Dienstag, 19. Dezember 2017

Schneemannweisheit von Martina Pawlak

Foto von Marina Pawlak

Lautlos fielen die Schneeflocken aus einer dichten grauen Wolkendecke und überzogen die erst vor wenigen Stunden geräumte Einfahrt erneut mit einer dicken Schicht aus Schnee.
Schnee! Schon wieder Schnee! Langsam reichte es Bernd. Das ging nun schon seit Tagen so und Bernd hatte das Gefühl, er täte mittlerweile nichts anderes mehr als Schnee schippen.
Seufzend nahm er seine Jacke vom Garderobenhaken, schlang einen langen Schal um den Hals und setzte sich eine Wollmütze auf den Kopf. Nachdem er in die Stiefel geschlüpft und seine Handschuhe angezogen hatte, stapfte er nach draußen.
Der Schnee dämpfte jegliche Geräusche. Die Äste der Tannen in Bernds Garten bogen sich schwer unter der Schneelast. Keine Spur mehr zu sehen von dem blühenden Paradies im Sommer. Dafür gab es Spuren diverser Vogelfüße und offensichtlich vergnügten sich auch einige Kaninchen hin und wieder im Schnee. Die Welt wirkte fast ein wenig unwirklich. Die Autos seiner Nachbarn standen still am Straßenrand, bedeckt von hohen weißen Hauben. Niemand war zu sehen. Kein Wunder, es war Heiligabend und jeder bereitete sich auf die Bescherung vor.
Nur Bernd nicht. Für Bernd waren die Weihnachtstage einfach nur Tage wie alle anderen auch. Er lebte allein und das war auch gut so. Kein Theater wegen eines Weihnachtsbaumes, kein Stress beim Geschenke kaufen, keine Sorgen ums Weihnachtsessen … alles ging einfach seinen Gang.
Seufzend griff Bernd zur Schneeschaufel und machte sich an die Arbeit.
Früher, als er klein war, ja da hätte ihn der Schnee begeistert. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sehnsüchtig er auf die ersten Flocken gewartet hatte. Und weiße Weihnacht, das wäre für ihn das größte Geschenk überhaupt gewesen.
Genauso war es später bei seinem Sohn Jens gewesen. Schlitten fahren, Schneeballschlachten … Bernd war damals fast wieder selbst zum Kind geworden, wenn er mit Jens im Schnee herumgetollt hatte. Und wenn dann tatsächlich auch an Weihnachten Schnee gefallen war, hatte Bernd immer diesen besonderen Zauber verspürt.
Komisch, welche Erinnerungen einem durch den Kopf gehen, wenn es ganz still um einen herum ist.
Heute empfand Bernd Schnee nur als mit Arbeit verbundene Last. Verbissen arbeitete er sich Schaufel um Schaufel die Einfahrt entlang. Mehrfach musste er eine Pause machen und stützte sich dabei schwer atmend auf den Griff der Schaufel. Mit seinen 64 Jahren war er immerhin nicht mehr der Jüngste.
»Verdammt ist das kalt«, unterbrach plötzlich eine Stimme die Stille.
Nanu? Wer hatte das gesagt? Bernd sah sich suchend um, doch er konnte niemanden entdecken.
Nur ein Schneemann im Nachbargarten beobachtete ihn stumm bei seiner Tätigkeit.
Bernd schüttelte den Kopf.  Offensichtlich hatte er sich die Stimme nur eingebildet. Er zog ein Taschentuch aus seiner Jacke und putzte sich die Nase. Dann schippte er weiter.
»Es ist sogar entsetzlich kalt. Wann kommt denn endlich das Christkind? Ich friere.« Wieder diese Stimme. Bernd richtete sich auf.
»Hallo? Wer ist denn da? Los zeigen Sie sich«, rief Bernd in das weiße Nichts hinein.
»Aber ich bin doch hier«, kam es zur Antwort.
»Hier? Wo hier?« So langsam verlor Bernd die Geduld. Da veralberte ihn doch jemand. Bestimmt machten sich die Nachbarkinder einen Spaß mit ihm.
»Na hier. Siehst du mich denn nicht?« Der Schneemann winkte ihm fröhlich zu. Bernd erstarrte und ließ die Schaufel los. Lautlos plumpste sie in den frischen Schnee.
Jetzt ist es soweit, dachte Bernd. Du hast Wahnvorstellungen oder einen Schneekoller oder was auch immer. Langsam näherte sich Bernd der weißen Gestalt. Es war ein schöner, wohlgeformter Schneemann. Er bestand aus drei verschieden dicken Kugeln. Die kleinste Kugel, sein Kopf, war verziert mit zwei Kohlestücken, die als Augen dienten. In der Mitte prangte eine dicke gelbe Mohrrübe. Bernd umrundete den Schneemann und stupste ihm dann mit seinem Zeigefinger vorsichtig in den Bauch.
