olivares |
Nach der Beratung holte Papa, begleitet von
seiner Familie, den Computer aus Mamas Zimmer und trug ihn in sein
Arbeitszimmer. Er war auch derjenige, der die Möbel in Mamas Zimmer mit
Rosenwasser abwischen musste. Mama schmückte den Raum mit getrocknetem
Lavendel. Iris und Marlena legten eine Spitzendecke über die alte Eichentruhe
und stellten kleine Schüsseln mit Honig, Bonbons und Kuchen darauf. Ida sang dazu
zuerst Oh Tannenbaum, dann Hänschen klein … Als alles
gerichtet war, zog Mama die Vorhänge zu. Alle setzten sich im Kreis auf den
Boden. Mama, Marlena, Ida und Tante Iris schauten Papa erwartungsvoll an. Der sah
aus, als müsste er sich übergeben.
Papa atmete tief durch. Dann schloss er die
Augen und sagte mit belegter Stimme: “Verehrte Feen des Hauses.“ Bevor er fortfahren
konnte, musste er sich räuspern. „Ich ...“ Jetzt hustete er. „ …
bitte euch um Verzeihung“, fügte er kläglich und ganz leise, aber deutlich
hinzu.
Zunächst geschah nichts, gar nichts. Dann
wehte eine sanfte Brise durch den Raum. Sachte bewegten sich die Vorhänge. Iris
und Sigrun schauten glücklich zur geschmückten Truhe. Marlena sah ganz genau,
dass die beiden irgendjemandem zunickten und dabei lächelten.
Auf der Truhe flimmerte etwas. Dann wurde
dort gekichert und, ja tatsächlich, geschmatzt. An der Wand tanzten Schatten
wie von Schmetterlingen. Nach einer Weile hörte das Flimmern und Flattern auf. Marlena
sprang auf, um nachzusehen, Ida kam hinterher. Die Schüsselchen mit Honig,
Bonbons und Kuchen waren fein säuberlich ausgeschleckt.
Schnell liefen alle in Papas Arbeitszimmer.
Säuberlich geordnet lagen die Papiere haargenau so da, wie Papa sie platziert
hat. In der Mitte funkelte das Smartphone.
Über dem Stuhl hing ein merkwürdiges
durchsichtiges Ding. Es schimmerte wie sehr feine Seide, erinnerte aber genauso
an Spinnweben. Irgendwie sah es auch aus – wie ein Schleier.
© Carolin Olivares, Lektorat Carolin Olivares
Vita
Carolin Olivares ist Kultur- und
Bibliothekswissenschaftlerin. Nach wissenschaftlicher Forschung,
Tätigkeiten als Redakteurin, Grundschullehrerin und
Kinderbuch-Bibliothekarin arbeitet sie seit 2016 ausschließlich als
freie Lektorin. Zu ihrer großen Freude landen viele Manuskripte für
Kinderbücher auf ihrem Schreibtisch. Unter dem Pseudonym Paula Dreyser
schreibt sie, wenn es ihre Zeit erlaubt, Romane, die in den 70er Jahren
angesiedelt sind.
http://www.paula-dreyser.de/de/