Freitag, 8. Dezember 2017

Weihnachtsmauern von Sabine Ludwigs

Foto von Hans, Pixabay
Das Jahr, in dem ich diese wundersame Sache erlebte, war das erste Jahr, in dem um unseren Weihnachtsmarkt die Betonbarrieren errichtet wurden.
Ich spreche nicht gerne über mein Erlebnis. Denn immer, wenn ich zu der Stelle mit den Engeln komme, werde ich komisch angeschaut. Aber manchmal erzähle ich die Geschichte eben doch.
Also. Das Jahr, in dem diese wundersame Sache passierte, war das erste Jahr, in dem um unseren Weihnachtsmarkt die Betonbarrieren errichtet wurden. Taktische Sperren nannten es die Verantwortlichen vage, Antiterrorsperren oder Terrorbarrieren die Medien. Es handelte sich dabei um riesige, graue Betonquader von je drei Tonnen Gewicht. Die Oberseiten der Blöcke waren mit Noppen besetzt, die Kanten rotweiß markiert. Das Ganze erinnerte fatal an groteske Legosteine. Drei Tage waren Arbeiter mit ihren Kränen und schweren Baufahrzeugen damit beschäftigt, die Quader zu verzahnen. Dann stand das zwei Meter hohe Ding fertig da.
Es sah irgendwie aus, als wäre die Absicht der Erbauer nicht gewesen, den Weihnachtsmarkt und seine Besucher zu schützen. Sondern als hätten sie das vorweihnachtliche Spektakel eingemauert, um es vom Rest der Welt fernzuhalten.
Obwohl ich schon seit Jahren keine Weihnachtsmärkte mehr besuchte, weil sie mir zu voll und kommerziell geworden waren, empfand ich den Anblick als bedrückend. Er war umso bedrückender, weil die Mauer grob und von hässlichem Grau war. Sie ließ mich an eine mittelalterliche Festung denken, vor der bewaffnete Polizisten patrouillierten. Und so oft ich auch auf meinem Weg zur Arbeit oder nach Hause durch die Winterdunkelheit an der Terrorbarriere vorüberging – es machte den beklemmenden Mittelalter-Eindruck nicht besser. Ich hätte niemals gedacht, dass Antiterrormauern einmal zu Weihnachten gehören sollten.
Doch hinter der Mauer musste es anders sein. Sehen konnte ich nichts. Aber eifriges Werkeln war zu hören, dazu geschäftiges Rufen. Tagelang herrschte Betriebsamkeit. Ich wusste, die Leute verlegten Stromleitungen, bauten Büdchen auf, schmückten sie mit Girlanden und Lämpchen. Am Freitag mussten sie die lebensgroße Krippe aufgestellt haben, denn es wurden, wie jedes Jahr, zwei Schafe und zwei Esel für den Stall herbeigetrieben.
Dann war der Markt eröffnet. Wie aus einem adventlichen Füllhorn quoll es hinter den Quadern hervor: Binnen Kurzem roch es nach Heu, Stroh und Tannennadeln. Und bald darauf nach gebranntem Süßem. Deftige Gerüche sowie duftende Dämpfe von Glühwein und Honigmilch mischten sich darunter. Festliche Musik ertönte, untermalt von Stimmengewirr und dem gelegentlichen Klang goldener Glöckchen, die an den Geschirren der alten Karussellpferdchen schellten, wie schon zu meiner Kinderzeit. Die oberen Gondeln des sich drehenden Riesenrades schaukelten behäbig oberhalb der Mauernoppen und Budengiebel. Und über allem lag, wie Wetterleuchten, der Schein sich vermischender bunter Lichter von hinter der Weihnachtsmauer – wie ich sie plötzlich nannte.
Ich musste an Goscinny und Uderzo denken, an ein von ihnen erdachtes Dorf: das einzige von unbeugsamen Galliern bevölkerte, das nicht aufhörte, dem Eindringling Widerstand zu leisten, wie es in den immer gleichen Einleitungen ihrer Asterix-Bücher heißt. Das Dorf darin hat keinen Namen. Aber manchmal nennen sie es das Dorf der Verrückten. Und genau so kam mir dieser Ort vor – wie ein Dorf der Verrückten.
An jenem Abend beschloss ich wider meine Gewohnheiten, den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Ich wollte zu den Verrückten hinter der Weihnachtsmauer gehören, den Unbeugsamen. Also mischte ich mich unter die Marktbesucher, die Weihnachtschmuck und Geschenke kauften, aßen und tranken. Ich genoss Bratwurst und Glühwein. Wir hörten dem Kinderchor zu, dann den Trompetenbläsern. Freunde trafen sich, ich grüßte Bekannte, Eltern sahen ihren Kindern zu, die auf der kleinen künstlichen Eisfläche Schlittschuh liefen.
Einige Besucher bewunderten die Krippe mit den Tieren, andere ließen sich mit dem Weihnachtsmann fotografieren. Fröhliche Gesichter – überall. Leuchtende Augen, lächelnde Münder. Manche Leute trugen alberne Weihnachtsmützchen oder Engelshaar. Lichterglanz und Adventsstimmung, wohin ich schaute. Es war, als liefe alles auf einen besonderen Höhepunkt zu.

