Sonntag, 7. Dezember 2014

Ein Weihnachtsfest voller Überraschungen von Heidi Dahlsen

Foto von Eva Joachimsen



Der Schneefall vom Nachmittag ist unterdessen in einen tobenden Schneesturm übergegangen. Das Jaulen des Windes ist sogar in der Scheune deutlich zu hören.
Tillys Enttäuschung wächst. Sie macht sich Sorgen, dass die Theater-Aufführung ins Wasser fallen wird, nur weil der Prinz nicht anwesend ist. Als sie das Geräusch der sich öffnenden Tür vernimmt, kann sie erleichtert feststellen, dass Andy endlich gekommen ist. Sie stürmt auf ihn zu.
„Du kommst viel zu spät“, sagt sie vorwurfsvoll. „Komm. Wir müssen uns schnell umziehen.“
Er schiebt sie jedoch zur Seite und fragt aufgeregt: „Wo ist dein Onkel? Das ist ein Notfall. Ich muss unbedingt deinen Onkel sprechen.“
Er flüstert ihr etwas ins Ohr, worauf sie entsetzt die Augen aufreißt und losläuft. Andy folgt ihr. Sie sind beide schnell verschwunden.
Olli hat sie beobachtet und setzt sich ebenfalls in Bewegung. Bevor er jedoch die Tür geöffnet hat und hinausschaut, kann er im Schneesturm weder Tilly noch Andy entdecken, sodass ihm nur bleibt, die Tür schnell wieder zu schließen.
„Was ist los?“, fragt Christine.
„Ich weiß nicht. Andy hat von einem Notfall gesprochen, und dass er dringend Onkel Heinrich finden muss.“
Besorgt sieht sich Christine um und kontrolliert, ob alle Kinder anwesend sind. Erleichtert stellt sie fest, dass sie in der Nähe der Krippe sind. Daniel spielt mit dem Jesuskind. Als er den Blick seiner Mutter auf sich ruhen spürt, legt er die Puppe schnell zurück und deckt sie wieder mit Stroh zu. Mit leuchtenden Augen deutet er hinter den wunderschön geschmückten Weihnachtsbaum, wo viele Geschenke liegen. Christine hebt ihren Zeigefinger und droht ihm.
Bertram liegt neben dem Bernhardiner Cäsar. Er krault ihm den Hals und flüstert ihm ins Ohr: „Ich habe mir vom Weihnachtsmann einen droßen Hundi dewünscht.“
Sein Bruder Richard sitzt vor der Krippe. Er lässt seine Beine baumeln und schaut betrübt vor sich hin.
„Olli, nun tu doch etwas“, sagt Christine. „Ich kann die Kleinen nicht traurig sehen.“
„Denkst du vielleicht, mir gefällt das?“, antwortet er.
Bertram kommt auf sie zugelaufen. „Dommt jetzt der Weihnachtsmann?“
„Nein“, sagt Olli etwas genervt. „Wir müssen uns alle noch ein bisschen gedulden.“
Er nimmt seinen kleinen Sohn an die Hand und geht mit ihm zu Richard. Sie setzen sich zu ihm.
Als sich die Tür wieder öffnet, ruft Bertram aufgeregt: „Jetzt dommt endlich der Weihnachtsmann.“
Es ist aber nur Tilly, die völlig außer Atem ist. An ihrem Gesichtsausdruck ist abzulesen, dass etwas Schlimmes passiert sein muss, denn sie ist ganz blass und hat Tränen in den Augen. Schnell geht sie zu Oma Hedwig und flüstert mit ihr. Dann läuft sie zur Tür zurück und hält diese auf, damit Onkel Heinrich und Andy eintreten können. Die beiden tragen einen großen Hund, dessen Fell mit Schnee bedeckt und teilweise bereits vereist ist. 
Oma Hedwig hat unterdessen in der hintersten Ecke des Kaminzimmers eine Decke ausgebreitet. Vorsichtig legen die Männer den Hund darauf ab.
Onkel Heinrich kratzt sich ratlos am Kopf.
„Ich dachte, das gibt’s doch nicht, als mir Andy erzählte, dass jemand am Parkplatz einen Hund angebunden hat und das bei diesen eisigen Temperaturen“, sagt er kopfschüttelnd. „Wer weiß, wie lange der arme Kerl schon dort lag?“
„Als wir ankamen, war da noch kein Hund. Den hätten wir gesehen“, meint Olli und Christine ergänzt: „Ganz bestimmt.“
Alle haben sich im Kaminzimmer versammelt und sind fassungslos.
