Donnerstag, 11. Dezember 2014

Wem Gott will rechte Gunst erweisen ... von Evelyn Sperber-Hummel


Foto: Eva Joachimsen

"Ich will einen Tannenbaum." Wütend stampfte Mika mit den Füßen, trotzig warf sie den Kopf nach hinten. Das Raumschiff schlingerte. Ulrich umkrallte den Steuerknüppel und bemühte sich, den Kasten im Gleichgewicht zu halten. "Deine Wutanfälle werden uns noch umbringen", sagte er und schaltete das Radio aus. Diese pausenlose Weihnachtsliederdudelei ging ihm auf die Nerven. "Wann sind wir denn endlich da, Papa?", nörgelte Mika.
Gute Frage, dachte Ulrich. Beantworten konnte er sie nicht. Seit sechs Wochen waren sie im Weltall unterwegs. Dabei hatte man ihnen im Reisebüro "Weltraum-Tourismus" versichert, der Flug werde nur fünf Wochen dauern. "Sie brauchen sich nur nach dem Routenplaner zu richten, dann funktioniert alles wie geschmiert", hatte die hübsche junge Dame gesagt und auf Ulrichs Hinweis, er könne nicht ständig am Steuer sitzen – "Wir müssen ja auch mal schlafen." – hatte sie hinzugefügt: "Dann brauchen Sie nur die Automatik einzuschalten. Ein Klick genügt, und schon erledigt das Programm alles von selbst." Auf seine Frage, wieso nicht der ganze Flug auf Automatik laufen könne, hatte sie geantwortet, die Automatik dürfe höchstens zehn Stunden eingeschaltet bleiben und müsse sich danach erst wieder regenerieren. "Aber wer schläft schon länger als zehn Stunden?" Hatte sie hinzugefügt und ihn dabei angelächelt.
Ihm war inzwischen das Lachen vergangen. Seiner Thekla auch. Nach fünf Wochen kam das ersehnte Urlaubsziel nicht in Sicht, und auch jetzt, nach sechs Wochen, keine Spur von Amor. Amor! So hatten die Astronomie-Physiker einen neu entdeckten Stern genannt. "Weil er so liebevoll zwinkerte", kommentierten die Medien. Ulrich und Thekla liebten sich und deshalb wollten sie zusammen mit ihrer kleinen Tochter Mika ein ganz besonderes Weihnachtsfest beim Liebesgottes feiern.
Fünf herrliche Wochen lang war das Raumschiff gemütlich durchs All geschwommen. Außer Proviant, Büchern, Spielsachen und anderen Dingen hatten Ulrich und Thekla viel gute Laune im Gepäck und waren gespannt auf das, was sie auf Amor erwartete. An Bord herrschte eine fröhliche, unbeschwerte Stimmung, alle drei erlebten vorausschauend die herrlichsten Abenteuer auf dem neuen Stern. Musik aus dem Bord-Radio verbreitete vorweihnachtliche Gefühle. "In wenigen Stunden sind wir am Ziel", hatte Ulrich gesagt.
Zu dem Zeitpunkt wussten sie noch nicht, dass sie Amor nie erreichen würden. Woher hätten sie es wissen sollen?
Jetzt waren schon wieder drei Wochen vergangen und noch immer kein Amor zu sehen. Die Vorräte schrumpften. Ulrich und Thekla machten eine Zwangsdiät, damit wenigstens Mika genug zu essen  hatte. Aber irgendwann wären alle Nahrungsmittel und Getränke verbraucht. Was dann?
"Ich will einen Tannenbaum", quengelte Mika wieder. Ulrich saß am Steuer und schien alles um sich herum vergessen zu haben. "Komisch, komisch", murmelte er vor sich hin und runzelte die Stirn.
"Ist was?", fragte Thekla.
"Ich weiß nicht, dem Routenplaner nach hätten wir längst an anderen Weltraumstationen vorbeikommen müssen. Kurz vor Amor liegt das interstellare Urlaubsparadies Mallorcana. Auch das haben wir nicht gesehen, vielleicht haben wir da gerade geschlafen. Aber einige Stationen hätten wir sehen müssen, wir haben ja nicht nur geschlafen."
"Zeig mal." Thekla studierte das Display.  "Seltsam", sagte sie, "die Sterneninsel Ibizeria haben wir auch nicht gesehen. An der müssten wir vor drei Tagen vorbeigeschwebt sein."