Wohlig breitete sich in mir weihnachtliche Vorfreude aus, die ich beinahe vergessen hatte. Es war ein schönes Gefühl. Wie kurz vor der Bescherung am Heiligabend oder einem Besuch der nach Weihrauch duftenden Mette um Mitternacht. Ich wusste nicht, für wie lange sie Antiterrorsperren zur Weihnachtszeit aufstellen müssen. Wie es in anderen Städten auf den Märkten hinter deren Terrorbarrieren aussah. Oder was die Menschen – die Verrückten – dort fühlten. Ich hoffte aber, sie spürten das Gleiche wie ich.
Die seltsame Eintracht und Herzlichkeit breitete sich weiter unter den Weihnachtsmarktbesuchern aus. Das Licht um uns verdichtete sich. Als flösse es von überall her zusammen wie Flüssigkeit in einem Gefäß. Die Atmosphäre war hoffnungsfroher und friedvoller als jenseits der Weihnachtsmauer. Und über uns prangte, zum Greifen nahe, das sternenflimmernde Band der Milchstraße.
Ich vermochte nicht abzuschätzen, wie schnell oder langsam die Minuten vergingen. Aber plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Und dann – ich weiß, wie das jetzt klingt! – geschah es. Der Himmel kam herab! Ich stand wie auf Wolken und alles schien zu schweben. Es knisterte und flüsterte, als die Luft sich mit unsichtbaren Präsenzen füllte, die eindeutig nicht von dieser Welt waren. Eine tiefe Sehnsucht nahm mir schier den Atem und für einen nicht enden wollenden Herzschlag war da ein überirdisches Strahlen in mir. Und diese Empfindung, die ich kaum beschreiben kann. Vielleicht am ehesten als himmlische Ruh‘?
In dieser Stille hörte ich sie singen.
Die Engelschöre.
„Hosianna!“, sangen die Engel mit Stimmen wie Rauschen im Wind. „Hosianna!“ Und vom Friede auf Erden und dem Licht der Welt. Allmählich wurden die Stimmen leiser. Ehe sie gänzlich verstummten. Schließlich ertönte da nur noch die Musik vom Weihnachtsmarkt. Doch das Leuchten, die Wärme und die wundersame Stimmung, sie schwangen weiter in der Winterluft. Etwas davon nahm ich mit mir. Und wenn ich mich an die Gesichter der Menschen dort erinnere, war ich wohl nicht die Einzige.
Niemals habe ich einen Weihnachtsmarkt intensiver, heller und mystischer erlebt als in jenem beklemmenden Jahr, in dem zum ersten Mal die Terrorsperren errichtet wurden. Ich freute mich auf viele weitere Weihnachtsmarktbesuche! Betonbarrieren störten mich nicht. Wusste ich doch, das Wundersames hinter ihnen liegen kann …


 © Sabine Ludwigs


  Die Autorin Sabine Ludwigs (www.sabine-ludwigs.de) war für einen Kleinverlag als Lektorin und Pressesprecherin tätig. Zur Schriftstellerei fand sie 2004. Bis etwa 2010 verfasste sie ausschließlich Kurzprosa. Es kam zu zahlreichen Publikationen in Anthologien bei diversen Verlagen und Zeitungen. Ihre Arbeiten sind in Print- und Hörmedien sowie als E-Book publiziert. Ein Teil ist Unterrichtsmaterial für das Fach Religion/Ethik an weiterführenden Schulen, wie auch an Grundschulen (Leseförderung). Inzwischen veröffentlicht die Autorin vorwiegend Unterhaltungsromane.
2011 erfolgte ihre erste Einzelveröffentlichung, eine Kurzgeschichtensammlung ihrer bis dahin publizierten Krimis und Thriller (Die Totmacher). 2012 erschien ihr Debütroman „Der Sommer mit dem Erdbeermädchen“ sowie in den drei Folgejahren „Meine Seele weiß von dir“, „Acht Tage bis Ewigkeit“, „Winterspaß und Weihnachtszauber und „Stirb! Rotköpfchen“. Sabine Ludwigs wurde mit dem Friedens-Literaturpreis des Berliner Kulturrings und mit dem Literaturpreis Gedichte & Balladen der Ideale Stiftung ausgezeichnet.