Freitag, 5. Dezember 2014

Ach du heilige Familie von Monique Lhoir




Foto von Monique Lhoir
 „Da spiele ich nicht mit.“ Elvira wandte sich ab und starrte die auf der Küchenablage stehende Teekanne an. Tränen traten ihr in die Augen.
„Mama, du benimmst dich wie ein störrischer alter Esel. Wir sind nach Neujahr wieder zu Hause und holen die Bescherung nach.“
„Niemand holt im Januar eine Bescherung nach. Jedenfalls ich nicht“, fügte Elvira leiser hinzu. ‚Alter störrischer Esel‘, dachte sie traurig. War sie mit sechzig alt?
„Wir haben gebucht und fahren in die Berge“, erklärte Antje fest. „Designhotel mit Schneegarantie.“
Elvira unterdrückte die Tränen und drehte sich langsam um. Heulen konnte sie später, wenn Antje weg war. „Ich bleibe auf keinen Fall allein zu Haus“, sagte sie ruhig.
„Wo willst du hin?“ Irritiert schaute Antje ihre Mutter an.
Einen Augenblick überlegte Elvira. „Ich fahre nach Föhr“, kam ihr ein Blitzgedanke. „Ich feiere Weihnachten auf der Insel.“
„Was willst du im Winter auf Föhr? Da ist gar nichts los.“ Antje bekam ihre Sicherheit zurück. „Den Heiligabend mit Seehunden auf einer Sandbank verbringen?“, fragte sie spöttisch.
„Auch gut.“ Elvira schaute ihre Tochter nachdenklich an. „Zumindest haben Seehunde mehr Gefühl als du.“ Elvira wurde übermütig. „Ich werde ihnen ein paar Fische mitbringen und Bescherung machen.“ Elvira tänzelte kindlich hin und her.
„Du bist völlig übergeschnappt. Mit dir ist nicht zu reden.“ Antje drehte sich um. „Ich muss weg. Ich habe Termine.“ Mit einem Achselzucken verließ sie die Wohnung.

Nachdenklich ging Elvira ins Wohnzimmer. Jetzt liefen die Tränen. es wäre das erste Jahr, dass sie allein Weihnachten feiern würde. Ihr Mann hatte sie vor einem Jahr wegen einer Jüngeren verlassen, Antje und ihr Mann Alexander hatten am Stadtrand gebaut, sodass sie Jonas, ihren vierjährigen Enkelsohn, seltener sah.
Elvira holte tief Luft, suchte in ihrer Handtasche nach dem iPhone. Das hatte ihr Antje, die aufstrebende Anwältin, verpasst. Sie war der Meinung, dass Frau von Heute das braucht. Mit dem Zeigefinger tatschte Elvira auf das Display, rief ihre Kontakte auf und wählte eine Nummer. Der Ruf ging durch.
„Hallo Imke, hier ist Elvira“, sagte sie. „Hast du über Weihnachten noch was frei?“
„Wir sind komplett ausgebucht“, bekam sie bedauernd zur Antwort. „Die große Wohnung wurde gerade angefragt.“
„Die nehme ich.“
„Willst du die Feiertage mit Familie auf der Insel verbringen?“
„Ich komme allein.“ Kurz erklärte Elvira das soeben Erlebte.
„Die Wohnung ist für sechs Personen. Du wirst dich darin verlaufen.“
„Besser verlaufen als in die Ecke gestellt zu werden.“
Anschließend rief Elvira die Fährverbindungen auf, reservierte online die Überfahrt. Wozu so ein iPhone doch gut ist, stellte sie aufgeräumt fest und ging ins Badezimmer. Die Schminke war verlaufen, dunkle Schlieren zeichneten sich auf ihren Wangen ab. Sie wischte sie fort und betrachtete ihr Gesicht. ‚Alt‘, dachte sie empört. es war kaum eine Falte zu sehen. Die Haare hatten immer noch eine frische Farbe. Ihre Großmutter war damals alt. Die hatte einen grauen Dutt und sah abgehärmt aus. Heute mussten die Menschen bis siebenundsechzig arbeiten, um in Rente gehen zu können. Sie musste dringend über die Feiertage Urlaub bei ihrer Firma einreichen. Bis zu ihrer Abreise waren es knapp vierzehn Tage.