"Stimmt. Ist mir gar nicht aufgefallen." Ulrich starrte aufs Routendisplay. Plötzlich wurde er kalkweiß im Gesicht. "Mein Gott!", flüsterte er.
"Ulrich, was ist mit dir? Geht es dir nicht gut?" Du siehst aus wie Käse, Bier und Spucke."
"Ich glaube, wir sind von der Bahn gekommen." Er flüstere so leise, dass Thekla seine Worte nur erahnen konnte. Entsetzt sah sie ihn an.
Sekundenlange Stille. Ulrich stöhnte. "Die haben uns angeschmiert", presste er hervor. Vor seinem geistigen Auge lief der Film eines endlosen Flugs durchs All ab, eine Reise in den Tod. Wie lange würde es dauern, bis sie verhungert waren? Theklas Gedanken gingen in die gleiche Richtung. Sie ergriff seine Hand. Schweigend saßen sie da und beobachteten Mika, die auf dem Boden saß und mit Bauklötzen spielte.
"Wir müssen unbedingt irgendwo zwischenlanden", sagte Uwe, "aber wo?" Er schaltete alle Scheinwerfer ein. Die ständige Finsternis um sie herum raubte ihm fast den Verstand. Zu blöd, dass nur die bewohnten Himmelskörper hell beleuchtet waren. Auch an den Flugstrecken sollten Straßenlaternen aufgehängt werden, dachte er.
"Schau mal!" Thekla riss ihn aus seinen Überlegungen und wies nach vorn. Vor ihnen in der Ferne leuchtete etwas Grünes auf. Ein Stern, auf dem grüne Pflanzen wuchsen? Das Raumschiff glitt darauf zu. Ulrich streckte die Hand nach dem Landehebel aus, zog sie aber gleich wieder zurück. Es dauerte sicher noch eine ganze Weile, bis sie den Stern erreichten, wenn es überhaupt ein Stern war. Er und Thekla starrten dem Grün entgegen, als könnten sie es durch ihre Blicke an seinem Platz festhalten. Schneller, als sie gedacht hatten, kam es näher. Vor Aufregung konnten beide kaum atmen. Ulrich drosselte die Geschwindigkeit. Langsam schwebte es über das Grün. Er griff nach dem Landehebel, langsam zog er ihn zu sich heran. Das Schiff senkte sich. Ulrich fuhr die Räder aus. Ein leichter Ruck. Sie landeten auf festem Boden. Vorsichtig kletterten sie aus dem Raumschiff. Vor ihnen lag eine saftig grüne Wiese. Und der erste Eindruck, der sich ihnen aufdrängte: Es gab keinerlei menschliche Spuren.
Der Stern erwies sich als ein wahres Paradies. Sie entdeckten auf ihren Exkursionen viele verschiedene Beerensträucher und Früchte, die an niedrigen Bäumen wuchsen, so dass man zum Ernten keine Leiter benötigte. In der Erde unter dem Gras fanden sie kartoffelartige Knollen. Sie schmeckten vorzüglich und man konnte sie sogar roh genießen. Viele Pflanzen erwiesen sich als köstliches Salatgemüse. Tiere sahen sie nicht und auch Menschen waren ihnen im weiten Umkreis nicht begegnet. Aber eine Quelle gab es, aus der herrliches klares Wasser sprudelte. "Das schmeckt besser als der beste Mineralbrunnen, den wir auf der Erde kaufen konnten", meinte Ulrich. Die Erde! Ob sie sie jemals wiedersähen? Thekla wollte fest daran glauben und auf jeden Fall so viele Vorräte wie möglich sammeln, damit sie auch für eine mehr als fünf Wochen lange Rückreise reichten.
Tag und Nacht schien die Sonne. Wenn es so blieb, konnten sie es lange auf dem Stern aushalten, ohne gesundheitliche Schäden zu erleiden. Zum Schlafen gingen sie ins Raumschiff, das sie gut verdunkelten. Eine Woche lang hatte Ulrich den Kasten nicht angerührt, was hätte er auch machen können? Blieb ihnen nicht nur die Hoffnung, dass einmal ein anderes Raumschiff vorbeisegelte und ihnen den Weg zurück zur Erde zeigte? Doch immer nur Beeren und Früchte sammeln, das wurde ihm dann doch langweilig. "Ich kümmere mich mal um das Schiff", sagte er. "Vielleicht finde ich doch noch einen Hinweis, wie ich das Richtungsmodul wieder in Gang kriege", sagte er und kletterte ins Raumschiff.
