In meinem kleinen Heimatdorf im Taunus hatte es wieder einmal geschneit.
Die Advents-und Weihnachtszeiten gehören zu den schlimmsten Erinnerungen
meiner Kindheit.
Der Schnee war so hoch, dass ich darin zu versinken drohte und es war
bitterkalt. Meine Füße waren in meinen viel zu kleinen Schuhen schon längst
abgestorben, und während es langsam dunkel wurde, sah ich die Lichter hinter
den Fensterscheiben angehen.
Ich aber hatte wieder einmal Angst nach Hause zu gehen. Dort wartete die
Frau, die ich Mutter nennen musste, auf mich, in einer kalten und schmutzigen
Wohnung. Ob sie wohl wieder betrunken war?
Als ich so traurig durch den Schnee stapfte, meine Freunde beneidete, die
jetzt durch die geschmückten Fensterscheiben den Schneeflocken zusahen, gingen
mir viele Gedanken durch den Kopf. Während ich den Geruch von frisch gebackenen
Plätzchen regelrecht einsog, kam ich auch an dem Haus unseres alten
Dorfpfarrers vorbei. Ja, hier war für mich die Welt in Ordnung. Elf Kinder
hatte unsere Pfarrersfamilie und ich hörte von drinnen das Lachen und den
Gesang von Weihnachtsliedern. Es war Nikolaustag und mein Stiefel war wieder
einmal leer geblieben. "Ich wünschte, ich hätte dich nie geboren",
hatte meine Mutter am Morgen grinsend zu mir gesagt. Tränen liefen mir übers
Gesicht, als ich ohne es zu bemerken bereits den Klingelknopf am Pfarrhaus
gedrückt hatte.
Erschrocken sah ich auf, als die Tür aufging und ich in die gütigen Augen
unseres Pfarrers blickte. "Komm herein, Silvia, wir haben auf dich
gewartet", sagte er. Nur zögernd folgte ich seiner Aufforderung und trat
in sein großes gemütliches Wohnzimmer. Da tummelten sich viele unserer
Dorfkinder. Sie waren gerade damit beschäftigt, ihre Kostüme für das
alljährliche Krippenspiel anzuprobieren.
"Schaut!", rief der Pfarrer den Kindern zu, "nun haben wir
doch noch einen Erzengel Gabriel gefunden" und er schob mich dabei in den
Raum.
Die Dorfkinder, die sonst nicht mit mir spielen durften, musterten mich
kritisch.
Na ja, wie sah ich auch aus in meinen viel zu kurzen Hosen und meinem
dünnen Anorak. Ich schämte mich.
Der Pfarrer holte ein weißes Gewand aus einem großen Karton, und ehe ich
mich versah,
war aus mir ein Engel geworden. "Schön siehst du aus“, staunten die
Kinder, nachdem ich meine großen Flügel auf dem Rücken hatte und eine kleine
goldene Krone in meinem langen strubbeligen Haar. "Siehst du Silvia, dich
hat uns der liebe Gott geschickt", brummte der Pfarrer. „Denn Weihnachten
ohne einen Erzengel, das geht nicht!“
Ich sah mich im Spiegel an. Plötzlich war ich gar nicht mehr ängstlich,
ich war wichtig geworden und ich wurde gebraucht. Das war ein so großes
Glücksgefühl und ich vergaß alles, was mich zu Hause erwartete. Ich wollte nur
noch eins, ein Engel sein.
Zu den Proben für unser Krippenspiel, musste ich mich unbemerkt aus dem
Haus schleichen, immer in der Gewissheit, dass es bei meiner Rückkehr Schläge
hageln würde. Doch das machte mir nichts mehr aus.
Der Heiligabend war gekommen und unser großer Auftritt nahte oder war es
meiner?
Wie jedes Jahr war unsere Wohnung kalt und leer, meine Mutter war sehr
betrunken und schien fest zu schlafen. Auch gab es wieder keinen
Weihnachtsbaum. Ich nahm meine kleine Schwester bei der Hand und wir schlichen
uns aus dem Haus. Als wir an der Kirche ankamen, tummelten sich die Dorfkinder,
zu denen auch wir mittlerweile gehörten aufgeregt in unserem Übungsraum. Wir
zogen unsere Kostüme an, obwohl das für mich längst kein Kostüm mehr war und
drückten zusammen unsere Nasen an den Fensterscheiben platt. Verwundert und
aufgeregt sahen wir wie die Besucher in die Kirche strömen. "Schau mal, da
sind meine Mama und meine Oma", rief meine mittlerweile zur Freundin
gewordene Karin mir zu.
Ich wusste, dass mich keiner bewundern würde und ich betete so innig wie
nie zuvor: "Bitte Vater im Himmel, sei du wenigstens ein bisschen stolz
auf mich!“
Die Glocken fingen an zu läuten, wir nahmen Aufstellung, der Pfarrer gab
mir einen schweren silbernen Leuchter mit einer großen brennenden Kerze in die
Hand, und so zogen wir in die Kirche, unter dem Gesang der Gemeinde, dem
Weihnachtsbaum entgegen.
Unser Krippenspiel war wirklich ein gelungenes Werk und als ich zum
Schluss oben auf der Kanzel stand, vergaß ich alles um mich herum. Ich sang
voller Inbrunst „Ehre sei Gott in der Höhe“, sah dabei auf die Menschen unter
mir, die sich verstohlen über die Augen wischten und ich war so selig ...
Ja, so war das, damals Weihnachten 1955, ich war gerade 5 Jahre alt und
ich werde diesen Heiligen Abend niemals vergessen. Er war für mich der Auftakt
einer langen Engelskarriere. Ich durfte den Erzengel noch einige
Weihnachtsabende in unserer Gemeinde spielen und habe mir damals etwas
Wichtiges vorgenommen.
Ich wollte nicht nur zu Weihnachten ein Engel zu sein nein, ich wollte in
meinem Leben immer ein bisschen Engel sein und bleiben. Das Weihnachtsfest
nimmt in meinem Leben einen sehr hohen Stellenwert ein. Ich habe Vieles lernen
und erkennen dürfen in jenen Jahren.
Was wäre die Welt ohne Engel, ohne die Liebe zu unseren Mitmenschen, und
ohne Glauben an das Gute?
Mittlerweile bin ich Mutter und Großmama und immer, wenn ich diese wahre
Geschichte erzähle, blicke ich in strahlende Kinderaugen oder halte dabei die
Hände jener Menschen, die traurig und hoffnungslos sind.
Ich habe mir diese Erinnerung bis heute bewahrt. Sie ist immer
gegenwärtig. Ich glaube, wenn wir alle versuchen würden nur jeden Tag eine gute
Tat zu tun, wäre das Leben viel schöner. Irgendwie werde ich immer ein wenig
der Erzengel Gabriel sein, und freue mich über jede, Aufgabe die ich in diesem
Leben erfüllen darf. Ich schließe meine Geschichte mit den Worten: "Gott
ist Liebe, und wer in der Liebe lebt, der lebt in Gott und Gott in ihm.
(Aus meiner Biografie "Annies’ Tochter" welche ich dabei bin zu
schreiben und zu veröffentlichen, um vielen betroffenen Menschen Mut zu machen)
© Celine Rosenkind
Celine Rosenkind mit
dem bürgerlichen Namen Silvia Stoeßer, geb. 10. 6. 1950 in Anspach im
Taunus lebt und schreibt im Bergischen Land erlebte Gedichte, Geschichten
und Märchen.