Donnerstag, 8. Dezember 2011

Zwischenfall im Advent von Lutz Schafstädt

 

Die Stadtrandsiedlung hüllte sich in Weihnachtsglanz. Pünktlich zum ersten Advent wurde der Festschmuck aus Baumärkten herangeschleppt, dunklen Kellerecken entrissen und in verstaubten Kisten wiederentdeckt. Er eroberte die Stuben, drückte sich funkelnd gegen die Fenster, erfasste Dächer und Giebel. Schließlich sprang er auf die Vorgärten über und Lichterketten überwucherten alles, was Zweige hatte.

Wo das wohl noch hinführt, dachte Polizeimeister Kühn, während er eine Leuchtgirlande am Gartenzaun befestigte. Nachdem am Vortag die Installationen der Nachbarhäuser bis an seine Grundstücksgrenzen vorgedrungen waren, hatte er handeln müssen. Der Glanz der eigenen Dekoration drohte daneben zu verblassen. Also war er nach Dienstschluss in den Baumarkt gehetzt und verlegte nun mit kalten Fingern weitere Kabel.

Im Laufe der Jahre war der weihnachtliche Schmuck der Straße zu einer Attraktion für die ganze Stadt geworden. Da galt es mitzuhalten. Nein, nicht der Leute wegen, rechtfertigte er sich immer, wenn Kollegen ihn kopfschüttelnd auf die Verschwendung hinwiesen. Ihm ginge es allein um seine beiden Kinder. Wenn sich das künstliche Firmament in ihren staunenden Augen spiegelte, war jeder Aufwand gerechtfertigt. Er schaltete den Strom ein, ging einige Schritte auf die Straße und betrachtete, mit verschränkten Armen, zufrieden sein Werk.

„Herr Kühn“, hörte er hinter sich eine aufgeregte Stimme. „Herr Kühn, kommen Sie schnell! Alles kaputt geschlagen! Es ist ungeheuerlich!“ Der sich nähernde Schatten wurde zu einer Frau, die er vom flüchtigen Sehen kannte. Sie wohnte am Waldrand, am Ende der Straße, und er war verblüfft, dass sie seinen Namen kannte. „Na, beruhigen Sie sich erst einmal. Was ist denn passiert?“ „Die Lämpchen. An unserer Tanne“, erklärte sie atemlos. „Jemand hat sie zerstört. Zerschossen! Eines nach dem anderen. Einfach ausgeschossen. Und der Stern an der Haustür: dasselbe.“ „Aber wer macht denn so etwas und vergreift sich …?“, fragte er halb erstaunt, halb zweifelnd und warf einen besorgten Blick auf das Lichtermeer vor seinem Haus. „Genau! Sie sind doch Polizist. Sie müssen sich das ansehen.“ Er sei nicht im Dienst, wollte er ihr antworten. Sollte sie doch seine Kollegen auf dem Revier anrufen. Weil aber sehr wahrscheinlich war, dass sie maßlos übertrieb, entschied er sich, zunächst einmal selbst einen Blick auf den Schaden zu werfen.

Sie gingen die Straße hinauf, vorbei an glitzernden Fenstern und Fassaden. „Ich kann mir denken, wer zu so einer Gemeinheit fähig ist“, keuchte die Frau. „Die Meiers von nebenan! Die haben sich erst neulich beschwert. Dass unser blinkender Schneemann in ihr Schlafzimmer leuchtet. Sie verrückt macht! Die haben immer was zu meckern. Keinen Sinn für Schönheit! Haben Sie schon deren Fichte gesehen? Mickrig.“ „Nun immer langsam“, erwiderte Kühn und dachte darüber nach, ob die kleinen Wölkchen, die aus ihrem Mund strömten, wirklich nur von der Kälte verursacht wurden. „Sie werden es schon sehen. An den Spuren.“ Ein älterer Mann kam ihnen entgegen. Schon von weitem rief er: „Das können Sie sich nicht vorstellen, was eben passiert ist.“ „Ihre Weihnachtsbeleuchtung? Kaputt?“, fragte die Frau und der Alte blieb überrascht stehen. „Woher wissen Sie?“ „Bei uns auch! Hier, Herr Kühn. Der ist Polizist. Wir wollen gerade zum Tatort.“ „Halt, halt“, mischte Kühn sich ein. „Keine voreiligen Schlüsse. Wo wohnen Sie denn?“ „Bei mir, schräg gegenüber“, übernahm die Frau das Antworten. „Oh, es ist ein Anschlag. Auf den Weihnachtsfrieden. Bestimmt sind noch mehr betroffen.“ Kühn sah, dass in etwa hundert Metern Entfernung ein weiterer Anwohner vor sein Haus trat. Was, wenn sie recht hätte? Er sollte besser seine Kollegen anrufen. „Sie können die Attentäter vielleicht noch fassen“, trieb die Frau zur Eile an und zog an seinem Arm. „Es kann nicht lange her sein.“ „Das sind Neider, ich sag es Ihnen“, brummte der Alte. „Bestimmt aus dem Wohnblock am Kreisverkehr. Man weiß ja, was da im letzten Jahr für Volk einquartiert wurde. Was wissen die schon von Weihnachten!. Ich hab immer gewusst, dass die irgendwann handgreiflich werden. Es gibt keine Ordnung mehr.“ „Genau!“, sagte die Frau. „Unsinn!“, meinte Kühn. „Immer schön sachlich bleiben.“ Er spürte, dass er zu frieren begann.

Plötzlich war ein Klirren zu hören. Kurz, wie zerspringendes Glas. Kühn drehte den Kopf und sah noch, wie in dem Haus direkt neben ihnen schlagartig die Girlanden am Fenster erloschen. Jeder Muskel in ihm spannte sich. Er lauschte. Da hörte er es, ein verräterisches Rascheln. Mit wenigen Schritten erreichte er den flachen Zaun, sprang darüber hinweg, stürmte auf einen Busch zu, warf sich dahinter und packte den Schatten, der sich dort zu verbergen suchte. [...]

“Zwischenfall im Advent” ist eine Leseprobe aus "Nadelprobe"