Der Schneemann kicherte.
»Hey, lass das. Ich bin kitzelig.«
Bernd schnappte nach Luft. »Das gibt’s doch gar nicht«, sagte er mehr zu sich selbst und kratzte sich am Kopf. »Schneemänner können nicht reden.«
Der Schneemann neigte seinen Kopf ein wenig zur Seite und funkelte Bernd mit seinen schwarzen Kohleaugen belustigt an.
»Natürlich können Schneemänner reden. Sie tun es sogar dauernd. Was sollten sie auch sonst tun? Etwa einfach nur stumm und steif in der Kälte herumstehen? Nö, das wäre ja viel zu langweilig. Wahrscheinlich hört ihr Menschen uns nur nicht, weil ihr dauernd beschäftigt seid und furchtbar viel Lärm macht.«
Der Schneemann hielt kurz inne. »Aber vielleicht liegt es auch an Weihnachten, dass wir beide uns unterhalten können. An Weihnachten geschehen ja oft wundersame Dinge und Wünsche gehen wie durch Zauberei in Erfüllung. Ja, so wird es sein«, rief er fröhlich.
»Ich hatte noch nie den Wunsch, mit einem Schneemann ein Gespräch zu führen«, gab Bernd zurück.
»Das ist aber komisch«, wunderte sich der Schneemann.  »Ich dachte, du hättest es dir vielleicht vom Christkind gewünscht. Was hast du dir denn dann gewünscht, wenn ich fragen darf?«
»Nichts. Ich habe mir nichts vom Christkind gewünscht. Ich glaube nicht an den Blödsinn mit dem Christkind.«
»Oooh«, der Schneemann ließ betrübt seine Rübennase hängen. Dann erhellte sich sein rundes Gesicht wieder.
»Aha, dann glaubst du sicher an den Weihnachtsmann«, meinte er. »Das geht natürlich auch völlig in Ordnung.«
»Nein, an den Weihnachtsmann glaube ich auch nicht. Das sind alles nur Märchen für kleine Kinder, nichts weiter.«
»Das ist aber schade für dich. Ich bin jedenfalls fest davon überzeugt, dass mein größter Wunsch heute Nacht in Erfüllung gehen wird«, strahlte der Schneemann.
»Und der wäre?«
»Also gut, ich verrate es dir.« Verstohlen schaute sich der Schneemann um. »Ich wünsche mir sehnlichst, dieser elenden Kälte zu entfliehen. Ich möchte in den Süden. Am Meer unter Palmen sitzen und die Sonne genießen, ohne dabei zu schmelzen. Das wäre einfach zu schön.«
Bernd lachte laut auf.
»Na dann träum mal schön weiter, lieber Schneemann. Träum dir am besten noch einige Handtücher dazu, damit du deine eigene Pfütze gleich aufwischen kannst.«
Der Schneemann sah ihn beleidigt an.
»Lach du nur. Ich bin mir sicher, dass mein Wunsch sich erfüllt, auch wenn er noch so abwegig erscheint. Und du kannst erzählen, was du willst, ich bin fest davon überzeugt, dass du auch einen geheimen Wunsch in deinem Herzen trägst.«
»Nein«, sagte Bernd. »Ich habe alles, was ich brauche und wenn mir etwas fehlt, dann kauf ich es mir eben.«
»Du willst mich anscheinend nicht verstehen. Ich meine Wünsche, die nur das Christkind oder der Weihnachtsmann erfüllen können. Wünsche, die man für kein Geld der Welt kaufen kann. Komm schon, irgendetwas muss es doch geben«, drängte der Schneemann.
Bernd dachte angestrengt nach und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin wunschlos glücklich und rundherum zufrieden. Und selbst wenn ich einen dieser geheimen Wünsche hätte, würde er sich sicher nicht ausgerechnet Weihnachten erfüllen. Ich glaube einfach nicht an Weihnachtswunder«
»Noch nie?«
»Naja, früher als ich ein Kind war, glaubte ich ganz fest ans Christkind«, gab Bernd  zu. »Und auch mein Sohn Jens glaubte daran, als er noch klein war. Aber wenn man erwachsen ist, weiß man es halt besser.«
»Dein Sohn? Wo ist der denn? Ich kann ihn nirgendwo sehen. « Neugierig sah der Schneemann sich um.
»Mein Sohn lebt nicht mehr hier. Vor vielen Jahren haben wir uns gestritten und seitdem nicht mehr miteinander geredet. Ich weiß gar nicht mehr, worum es bei unserem Streit überhaupt ging.« Bernd verstummte und auch der Schneemann schwieg.
