Donnerstag, 15. Dezember 2011

Axel, das Meerschweinchen von Monique Lhoir


„Erwachsene sind blöd.” Florian saß im Schlafanzug auf einer Spielzeugkiste, die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in die Hände gestützt. „Ich soll nicht stören. Sie müssen etwas Wichtiges besprechen. Besprechen. Was kann man schon über einen Weihnachtsbaum besprechen.“ Theatralisch atmete er tief durch. „Immer, wenn sie etwas besprechen, streiten sie.” Missmutig trat er gegen den Fußball, der prallte an die Wand und landete anschließend auf dem Käfig. Erschrocken sprang Axel, das Meerschweinchen, in die Höhe. Streu flog durch die Gitterstäbe auf den Teppich.
„Entschuldige.” Florian nahm den Ball und legte ihn in die Ecke. „Dir geht es genauso wie mir. Ich bin eingesperrt und du bist eingesperrt. Mami sagt, ich zerre an ihren Nerven und du frisst die Stromkabel an. Also darf ich dich nicht rauslassen.“
Florian legte sich bäuchlings vor den Käfig und steckte den Finger durch das Gitter. Axel schnupperte daran.
„Ich weiß ganz genau, was sie Wichtiges zu besprechen haben. Es geht gar nicht um den Tannenbaum. Papi will uns verlassen, weil Mami Papi nicht mehr haben will.”
Axel kam näher, ließ sich von Florian das Fell kraulen, legte seinen Kopf schräg und zwinkerte ihm zu.
„Du bist der Einzige, der mir zuhört.” Florian seufzte. “Papi sagt, Mami ist langweilig und Mami sagt, Papi ist langweilig. Deshalb wollen sie sich trennen. Mich hat niemand gefragt, ob mir langweilig ist. Und morgen ist Heiligabend.”
Axel quiekte, stellte sich auf die Hinterbeine und krallte sich mit den Vorderpfoten an den Gitterstäben fest.
„Ist dir auch langweilig?” Florian kam mit seinem Gesicht näher an den Käfig und stupste mit seiner Nase dagegen. Erschrocken sprang Axel ein Stück zurück.
„Willst du raus?”
„Natürlich.”
Florian starrte das Meerschweinchen an. „Du kannst ja sprechen! Hast du mich denn verstanden?”
„Na klar. Ich verstehe alles.”
„Aber wenn ich dich rauslasse, bekomme ich Ärger mit Mami.”
„Ich verspreche, dass ich keine Stromkabel anknabbere”, erklärte Axel und wackelte mit dem Schnäuzchen. „Stromkabel anknabbern! Als wenn Meerschweinchen nicht wüssten, dass das gefährlich ist.”
„Okay, ich lass dich raus. Aber wir müssen leise sein, damit Mami nichts hört.” Florian öffnete die Käfigtür und Axel lief rasch hinaus.
„Was machen wir nun?” Florian stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wir könnten Fangen spielen.”
„Fangen spielen ist gut.” Florian sah auf Axel hinunter. „Fangen spielen ist nicht langweilig. Das sollten Mami und Papi auch mal machen. Ich gebe dir Vorsprung.”
„Alles klar.” Axel verschwand blitzschnell hinter Florians Bettkasten.
„Das ist unfair!”, brüllte Florian und schob den Kasten zur Seite, aber Axel entwischte und versteckte sich hinter der Kinderbank.
„Wie soll ich dich denn bekommen, wenn du so schnell bist?” Florian robbte auf Knien durchs Zimmer. Polternd fiel die Lego-Kiste um.
„Was ist denn hier los?” Florians Mutter Marion riss die Tür auf. „Ich hatte dich gebeten, ruhig zu sein. Papi und Mami haben etwas miteinander zu bereden.”
Florian drehte sich um und setzte sich auf den Boden. „Reden ist doof. Ich spiele Fangen.”
„Mit wem spielst du Fangen? Du bist doch allein.”
„Mit Axel natürlich.“
„Mit dem Meerschweinchen? Sag bloß, du hast es rausgelassen?” Auch Florians Vater erschien nun in der Tür.
„Stefan!” Florians Mutter stöhnte. “Der Junge hat das Meerschweinchen rausgelassen. Jetzt frisst es die Stromkabel an.” Sie sprang zur Seite. „Da! Da läuft es. Nun ist es im Wohnzimmer! Steh nicht so blöd rum, Stefan! Tu doch endlich etwas!”
Florian krabbelte auf den Flur hinaus, drehte sich um und rief: „Wir spielen Fangen! Ihr dürft mitspielen.”