In Dagebüll war der Teufel los. Alle Wartespuren zur Fähre waren besetzt. Ferienbeginn. ‚Von wegen nichts los‘, dachte Elvira, als sie endlich mit Verspätung im Bauch der „Nordfriesland“ stand und die Handbremse anzog. Sie blieb während der Überfahrt in ihrem Wagen, griff nach hinten, um sich eine geschmierte Stulle zu angeln. Ein riesiger Karton nahm die gesamte Rückbank ein. Idiotisch. Sie verstand selbst nicht, warum sie dieses Ungetüm überhaupt mitgenommen hatte: Quietschgelber Tretbagger für Jonas zum Weihnachtsfest.
Langsam schlängelte sich die „Nordfriesland“ durch den Eisgang. Seit einer Woche war es klirrend kalt und die Nordsee drohte zuzufrieren.

Imke umarmte Elvira und half ihr, das Gepäck in die Wohnung zu tragen. „Welches Zimmer willst du?“, fragte sie scherzhaft und zeigte auf die drei Schlafräume.
„Ich werde nachher würfeln.“ Elvira zog die Daunenjacke aus.
„Du kannst mir beim Backen helfen. Hauke hat verlängerten Dienst. Alle Fähren sind ausgebucht. Wegen des Eisgangs fahren sie rund um die Uhr.“
„Das habe ich gemerkt. Am Fähranleger war mehr los als zur Sommerzeit.“
„Alles besetzt“, plauderte Imke weiter. „Sylt – Amrum – Föhr – kein Zimmer mehr zu kriegen. Schau mal hinaus. Da hast du aber Glück gehabt.“
Elvira späte durch die Fensterscheibe. Inzwischen war es dunkel geworden. Im Laternenschein erblickte sie dichtes Schneetreiben.

Heiligabend verbrachte Elvira mit Imke und Hauke. Zuerst besuchten sie eine feierliche Veranstaltung in der St.-Nicolai-Kirche und schlossen ein gemütliches essen an. Hauke hatte an den folgenden Tagen Dienst. Inzwischen bedeckte eine dicke Schneedecke die Insel.
Am zweiten Weihnachtstag stapften beide Frauen durch die Winterlandschaft von Wrixum nach Wyk und steuerten den Weihnachtsmarkt an.
„Gönnen wir uns zur Feier des Tages einen Glühwein.“ Imke zog Elvira zu einem überfüllten Stand, an dem Weihnachtsmusik trällerte. „Mit Schuss“, bestellte sie. „Haben sich deine Kinder gemeldet?“ Imke nippte am Becher.
„Nichts. Nicht einmal Weihnachtsgrüße“, erklärte Elvira traurig. Beiden Frauen orderten einen weiteren Glühwein, natürlich mit Schuss.
„Bei dir klingelt‘s“, kicherte Elvira leicht beschwipst.
„Wie bitte?“ Irritiert drehte sich Imke um.
„Deine Handtasche. Sie klingelt“, wiederholte Elvira.
Imke stellte den Becher ab und begann in ihrem Beutel zu kramen. „Jetzt ist niemand mehr dran“, meinte sie, als sie endlich ihr Handy in der Hand hielt. Sie drückte ein paar Tasten. „Ich muss zurückrufen“, erklärte sie entschuldigend. „Könnte sein, dass jemand eine Ferienwohnung buchen will.“
„Mit Familienschuss und Glühwein“, lallte Elvira kichernd.
Imke meldete sich, lauschte eine Weile schweigend. „Einen Moment.“ Sie reichte Elvira das Handy. „Ist für dich.“
„Ich vermiete keine Wohnungen.“
„Geh ran“, forderte Imke eindringlich auf.
„Ja?“, fragte Elvira zögernd.
„Mama, wieso gehst du nicht an dein Telefon?“
„Weil es nicht klingelt“, antwortete Elvira völlig überrascht.
„Wo bist du?“
„Auf einer Sandbank und füttere Seehunde. Wie geht es euch?“
„Beschissen.“
Das Gespräch brach ab. Elvira reichte Imke das Handy zurück. „Ihnen geht’s beschissen“, sagte sie.
„Sie sitzen bei uns auf der Treppe und warten“, meinte Imke inzwischen völlig nüchtern. „Sie haben deinen Wagen vor der Tür gesehen und deshalb mich angerufen, weil du dich nicht meldest. Wo ist dein Telefon?“
„In der Handtasche“, erwidert Elvira und kramte darin herum. „Ach je“, sagte sie reumütig und hielt inne. „Ich hab das dumme Ding nach meiner Ankunft in einem der vielen Zimmer an die Strippe gelegt und völlig vergessen. Das ist jetzt bestimmt gut geladen.“
„Deine Familie auch.“