»Nun ja«,  sagte Bernd nach einer Weile mit etwas belegter Stimme. »Das ist alles lange her. Jens wohnt jetzt in einer anderen Stadt. Soviel ich weiß, hat er nun eine eigene Familie.«
»Das ist aber sehr traurig«, hauchte der Schneemann und eine glitzernde Eisträne rann über sein Gesicht.
Langsam wurde es dunkel. Hinter den Fenstern der umliegenden Häuser sah man den Lichterglanz der Christbäume. Hin und wieder hörte man helles Kinderlachen. Aus der Ferne erklang das Spiel einer Blockflöte.
»Fast wie früher bei uns daheim«, flüsterte Bernd und es klang ein wenig wehmütig.
Ein leichtes Lächeln zog über das Schneemanngesicht. »Manche Wünsche sind manchmal so geheim, dass man sie selber gar nicht kennt. Alte Schneemannweisheit« , sagte die weiße Gestalt leise.
Bernd räusperte sich. »So, es wird nun langsam Zeit wieder hineinzugehen. Ich wünsche dir viel Glück bei deinem Wunsch, Schneemann. Und falls es nicht klappen sollte …« Bernd nahm seinen Schal ab und band ihm den Schneemann um den Hals. Anschließend stülpte er ihm noch seine Mütze über den Kopf. »Hier, mein Weihnachtsgeschenk für dich, damit du nicht frierst.«
Der Schneemann war gerührt. »Ich wünsche dir auch frohe Weihnachten. Und dass all deine Wünsche in Erfüllung gehen.«
Bernd schüttelte lachend den Kopf. »Du gibst wohl nie auf, was?«
Bernd stapfte zurück ins Haus und verbrachte den Abend wie jeden Tag vor dem Fernseher. Weihnachten war halt nichts Besonderes. Trotzdem konnte er sich nicht richtig auf das Fernsehprogramm konzentrieren. Immer wieder musste er an das seltsame Gespräch mit dem Schneemann denken. Aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu dem Entschluss, dass er sich alles nur eingebildet hatte. Und als er endlich zu Bett ging, war er fest davon überzeugt, dass schlichte Überarbeitung die Ursache war.
Am nächsten Morgen hatte es aufgehört zu schneien. Die Sonne schien von einem blitzblauen Himmel. Bernd trat vor die Tür und atmete tief die frische klare Winterluft ein.
Sein Blick glitt durch den Garten. Kein Schneemann weit und breit zu sehen. Er hatte es ja gewusst, alles nur eingebildet. Aber was lag denn dort drüben im Schnee, genau an der Stelle, wo er gestern einen Schneemann zu sehen geglaubt hatte? Da lagen ordentlich zusammengefaltet sein Schal und seine Mütze. Oben auf lag eine Weihnachtskarte. »Noch einmal vielen Dank, aber wo ich hingehe, brauche ich die warmen Sachen nicht. Liebe Grüße, Schneemann.«
Bernd starrte auf die Karte. Aber noch bevor er richtig begreifen konnte, was die Worte bedeuteten  hielt ein Auto vor dem Haus. Ein Mann, der eine jüngere Ausgabe von Bernd zu sein schien, stieg aus und kam zögerlich näher. Dahinter eine Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand. »Hallo Papa … frohe Weihnachten.«
Bernd stockte der Atem und ließ die Karte fallen.   »Manche Wünsche sind manchmal so geheim, dass man sie selber gar nicht kennt. Alte Schneemannweisheit«, wisperte es im Schnee um ihn herum.

Einige Wochen später erhielt Bernd Post aus der Karibik. Der Brief enthielt ein seltsames Foto. Auf dem Bild sah man das Meer und einen weißen Sandstrand. Unter grünen Palmen stand ein Liegestuhl. Darauf lagen drei verschieden große Kugeln Schokoladeneis. Und in der kleinsten Kugel steckte eine dicke gelbe Mohrrübe, die sich keck einem strahlend blauen Himmel entgegen reckte.

© Martina Pawlak 2017

 Kurzvita:
Martina Pawlak, Jahrgang 1967, lebt mit Mann, zwei Söhnen und einer Katze am Rande des nördlichen Ruhrgebietes. Im Laufe der Jahre entstanden zahlreiche Kurzgeschichten und Kinderbücher, die als eBook, teilweise auch als Printausgabe, veröffentlicht wurden.
Autorenseite auf Amazon: https://www.amazon.de/Martina-Pawlak/e/B008JANNOI/ref=ntt_dp_epwbk_0
 http://martinasbuecherkiste.jimdo.com/
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