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Das Jahr, in dem ich diese
wundersame Sache erlebte, war das erste Jahr, in dem um unseren Weihnachtsmarkt
die Betonbarrieren errichtet wurden.
Ich spreche nicht gerne über mein
Erlebnis. Denn immer, wenn ich zu der Stelle mit den Engeln komme, werde ich
komisch angeschaut. Aber manchmal erzähle ich die Geschichte eben doch.
Also. Das Jahr, in dem diese
wundersame Sache passierte, war das erste Jahr, in dem um unseren
Weihnachtsmarkt die Betonbarrieren errichtet wurden. Taktische Sperren nannten es die Verantwortlichen vage, Antiterrorsperren oder Terrorbarrieren die Medien. Es handelte
sich dabei um riesige, graue Betonquader von je drei Tonnen Gewicht. Die
Oberseiten der Blöcke waren mit Noppen besetzt, die Kanten rotweiß markiert.
Das Ganze erinnerte fatal an groteske Legosteine. Drei Tage waren Arbeiter mit
ihren Kränen und schweren Baufahrzeugen damit beschäftigt, die Quader zu
verzahnen. Dann stand das zwei Meter hohe Ding fertig da.
Es sah irgendwie aus, als wäre die Absicht
der Erbauer nicht gewesen, den Weihnachtsmarkt und seine Besucher zu schützen.
Sondern als hätten sie das vorweihnachtliche Spektakel eingemauert, um es vom
Rest der Welt fernzuhalten.
Obwohl ich schon seit Jahren keine
Weihnachtsmärkte mehr besuchte, weil sie mir zu voll und kommerziell geworden
waren, empfand ich den Anblick als bedrückend. Er war umso bedrückender, weil
die Mauer grob und von hässlichem Grau war. Sie ließ mich an eine
mittelalterliche Festung denken, vor der bewaffnete Polizisten patrouillierten.
Und so oft ich auch auf meinem Weg zur Arbeit oder nach Hause durch die
Winterdunkelheit an der Terrorbarriere vorüberging – es machte den beklemmenden
Mittelalter-Eindruck nicht besser. Ich hätte niemals gedacht, dass
Antiterrormauern einmal zu Weihnachten gehören sollten.
Doch hinter der Mauer musste es
anders sein. Sehen konnte ich nichts. Aber eifriges Werkeln war zu hören, dazu
geschäftiges Rufen. Tagelang herrschte Betriebsamkeit. Ich wusste, die Leute
verlegten Stromleitungen, bauten Büdchen auf, schmückten sie mit Girlanden und
Lämpchen. Am Freitag mussten sie die lebensgroße Krippe aufgestellt haben, denn
es wurden, wie jedes Jahr, zwei Schafe und zwei Esel für den Stall
herbeigetrieben.
Dann war der Markt eröffnet. Wie aus
einem adventlichen Füllhorn quoll es hinter den Quadern hervor: Binnen Kurzem
roch es nach Heu, Stroh und Tannennadeln. Und bald darauf nach gebranntem
Süßem. Deftige Gerüche sowie duftende Dämpfe von Glühwein und Honigmilch
mischten sich darunter. Festliche Musik ertönte, untermalt von Stimmengewirr
und dem gelegentlichen Klang goldener Glöckchen, die an den Geschirren der
alten Karussellpferdchen schellten, wie schon zu meiner Kinderzeit. Die oberen
Gondeln des sich drehenden Riesenrades schaukelten behäbig oberhalb der
Mauernoppen und Budengiebel. Und über allem lag, wie Wetterleuchten, der Schein
sich vermischender bunter Lichter von hinter der Weihnachtsmauer – wie ich sie
plötzlich nannte.
Ich musste an Goscinny und Uderzo
denken, an ein von ihnen erdachtes Dorf: das einzige von unbeugsamen Galliern
bevölkerte, das nicht aufhörte, dem Eindringling Widerstand zu leisten, wie es
in den immer gleichen Einleitungen ihrer Asterix-Bücher heißt. Das Dorf darin
hat keinen Namen. Aber manchmal nennen sie es das Dorf der Verrückten. Und
genau so kam mir dieser Ort vor – wie ein Dorf der Verrückten.
An jenem Abend beschloss ich wider
meine Gewohnheiten, den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Ich wollte zu den
Verrückten hinter der Weihnachtsmauer gehören, den Unbeugsamen. Also mischte
ich mich unter die Marktbesucher, die Weihnachtschmuck und Geschenke kauften,
aßen und tranken. Ich genoss Bratwurst und Glühwein. Wir hörten dem Kinderchor
zu, dann den Trompetenbläsern. Freunde trafen sich, ich grüßte Bekannte, Eltern
sahen ihren Kindern zu, die auf der kleinen künstlichen Eisfläche Schlittschuh
liefen.
Einige Besucher bewunderten die
Krippe mit den Tieren, andere ließen sich mit dem Weihnachtsmann fotografieren.