Mika spielte im Gras, Thekla legte neben der Wiese einen kleinen Garten an, in dem sie Stecklinge der verschiedenen Blumenstauden, Sträucher und Bäume heranzog. Auf der Wiese hatte sie ein großes Tuch ausgebreitet, auf dem Beeren und Kräuter trockneten.
Ulrich startete das Raumschiff. Ein sanftes Brummen ertönte. Vorsichtig drückte er den Starthebel nach oben. Der schwere Kasten hob vom Boden ab. Mit dem Steuerknüppel konnte Ulrich das Schiff vorwärts und rückwärts lenken, aber es reagierte nicht, wenn er es zur Seite lenken wollte. Er versuchte, eine größere Höhe zu erreichen. Das klappte. Und so unternahm er in der nächsten Zeit öfter Erkundungsflüge über den Stern. Sie bestätigten: Außer ihnen gab es auf dem Stern keine Menschen und auch keine Tiere.
"Seltsam", sagte Thekla, als er es ihr berichtete, "so ein fruchtbarer Stern und keine Menschen. Das ist ja ein richtiger Garten Eden."
"Ich glaube", sagte Ulrich, "wir haben einen neuen Stern entdeckt. Auf dem Routenplaner ist er jedenfalls nicht aufgetaucht."
"Also braucht er einen Namen", sagte Thekla. Kurz überlegte sie. "Wie wär's mit MUT? M wie Mika, U wie Ulrich, T wie Thekla?"
"Gefällt mir." Uwe lachte, auf Ideen wie sie wäre er nie gekommen. "Was gibt es denn heute Abend zu essen?", fragte er.
"Dicke schwarze Beeren. Habe ich heute entdeckt." Thekla stellte die Schüssel auf den Tisch. Ulrich probierte eine Beere und verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse. "Sauer!" Er schüttelte sich.
"Sauer macht lustig." Thekla lachte. "Heute gibt es nichts anderes. Zu Kartoffeln oder schwarzen Bohnen fehlte mir die Zeit." Der strenge Ton in ihrer Stimme signalisierte: keine Widerrede!
Ulrichs Magen knurrte. Er überwand sich, dem Knurren des Magens mit schwarzen Beeren entgegenzusteuern. Hauptsache, der Hunger verging. Und – so seine Erkenntnis nach fünf weiteren Beeren - eigentlich schmeckten sie gar nicht so schlecht. Man musste sich nur an die kräftige Säure gewöhnen. "Hast du noch ein paar von den Dingern?", fragte er, als sein Teller leer war. Thekla stand auf und servierte ihm noch eine Portion. Ulrich aß und wurde lustig. Zum ersten Mal, seit sie auf dem grünen Stern gelandet waren, lachte er aus vollem Hals. Thekla wurde nachdenklich. Ob die Beeren eine Droge enthielten? Waren es Glücksbeeren? Wie wäre es, wenn sie solche Beerensträucher auf der Erde pflanzte? Sie fing an, von einer Plantage der Glückseligkeit zu träumen. Plötzlich verspürte sie den dringenden Wunsch, so schnell wie möglich zur Erde zurückzukehren. "Kommst du mit deinen Untersuchungen am Raumschiff weiter?", fragte sie.
"Ich tappe immer noch im Dunkeln", sagte Ulrich.
"Woran liegt es? Immer noch der Routenplaner?"
"Ja, auch, aber hauptsächlich ist es das Lenkungssystem. Komm, ich zeige es dir." Sie gingen zum Raumschiff. Ulrich zeigte auf ein kleines Gerät in der Mitte des Steuerknüppels. "Das ist der Richtungssteuerautomat. Er ist kaputt", sagte er.
"Ach so, ich verstehe. Dieses Ding ist schuld daran, dass wir nicht nur Erde zurück können. Kann man es nicht reparieren?"
"Hab ich schon versucht, aber irgendetwas scheint zu fehlen." Ulrich zeigte auf einen breiten Schlitz in der Mitte. "Ich glaube, dort müsste ein  flaches schaufelartiges Teil eingesteckt werden. Ich habe schon überall gesucht, aber nichts gefunden. Vielleicht liege ich falsch, aber man muss ja alles probieren. Fest steht, dass es hier sein muss." Er raufte sich die Haare.  
Thekla betrachtete stumm den offenen Schlitz. Ein schaufelartiges Teil? "Warte mal", sagte sie und ging hinaus. Nach wenigen Minuten kam sie zurück, Mika kam weinend hinter ihr hergelaufen. "Ich will das wiederhaben", plärrte sie.