„Der arme Hund“, sagt Daniel.
„Das ist furchtbar“, sagt Tilly.
Als Bertram erkannt hat, was die beiden Männer hereinbringen, hat sein kleines Herz einen riesigen Sprung gemacht. Er schiebt sich ganz langsam durch die Menge und betrachtet den Hund mit großen Augen. Sein Mund ist vor lauter Staunen geöffnet, und ein Leuchten breitet sich über sein ganzes Gesicht.
„Das ist mein Hundi“, flüstert er. „Den hat der Weihnachtsmann für mich debracht.“ Bevor jemand reagieren kann, geht er ehrfurchtsvoll auf den Hund zu und lässt sich auf die Decke fallen.  „Mein Hundi, mein Hundi“, ruft er immer wieder überglücklich und kuschelt sich an den verängstigten Hund.
Die Anwesenden sind nun noch mehr erschüttert und schauen ratlos auf den kleinen Jungen. Oma Hedwig erfasst als erste die absurde Szene und zieht Bertram mit sanfter Gewalt von dem Hund weg.
„Nein!“, schreit er und fängt an zu strampeln. „Das ist mein Hundi! Den hat mir der Weihnachtsmann debracht. Lass mich los.“
Olli ist vor Entsetzen wie gelähmt, deshalb nimmt Christine ihrer Mutter den zappelnden Jungen ab. Sie drückt ihn fest an sich und wiegt ihn wie ein Baby.
Bertram fängt an zu schluchzen und schreit: „Das ist mein Hundi …“
Tilly beugt sich zu dem Hund und knotet den Strick vom Halsband.
„Sieh mal, Onkel Heinrich, hier ist etwas befestigt“, sagt sie und faltet ein Stück Papier auseinander. Sie liest und reicht es ihm. Alle sehen gespannt zu ihr.
Sie streichelt den Hund und sagt leise: „Jetzt wird alles gut.“
Auf dem Zettel steht: „Heinrich! Dein Köter hat meine Hündin geschwängert. Sieh zu, wie Du mit ihr klarkommst. Ich will das Vieh nicht mehr sehen.“
Nachdem auch er das gelesen hat, schüttelt er den Kopf.
„Was ist?“, fragt Christine.
Onkel Heinrich winkt ab und sagt entschieden: „Sie bleibt auf jeden Fall bei uns.“ Er entfernt den restlichen Schnee aus dem Fell, streichelt ihr über den Kopf und sieht sie voller Mitleid an.
„Wir sollten sie in Ruhe lassen“, sagt er zu den anderen und gibt ihnen durch ein Handzeichen zu verstehen, das Kaminzimmer zu verlassen.
Oma Hedwig bringt eine Schüssel mit Wasser und hält diese der Hündin hin, die sogleich gierig säuft.
„Wer tut nur so etwas, ausgerechnet am Weihnachtstag?“, fragt sie Heinrich.
„Mein alter Schulfreund Egon“, antwortet er. „Von ihm kann man nichts anderes erwarten.“ Leise fügt er hinzu: „Er verdächtigt unseren Cäsar, der Vater ihrer Welpen zu sein.“
Oma Hedwig ist fassungslos. Auf einmal stutzt sie und sieht Heinrich an. „Moment mal. Das kann gar nicht sein. Du hast doch schon vor Jahren dafür gesorgt, dass nichts mehr passieren kann, nachdem dich ein Züchter sogar verklagen wollte.“
„Eben“, sagt Heinrich.
Hedwig legt eine Hand auf den gewölbten Bauch der Hündin und bemerkt, dass die Geburt bereits in vollem Gange ist.
„Na dann, frohes Fest“, sagt sie nur und lächelt. „Nur gut, dass Andy sie rechtzeitig gefunden und sich um sie gekümmert hat. Der Junge hat doch nicht nur die Mädchen im Kopf.“
Sie geht mit Heinrich zu den anderen.
Die Erwachsenen unterhalten sich leise. Daniel und Richard sitzen ganz still an der Krippe, denn dieses Ereignis hat sie ziemlich erschreckt. Bertram weint vor sich hin und schaut immer wieder sehnsüchtig zu der Hündin.
Als sich alle etwas beruhigt haben, sagt Tilly, dass sie sich für die Theateraufführung umziehen gehen wollen.