Fröhliche Gesichter – überall. Leuchtende Augen, lächelnde Münder. Manche Leute
trugen alberne Weihnachtsmützchen oder Engelshaar. Lichterglanz und
Adventsstimmung, wohin ich schaute. Es war, als liefe alles auf einen
besonderen Höhepunkt zu.
Wohlig breitete sich in mir
weihnachtliche Vorfreude aus, die ich beinahe vergessen hatte. Es war ein
schönes Gefühl. Wie kurz vor der Bescherung am Heiligabend oder einem Besuch
der nach Weihrauch duftenden Mette um Mitternacht. Ich wusste nicht, für wie
lange sie Antiterrorsperren zur Weihnachtszeit aufstellen müssen. Wie es in anderen
Städten auf den Märkten hinter deren Terrorbarrieren aussah. Oder was die
Menschen – die Verrückten – dort fühlten. Ich hoffte aber, sie spürten das
Gleiche wie ich.
Die seltsame Eintracht und
Herzlichkeit breitete sich weiter unter den Weihnachtsmarktbesuchern aus. Das
Licht um uns verdichtete sich. Als flösse es von überall her zusammen wie
Flüssigkeit in einem Gefäß. Die Atmosphäre war hoffnungsfroher und friedvoller
als jenseits der Weihnachtsmauer. Und über uns prangte, zum Greifen nahe, das
sternenflimmernde Band der Milchstraße.
Ich vermochte nicht abzuschätzen,
wie schnell oder langsam die Minuten vergingen. Aber plötzlich schien die Zeit
stillzustehen. Und dann – ich weiß, wie das jetzt klingt! – geschah es. Der
Himmel kam herab! Ich stand wie auf Wolken und alles schien zu schweben. Es
knisterte und flüsterte, als die Luft sich mit unsichtbaren Präsenzen füllte,
die eindeutig nicht von dieser Welt waren. Eine tiefe Sehnsucht nahm mir schier
den Atem und für einen nicht enden wollenden Herzschlag war da ein
überirdisches Strahlen in mir. Und diese Empfindung, die ich kaum beschreiben
kann. Vielleicht am ehesten als himmlische
Ruh‘?
In dieser Stille hörte ich sie
singen.
Die Engelschöre.
„Hosianna!“, sangen die Engel mit
Stimmen wie Rauschen im Wind. „Hosianna!“ Und vom Friede auf Erden und dem
Licht der Welt. Allmählich wurden die Stimmen leiser. Ehe sie gänzlich verstummten.
Schließlich ertönte da nur noch die Musik vom Weihnachtsmarkt. Doch das
Leuchten, die Wärme und die wundersame Stimmung, sie schwangen weiter in der Winterluft.
Etwas davon nahm ich mit mir. Und wenn ich mich an die Gesichter der Menschen
dort erinnere, war ich wohl nicht die Einzige.
Niemals habe ich einen
Weihnachtsmarkt intensiver, heller und mystischer erlebt als in jenem beklemmenden
Jahr, in dem zum ersten Mal die Terrorsperren errichtet wurden. Ich freute mich
auf viele weitere Weihnachtsmarktbesuche! Betonbarrieren störten mich nicht.
Wusste ich doch, das Wundersames hinter ihnen liegen kann …
© Sabine Ludwigs
Die Autorin Sabine Ludwigs (www.sabine-ludwigs.de) war für einen Kleinverlag als Lektorin und Pressesprecherin tätig. Zur Schriftstellerei fand sie 2004. Bis etwa 2010 verfasste sie ausschließlich Kurzprosa. Es kam zu zahlreichen Publikationen in Anthologien bei diversen Verlagen und Zeitungen. Ihre Arbeiten sind in Print- und Hörmedien sowie als E-Book publiziert. Ein Teil ist Unterrichtsmaterial für das Fach Religion/Ethik an weiterführenden Schulen, wie auch an Grundschulen (Leseförderung). Inzwischen veröffentlicht die Autorin vorwiegend Unterhaltungsromane.
2011 erfolgte ihre erste Einzelveröffentlichung, eine
Kurzgeschichtensammlung ihrer bis dahin publizierten Krimis und Thriller (Die Totmacher). 2012 erschien ihr
Debütroman „Der Sommer mit dem
Erdbeermädchen“ sowie in den drei Folgejahren „Meine Seele weiß von
dir“, „Acht Tage bis Ewigkeit“, „Winterspaß und Weihnachtszauber und „Stirb!
Rotköpfchen“. Sabine
Ludwigs wurde mit dem Friedens-Literaturpreis des Berliner Kulturrings und mit
dem Literaturpreis Gedichte &
Balladen der Ideale Stiftung ausgezeichnet.
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Eine Sammlung weihnachtlicher Kurzgeschichten und Leseproben aus E-Books und gedruckten Büchern verschiedener Autoren
Freitag, 8. Dezember 2017
Weihnachtsmauern von Sabine Ludwigs
Labels: Weihnachten, Weihnachtsgeschichten,
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