"Könnte es das sein? Thekla hielt Ulrich ein kleines Schaufelchen hin. Er traute seinen Augen nicht. Das war das Ding, nach dem er so lange vergeblich gesucht hatte. "Woher hast du das?" In seiner Stimme schwang ein ungeduldiger, fast zorniger Unterton.
"Das musst du Mika fragen."
Mika hatte sich inzwischen etwas beruhigt. Ulrich schluckte seinen Zorn hinunter, nahm Mika auf den Arm und fragte mit sanfter Stimme: "Sag's dem Papa, mein Schätzchen, woher hast du das Schaufelchen?"
Mika wies auf den Boden unter dem Steuerknüppel. "Da hat's gelegen", sagte sie.
Ulrich steckte das schaufelartige Teil in den offenen Schlitz. Laut dröhnte Musik aus dem Radio. "Hold me tight", sang eine kehlige Frauenstimme. Ulrich drückte Thekla und Mika fest an sich. Im Display erschien die Forderung: Richtung eingeben. Darunter standen die Namen sämtlicher Weltraumstationen, man musste nur die richtige anklicken. Die Erde war auch dabei. Ulrich strahlte über das ganze Gesicht. Er tippte auf die Erde. "Jetzt geht es heimwärts", verkündete er und wäre am liebsten sofort abgedüst.
"Moment mal, wir können doch nicht alle Schätze, die wir hier angesammelt haben, zurücklassen", sagte Thekla. Mit den Händen grub sie auf dem Gärtchen alle Pflanzen aus – mit Mikas Schaufelchen war das leichter gegangen, aber sie wagte nicht, Ulrich darum zu bitten -  und verfrachtete sie im Raumschiff, ebenso getrocknete Beeren, schwarze Bohnen, MUT-Kartoffeln. Ulrich füllte die Wasserkanister und Flaschen. Zum Schluss brachte Thekla zwei Beutel frische Glückseligkeitsbeeren. "Davon habe ich auch Stecklinge gemacht, die sind super angewachsen."
Ganz leicht fiel ihnen der Abschied von MUT nicht, obgleich die Freude, wieder zur Erde zurückzukehren, größer war. "Wir können ja mal wieder hinfliegen", meinte Ulrich., er kontrollierte am Armaturenbrett die Position des Sterns und notierte sie. Dann schaltete er die Zündung des Raumschiffs ein. Es fing leise an zu brummen.
"Mensch, bin ich aufgeregt", sagte Thekla.
"Und ich erst." Ulrich steuerte das Schiff in Richtung Erde. Alles funktionierte wie am Schnürchen. "Hatte das Teil am Steuerknüppel richtig festgesessen, wäre es nicht runtergefallen", sagte er. Das würde er dem "Weltraum-Tourismus" unter die Nase reiben. Ob er denen allerdings vom neu entdeckten MUT erzählen sollte? Wahrscheinlich nicht. Thekla hatte gestern gemeint, dass man auf MUT ein echtes soziales Projekt starten könne. Ohne dass raffgierige Geschäftemacher mit ihren dreckigen Händen darin rumrühren, dachte Ulrich. Einfach würde das nicht sein, das war ihm klar, aber möglich war es. Man musste nur die richtigen Leute ansprechen. "Und jeden gnadenlos rausschmeißen, der sich an dem Projekt bereichern will", dachte er laut.
"Was?" Thekla stumpte ihn an.
"Ach, nichts, ich habe nur über deine Idee mit dem sozialen Projekt auf MUT nachgedacht." 
Sie küsste ihn und lächelte. "Mach das Radio an", bat sie ihn. "Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt", sangen markige Männerstimmen. "Oh", Ulrich grinste, "ein Ständchen für uns zur Begrüßung. Wie schön! Passt wie die Faust aufs Auge."
"Ich will einen Tannenbaum haben." Mika fing wieder an zu quengeln.
"Kriegst du", versprach Uwe. Sieben Wochen signalisierte das Display für den Rückflug, Mitte März würden sie die Erde erreichen. Wer wollte sie daran hindern, im Frühling Weihnachten zu feiern?


© Evelyn Sperber-Hummel







Evelyn Sperber-Hummel, geboren in Hamburg, lebt mit Hund und Katze auf einem Weingut in der Pfalz. Sie hat viele Jahre als Redakteurin gearbeitet. Jetzt schreibt sie Kurz- und Langprosa, Lyrik und szenische Texte.
Leseproben und weitere Informationen gibt es auf ihrer Homepage und ihrer Autorenseite.