Axel lugte hinter dem Christbaumständer, in dem er Weihnachtsbaum bereits eingestielt war, hervor und putzte seine Öhrchen; dabei zwinkerte er Florian zu.
Stefan wollte Axel schnappen, doch der war schneller und huschte unter das Sofa. Im gleichen Moment kippte der Tannenbaum um und prallte mit der Spitze auf den Wohnzimmertisch. Entschlossen zog Marion ihren engen Rock hoch. Mit entblößten Beinen rutschte sie über den Boden, unter den schräg liegenden Baum hindurch.
„Das ist mein Fuß!”, rief sie plötzlich und drehte sich nach Stefan um. Der krabbelte ebenfalls auf Knien hinter ihr her.
„Aber Papi, du sollst nicht Mami fangen, sondern Axel. Das sind die Spielregeln: Wenn Mami Axel gefangen hat, dann erst darfst du sie jagen.” Florian legte sich auf den Bauch, um nach dem Meerschweinchen zu greifen, doch nun huschte es über den Flur in die Küche.
„Da! Da!”, rief Florian, rappelte sich hoch und rannte hinterher.
Stefan stürmte ihm nach; dabei stolperte er über Marions Beine und fiel über sie. „Verdammt noch mal!” Schnaufend blieb er auf Marion neben dem Weihnachtsbaum liegen. Einige Tannennadeln staken aus seiner Hand.
„Seid ihr etwa schon schlapp?” Florian rannte am Wohnzimmer vorbei wieder ins Kinderzimmer. „Wir haben doch gerade erst angefangen.”
Stefan rollte sich von Marion. „Wo ist denn meine Brille?”
„Da hast du dich gerade draufgeworfen.” Marion stand auf, gab Stefan die Hand und zog ihn hoch. Rums. Beide stießen mit den Köpfen zusammen und plumpsten auf das Sofa.
„Ich hab ihn, ich hab ihn! Ich bin jetzt dran! Jetzt müsst ihr mich fangen!” Florian kam ins Wohnzimmer.
Stefan und Marion rieben sich die Köpfe.
„Das geht nicht. Papi kann nichts mehr sehen, er hat seine Brille kaputt gemacht. Und schau dir mal diese Bescherung an, die dein Axel angerichtet hat.“ Sie zeigte auf das Chaos im Wohnzimmer.
„Aber Flori werde ich noch sehen können, so alt bin ich nun auch wieder nicht.” Er rannte hinter Florian her.
„Und was ist mit dem Baum?“, rief Marion hinterdrein.
„Da kümmere ich mich gleich drum.“ Stefan erwischte Florian im Badezimmer. „Nun, kleiner Mann”, sagte er, „jetzt wird es aber Zeit, dass du schlafen gehst.” Er nahm seinen Sohn auf den Arm und trug ihn ins Kinderzimmer. Marion erschien kurz danach. Sie drückte sich ein feuchtes Handtuch auf die Beule. Ihre blonden Haare hatten sich gelöst und fielen wild über ihre Schultern.
„Guck mal Papi, Mami sieht jetzt aus wie ein Christkind.” Florian zeigte auf sie. „Spielen wir morgen wieder Fangen?”
„Recht hast du, Mami sieht aus wie ein Christkind.“ Stefan deckte Florian zu und schaute sich verlegen zu Marion um.
„War doch gar nicht langweilig, oder?” Florian lugte aus den Kissen hervor.
„Nein, das war gar nicht langweilig. Und ich verspreche dir, dass wir drei morgen einen wunderbaren heiligen Abend feiern, uns nicht streiten und anschließend zusammen Fangen spielen.” Stefan küsste Florian auf die Wange, knipste die Lampe aus, und schloss leise die Tür.
„Tut es weh?”, hörte Florian. „Soll ich dir einen Eisbeutel machen? – Wir könnten den Weihnachtsbaum wieder aufrichten, danach eine Flasche Wein öffnen, eine Kerze anzünden...“
Und dann vernahm Florian gar nichts mehr. Mami und Papi hatten wohl nichts mehr zu bereden.
Langsam zog er den Meerschweinchenkäfig näher zu sich ans Bett. Erschöpft lag Axel in einer Ecke.
„Das war aber eine tolle Idee von dir”, flüsterte Florian und streute ein paar Körner in den Käfig. „Fangen spielen ist gut gegen Langeweile. Nun sind sie wieder fit. Aber woher wusstest du ...“
„... was du dir zu Weihnachten gewünscht hast? Das war nicht schwer zu erraten, denn ich bin dein Freund.“ Axel zwinkerte Florian zu.
„Mein bester Freund. Und ich verrate niemandem, dass du sprechen kannst. Großes Ehrenwort!”
© Monique Lhoir