Sie will Bertram mitnehmen, der schüttelt jedoch seinen Kopf und schluchzt: „Ich will zu meinem Hundi.“
Als Olli beginnt, die Stühle für die Zuschauer aufzustellen, wird mehrmals an das Scheunentor gehämmert. Ein eisiger Windstoß kommt in dem Moment herein, als Onkel Heinrich die Tür öffnet. Erstaunt begrüßt er einen Weihnachtsmann, der um Einlass bittet. Als er in der warmen Scheune steht, klopft er sich erst einmal den Schnee vom Mantel.
Christine sieht Olli fragend an. Der zuckt mit den Schultern und schüttelt seinen Kopf. Oma Hedwig und Onkel Heinrich schauen gleichzeitig zu Christine. Sie müssen jedoch feststellen, dass sie ebenfalls überrascht ist.
„Ho, ho, ho“, macht der Weihnachtsmann. „Draußen vom Walde komme ich her und bringe ein Geschenk für einen jungen Mann.“
Daniel und Richard verstecken sich hinter Onkel Heinrich und schauen einer rechts und einer links nur ängstlich hervor. Bertram ist immer noch auf Christines Arm und weint unaufhaltsam.
„Schau mal, wer gekommen ist“, macht Christine ihn aufmerksam.
Er hebt seinen Kopf und ist erstaunt.
„Aber … aber der Weihnachtsmann war doch schon da und hat mir meinen Hundi debracht.“ Er zeigt zum Kaminzimmer. „Dort drüber liegt er doch.“
Er strampelt wieder mit den Beinen, damit Christine ihn auf den Boden stellt. Das tut sie auch, hält ihn aber sofort am Arm fest, weil sie ahnt, wo er hin will.
„Du bleibst hier“, sagt sie nachdrücklich zu ihm.
Bertram schnieft und zieht umständlich ein Taschentuch aus der Hose. Christine hilft ihm.
Olli hat unterdessen den Weihnachtsmann leise gefragt, ob er eventuell auf der falschen Veranstaltung sei. Der schüttelt jedoch den Kopf, sodass der restliche Schnee aus seiner Mütze und dem Bart rieselt.
 „Wer von euch ist Richard?“, fragt er mit donnernder Stimme.
Richard schaut erschrocken zu Onkel Heinrich hoch.
Daniel schubst ihn vor und ruft laut: „Der hier ist Richard.“
Olli geht zu seinem Sohn, lächelt ihn aufmunternd an und reicht ihm eine Hand.
„Komm. Wir sehen mal nach, was der Weihnachtsmann für dich mitgebracht hat.“
Zögernd läuft Richard neben seinem Vater her.
„Du bist also Richard?“, fragt der Weihnachtsmann.
Der Kleine hebt langsam seinen Kopf und nickt ängstlich.
„Ich habe gehört, dass du gern Klavier spielst. Stimmt das?“, fragt der Weihnachtsmann.
Richard kommt aus dem Staunen nicht heraus und nickt wieder.
„Kannst du mir ein Lied vorspielen?“, fragt ihn der Weihnachtsmann.
„Nein, kann ich nicht“, flüstert Richard.
„Du musst schon lauter sprechen, damit ich alter Mann dich auch verstehen kann.“
„Nein“, sagt er etwas lauter.
„Und warum nicht?“
 Da Richard nicht antwortet, ruft Bertram: „Weil das Dlavier immer noch daputt ist.“ Er reißt sich von Christine los, läuft zu seinem Bruder und baut sich mutig vor dem Weihnachtsmann auf. Er streckt ihm seine kleine Hand entgegen und sagt: „Danke, lieber Weihnachtsmann, dass du mir den droßen Hund mitdebracht hast. Mama Dristine dlaubt mir das nämlich nicht.“
Der Weihnachtsmann schüttelt vorsichtig Bertrams Hand und schaut irritiert zu Olli.
Und, um überhaupt etwas zu sagen, meint er nur: „Da musst du aber sehr artig gewesen sein, damit ich dir diesen Wunsch erfüllen konnte.“
Der Kleine nickt kräftig.
„Ich habe mich danz doll andestrengt und auch nichts mehr in meine Nase deschoben. Das dannst du dlauben. Schau rein … ist nix drin.“
Zum Beweis reckt er seinen Kopf ganz weit nach hinten, damit der alte Mann sich selbst überzeugen kann. Als endgültige Bestätigung schnuffelt er noch wie ein Häschen.
Der Weihnachtsmann nickt. Es ist ihm anzumerken, dass es ihm ziemlich schwer fällt, nicht laut loszulachen.