Als Elvira und Imke in Wrixum ankamen, war es stockfinster und schneite. Auf der Eingangstreppe saßen eng aneinandergeschmiegt Antje, Alexander sowie Jonas, mit Schneehäubchen bedeckt, die im Laternenlicht hell erstrahlten.
„Ach du heilige Familie“, flüsterte Elvira und hielt sich die Hand vor dem Mund.
„Kommt mal in unsere warme Hütte.“ Imke öffnete die Tür.
„Wo steht euer Auto?“, fragte Elvira wortkarg.
„Auf dem Parkplatz in Dagebüll“, erwiderte Alexander. „Sie transportieren nur noch Autos, wenn die Leute eine Bleibe nachweisen können. Föhr, Amrum und Sylt sind komplett ausgebucht.“
„Hm. Habt ihr Hunger? Ich kann euch Suppe mit Bauer Nielsens Nudeln machen.“
„Ich sterbe vor Hunger. Wir sind seit zwei Tagen unterwegs und haben heute kaum was gegessen.“ Antje stellte den Rucksack in eine Ecke. „Können wir bei dir schlafen?“, fragte sie kleinlaut.
„Sind genug Zimmer da.“ Elvira öffnete die Türen zu den jeweiligen Räumen. „Da ist ja das blöde iPhone!“, rief sie erfreut und nahm es von der Strippe.
„Mama.“ Antjes Blick sprach Bände.
Elvira zog den Kopf ein. „Ich weiß, störrischer alter Esel.“

„Möchtest du einen Schluck?“, fragte Elvira ihre Tochter und öffnete eine Thermoskanne.
„Was ist das?“
„Glühwein mit Schuss. Tut bei Kälte gut.“ Sie saßen in Utersum auf der Bank und schauten Jonas zu, wie er mit dem quietschgelben Bagger Schneehaufen am Strand auftürmte. Die Sonne meinte es seit ein paar Tagen gut mit ihnen gut.
„Das war ein schöner Urlaub“, sagte Antje. Am Vormittag hatten sie in Wyk dem traditionellen Neujahresschwimmen zugeschaut, an den anderen Tagen ein Puppentheater, Konzerte und Veranstaltungen besucht. „Toll, dass du morgens früh nach unserer Ankunft aufs Festland gefahren bist, um Jonas‘ Geschenke zu holen. Er hatte eine wundervolle Bescherung.“
Elvira füllte erneut Antjes Becher. „Warum seid ihr überhaupt auf die Insel gekommen?“
„Tirol war ein Reinfall. Nicht mal Schnee. Das Hotel so designmäßig, dass es nicht zu einem Weihnachtsbaum reichte. Wir packten Jonas‘ Geschenke gar nicht erst aus. Das Menü mussten wir auf den Tellern suchen, das Zimmer war eine Eishöhle. Wir beschlossen, sofort wieder abzureisen und versuchten, dich anzurufen. Du nahmst nicht ab.“
„Dieses iPhone muss ständig an die Strippe. Die Akkus taugen nichts.“
„Du bist mir immer noch böse“, stellte Antje fest und blinzelte ihre Mutter an. „Wegen dem störrischen alten Esel?“
„Nein, nicht wegen dem „störrisch. Das ist positiv. Aber „alt“ hätte wirklich nicht sein müssen. Vielleicht reif oder erfahren?“ Elvira schaute ihre Tochter amüsiert an.
„Das geht gar nicht.“ Antje kicherte. „Wie klingt das denn: Du bist ein störrischer, reifer und erfahrener Esel.“ Sie hielt Elvira erneut den Becher hin.
„Gar nicht schlecht.“ Elvira grinste. „Hört sich wie eine Liebeserklärung an.“

© Monique Lhoir 2014



Monique Lhoir
Sie schreibt seit dem Jahr 2000 Kurzgeschichten und Romane und verfügt über diverse Veröffentlichungen. Ihre Liebe gilt Norddeutschland, hier insbesondere den nordfriesischen Inseln. Im Augenblick arbeitet sie am 6. und letzten Teil des historischen Romans „Arjan von Föra“.