Montag, 11. Dezember 2017

Stina von Sabine Fenner

Foto Eva Joachimsen


Stina saß am Fenster und schaute auf die Förde. Es war Heiligabend und wie jedes Jahr hatte man sie ins Bett gesteckt, damit sie noch etwas zur Ruhe fand vor der Bescherung. Sie hörte ihre Mutter in der Küche hantieren. Es roch schon köstlich nach Entenbraten. Stina war viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Es hatte leicht angefangen zu schneien. Sie hoffte auf einen nagelneuen Schlitten, denn einen eigenen besaß sie nicht. Im Schuppen stand noch ein selbstgezimmerter aus Kriegstagen, den sie mit ihren Geschwistern teilen musste. Sie hatte sich damit abgefunden, denn ihr kleines Kinderherz verstand schon, dass ihre Eltern bescheiden lebten.

Gerne besuchte sie ihre Freundin, Anne. Die wohnte in einem eigenen Haus. Sonntags durfte sie immer mit frühstücken. Es gab Toastbrot mit Pflaumenmarmelade und gelbe Sprudel. So etwas kannte sie von zuhause nicht. Wenn sie Durst hatte, reichte ihre Mutter ihr verdünnten Saft. Dieser wurde im Sommer selbst hergestellt. Ihre Mutter stand tagelang in der Küche und entsaftete die Früchte, die ihr Vater im Garten erntete.

Der Vater ihrer Freundin war Prokurist in einer Holzfirma. Stina staunte oft, was ihre kleine Freundin so alles besaß. Sie hatte sogar einen kleinen elektrischen Herd, auf dem sie schon köstliche Gerichte zubereitet hatten. Stina hatte nur eine Puppe, die sehr abgegriffen aussah. Aber das Christkind versäumte nie, sie neu einzukleiden, was Stina jedes Jahr aufs Neue sehr glücklich machte.

Stina drückte ihre kleine Nase an die Fensterscheibe, um besser sehen zu können, denn der Schneefall hatte zugenommen. Jetzt würden sie gleich um die Ecke kommen, denn die Kirchenuhr hatte bereits sechs Mal geschlagen. Der letzte Weihnachtsgottesdienst war somit beendet. Ihr Vater hatte jedes Jahr Dienst in der Kirche. Ihre Geschwister sagen im Chor. Stina hätte dort gerne mitgesungen, aber sie war noch zu jung. Es reichte nur für den Kinderchor, der sang zum Kindergottesdienst zu früherer Stunde. Danach war sie mit ihrer Mutter schon einmal vorausgegangen, da ihre Mutter so in Ruhe das Essen vorbereiten konnte.

Da, endlich! Ihr Vater und ihre Geschwister stapften den Berg hinauf. Stina hüpfte vom Stuhl und schaltete das Licht an. Auf dem alten Ledersessel lag ihr bestes Kleid, das ihre Mutter selbst geschneidert hatte. Stina mochte es nicht besonders, denn der Stoff kratze. Sie trug lieber eine Lederhose und lief im Sommer barfuß. Aber heute beeilte sie sich, das Kleid über den Kopf zu ziehen. Nun fehlte noch die weiße Strumpfhose, die sie auch nur an besonderen Festtagen trug. Ja, und zu guter Letzt schlüpften ihre kleinen Füße in die neuen Lackschuhe, die drückten, da sie sie selten trug. Aber heute war sie willig und moserte nicht, denn mit ihren Gedanken war sie schon im Weihnachtszimmer.

„Stina“, ihre große Schwester rief sie. „Du kannst jetzt kommen!“. Stina öffnete die Tür und nahm zwei Stufen auf einmal, um schneller unten zu sein. Marie nahm sie bei der Hand. „Komm Stina, wir setzen uns noch einen Moment in die Wohnküche und warten gemeinsam aufs Glöckchen." Stina hatte rote Wangen vor Aufregung. Sie nahmen auf der Holzbank Platz, wo auch ihr Bruder schon wartete. Gespannt lauschten sie...

Ach, und endlich war es soweit. Die Wohnzimmertür öffnete sich. Stina war jetzt nicht mehr zu halten. Sie lief voraus. Doch im Türrahmen blieb sie stehen, denn all der Lichterglanz überwältigte ihre kleine Kinderseele. Auf dem Kachelofen brutzelten Bratäpfel, die sie so liebte. Stina ging ein paar Schritte vorwärts und schaute verstohlen unten den Baum. Da stand tat sächlich ein Schlitten. Auf einem der Holzlatten war zu lesen „Stina“. Stina hüpfte und jubelte. „Mama, Papa... schaut nur, ich habe tatsächlich einen Schlitten bekommen“.

Heute ist Stina längst erwachsen, lebt schon in der zweiten Lebenshälfte, aber der Schlitten existiert immer noch. Wenn es im Winter geschneit hat, dann holt sie ihn vom Dachboden und reiht sich ein ins fröhliche Treiben am Berg...


Sabine Fenner                                                                                                              






Vita

Jahrgang 1952
geb. in Flensburg. Lebt und wirkt in Schleswig-Holstein. Die norddeutsche Autorin schreibt
vorrangig Gegenwartslyrik und Aphorismen. Hierbei streift sie alle Facetten, die das Leben zu
bieten hat, setzt sich mit unterschiedlichen Themen auseinander. Eigene Buchprojekte.
 Weitere Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Mitgründerin der: