Dienstag, 2. Dezember 2014

Sentimentaler Quatsch von Annette Paul



Illustration von Krisi Sz.-Pöhls
Verdrossen stapfte Sigurd von einem Fuß auf den anderen. Musste im Supermarkt dieses blöde Weihnachtsgedudel spielen? Er hielt nichts vom Christfest, war froh, dass ihm Inge nicht mehr mit ihrer Sentimentalität auf den Geist ging. Trotzdem musste er ein paar Lebensmittel einkaufen, bevor die Läden drei Tage geschlossen waren. Nun stand er zwischen hektischen Frauen, erwartungsvollen Kindern und genervten Ehemännern eingezwängt, schaute auf die letzten Schokoladenweihnachtsmänner an der Kasse und hörte Weihnachtslieder.
Es schneite, als er nach Hause lief. Die alte Frau Meyn von gegenüber quälte sich mit dem Schneeschieber ab. Kurzerhand stellte er seine Tasche auf den Betonpfeiler ihrer Gartenpforte, nahm ihr die Schaufel ab und schob den Schnee schnell beiseite.
„Oh, vielen Dank, warten Sie einen Augenblick", sagte die alte Dame und verschwand in ihrem Haus.
Sigurd fegte den Eingang und die Treppe. Dann streute er Sand.
„Eine Kleinigkeit für Sie. Ich darf es doch wegen des Zuckers nicht essen", sagt Frau Meyn und hielt ihm ein in Weihnachtspapier verpacktes Geschenk hin.
Sigurd wollte ablehnen, aber als er in ihr strahlendes Gesicht blickte, brachte er es nicht über sich. Er bedankte sich, schnappte seine Tasche und verschwand.
Kaum hatte er seine Einkäufe verstaut, klingelte es. An der Tür stand Sascha mit einer großen Tasche.
„Sigurd, du musst uns retten. Unser Weihnachtsmann hat abgesagt."
„Und was hat das mit mir zu tun?"
„Du hast doch nichts vor und da dachten wir ..."
„Ich? Nee, schlag es dir aus dem Kopf."
„Das geht nicht. Merle und Joakim warten auf den Weihnachtsmann."
Sigurd schüttelte den Kopf.
„Du bist uns einen Gefallen schuldig. Schließlich hat Kathrin für dich eingekauft, als du den Gipsfuß hattest."
Mit zusammengebissenen Zähnen nahm Sigurd die Tasche und die Anweisungen entgegen.
Pünktlich um fünf Uhr klopfte er als Weihnachtsmann verkleidet eine Treppe höher an die Tür.
Er knurrte seinen Spruch und verteilte die Geschenke. Mehr konnte Sascha wirklich nicht verlangen. Bevor er ging, zupfte Merle an seinem Ärmel, stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn auf seine Nase. Er drehte sich schnell weg, bevor die anderen seine feuchten Augen sahen.
Daheim schaute er ins Fernsehprogramm. Drei Tage nur Schnulzen. Warum hatte er nicht vorher darauf geachtet? Ob die Videothek noch geöffnet war? Ein Spaziergang konnte nicht schaden.
An der Straßenecke überholte er Frau Bellmann, die ihren im Rollstuhl sitzenden Mann schob. 
„Wo wollen Sie denn hin?", fragte er.
„Zur Kirche", antwortete Herr Bellmann.
„Das schaffen Sie nie", rutschte Sigurd heraus.
„Aber mein Mann wünschte sich den Gottesdienstbesuch so sehr", sagte Frau Bellmann und kämpfte sich weiter.
Sigurd unterdrückte einen Fluch. Brauchten denn heute alle Hilfe?
Grob schob er Frau Bellmann zur Seite, nahm die Griffe und pflügte sich mit Herrn Bellmann durch den Schnee. Frau Bellmann kam kaum hinterher.
Als Sigurd die verschneite Rampe vor der Kirche sah, seufzte er und schob den Rollstuhl bis in die Kirche.
„Sie hat der Herrgott gesandt. Das hätte ich allein nie geschafft. Dass Sie auch genau diesen Gottesdienst besuchen", sagte Frau Bellmann und lächelte ihn an.
Sigurd wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich. Wie sollten Bellmanns ohne ihn nach Hause kommen?
Der Gottesdienst missfiel ihm nicht völlig. Zwanzig Jahre war er in keiner Kirche mehr gewesen. Aber es gab kein Gefasel vom Pastor, sondern eine junge Pastorin mit kurzen Haaren sprach humorvoll vom Weihnachtsstress und eine jugendliche Band spielte flotte Musik. Es herrschte eine fröhliche Stimmung, so ganz anders als zu seiner Konfirmandenzeit.
An der Kirchenpforte gab die Pastorin jedem die Hand.
„Vielen Dank, dass Sie Bellmanns hergebracht haben. Besuchen Sie uns doch öfter", sagte sie, dann drängten andere nach. Sigurd drehte sich noch einmal nach ihr um.
Vor ihrer Haustür bedankte sich Frau Bellmann. „Bitte kommen Sie auf einen Schluck Wein zu uns herein."
Sigurd nahm die Einladung an und ärgerte sich gleich darauf über seine Gutmütigkeit.
Nach einem Glas Grog nahm Herr Bellmann sein Schifferklavier und spielte Weihnachtslieder. Mit dünner, zitternder Stimme sang Frau Bellmann dazu. Bei der zweiten Strophe ertrug Sigurd es nicht mehr und fiel mit seinem Bass laut ein.

©Annette Paul 2014

Annette Paul schreibt und veröffentlicht seit vielen Jahren Kurzgeschichten und Kindertexte, gern etwas zum Schmunzeln. Von ihr sind folgende Weihnachtsbücher: "Der ganz normale Weihnachtswahnsinn",  "Ratte Prinz im Weihnachtsbaum", "Weihnachtsmann im Weihnachtsstress" und "Weihnachtsmann hat noch mehr Stress".

Mehr von und über Annette Paul auf Probeschmökern bei Annette Paul.
Siehe auch die Autorenseite von Amazon.



Krisi Sz.-Pöhls ist 44 Jahre alt und lebt recht zurückgezogen in Oppenheim am Rhein.
Malen gehört seit ihrer Kindheit zu ihren Hobbys. Mittels Fortbildungen ist die Autodidaktin Künstlerin geworden.
Mehr von ihr auf ihrer Homepage www.salidaswelt.com
oder bei  www.zazzle.de/mbr/238764950947258943