Für Bertram ist die Sache jetzt klar. Er ist voll davon überzeugt, dass die ausgesetzte Hündin wirklich für ihn bestimmt ist. Mit großen Augen guckt er Christine an.
„Siehst du, der droße Hund ist wirdlich für mich.“
Bevor jemand reagieren kann, läuft er ins Kaminzimmer und kuschelt sich an die Hündin.
Christine will ihm hinterher. Sie schaut kurz zu Olli, der zuckt jedoch resigniert mit den Schultern und schüttelt den Kopf. Er gibt ihr somit zu verstehen, dass sie dem Kleinen einfach diese Freude lassen soll.
Alle sehen nun wieder zu Richard. Er blickt immer noch erwartungsvoll zu dem Weihnachtsmann hoch, der ziemlich verunsichert ist, weil er nicht abschätzen kann, ob er zufällig noch jemanden glücklich gemacht hat, obwohl er davon gar nichts weiß.
„Nun zu dir, Richard“, spricht er mit tiefer Stimme. „Dein altes Klavier ist kaputt.“
Richard nickt.
„Und du spielst wirklich gern und versprichst mir auch, immer fleißig zu üben, wenn ich dir ein neues mitgebracht habe?“
Wieder nickt Richard nur.
Der Weihnachtsmann reicht ihm eine Hand und fordert ihn auf: „Dann komm mal mit.“
Richard klammert sich an Olli. Sie gehen gemeinsam zur Tür, die Onkel Heinrich weit öffnet.
Draußen stehen zwei Männer in Wichtelkostümen, die sofort ein Klavier hochheben und in die Scheune bringen. Schnell entfernen sie den Schnee von dem wertvollen Musikinstrument.
Richard schlägt sich eine Hand vor den Mund und flüstert: „Papa, schau mal. Das ist für mich.“
Der Weihnachtsmann nickt.
„Ja. Und wenn ich nächstes Jahr komme, möchte ich von dir ein schönes Weihnachtslied hören.“
Richard strahlt und bedankt sich mit einer Verbeugung.
Christine ist der Überzeugung, dass Olli mit Absicht von dieser tollen Überraschung nichts verraten hat. Liebevoll schaut sie ihn an. Er schüttelt jedoch den Kopf und verzieht sein Gesicht, sodass sie nicht so recht weiß, was sie davon halten soll.
Onkel Heinrich zeigt den Wichteln, dass sie das Klavier neben dem Kamin abstellen sollen. Richard läuft aufgeregt hinter ihnen her. Kaum steht das Instrument an seinem Platz, hebt er den Deckel an und drückt zaghaft auf eine Taste, denn er kann gar nicht glauben, dass sein größter Weihnachtswunsch wirklich in Erfüllung gegangen ist.
Oma Hedwig fragt Christine: „Warum habt ihr uns das nicht vorher gesagt?“
„Wir wissen scheinbar alle nicht, wo es herkommt“, antwortet Christine und fügt leise hinzu, „man könnte fast glauben, den Weihnachtsmann gibt es wirklich. Erst der große Hund und dann noch das neue Klavier.“
„Und die größte Überraschung ist, dass es diese Nacht sogar noch mehr Hunde geben wird“, sagt Oma Hedwig lächelnd. Christine sieht ihre Mutter erstaunt an, sodass diese ergänzt: „Das kannst du mir ruhig glauben. Es ist bald so weit.“
„Auch das noch“, sagt Christine und lacht nun ebenfalls. „Wenn ich vorher gewusst hätte, was für ein tolles Weihnachtsfest das wird, hätte ich mir nicht so viele Gedanken machen müssen.“ 

Auszug aus dem Buch „Ein HauchZufriedenheit“ von Heidi Dahlsen


Kurzvita: Heidi Dahlsen ist verheiratet, hat zwei Kinder und eine Enkelin. Sie schreibt nicht einfach nur Bücher, sondern füllt diese mit Lebensgeschichten. Für sie ist das Schreiben eine Form des Verarbeitens ihrer Erlebnisse. Sie möchte aufwecken und wachrütteln, die Menschen sensibilisieren und mit Vorurteilen gegenüber psychischen Erkrankungen aufräumen. Sie wünscht sich, dass von diesen Krankheiten betroffene Menschen von der Gesellschaft toleriert, akzeptiert und vor allem in die Gesellschaft integriert werden. Bei allen in ihre Bücher gepackten Emotionen, Informationen und Abrechnungen gelingt es ihr noch, den Leser zu unterhalten.