Foto von Eva Joachimsen |
Für
mich war es ein Schock, als mein Papa freudestrahlend verkündete: „Hurra, ich
habe einen neuen Job.“ Er klatschte in die Hände. „Am 1. Dezember geht es los.
Ein schönes Häuschen auf dem Land habe ich auch schon gefunden. Anna-Lena,
stell dir nur vor, dann wohnen wir auf dem Land, haben einen großen Garten und
…“
„Stopp!“,
rief ich wütend aus. „Papa, das ist nicht dein Ernst. Dann muss ich die Schule
wechseln.“
„Ja,
aber du bist eine gute Schülerin, ein wunderbares Mädchen und wirst sicher
schnell Freunde finden.“ Er kam auf mich zu, hob mich in die Luft und wirbelte
mich herum.
„Papa,
lass das! Ich bin fünfzehn und kein Baby mehr.“
„Komm,
Anna-Lena, sei kein Spielverderber. Du weißt doch, wie gerne ich wieder als Architekt
arbeiten würde.“
Mir
kamen die Tränen. Mama nahm mich tröstend in die Arme. „Warte doch erst mal ab
und schau dir die neue Schule an und die Mitschüler aus deiner Klasse.“
„Ich
will aber aus der Stadt nicht weg. Simon sagt, dass die Landeier in unserem
Alter alle zurückgeblieben sind.“
„Was
weiß der schon? Hat er schon mal ländlich gewohnt?“, fragte Mama.
„Er
musste bisher immer die Ferien bei seinen Großeltern in der Nähe eines
Kuhstalles im miefenden Kleinkleckersdorf verbringen und hat die Kinder dort
alle aufwachsen sehen. So richtige Freunde hat er nie gefunden.“
„Wenn
er mit solchen Vorurteilen rangegangen ist, dann ist doch klar, dass die
Einheimischen einen Bogen um ihn gemacht haben.“
Ich
zuckte mit den Schultern, rief Simon an und klagte ihm mein Leid.
Nach
einiger Zeit kam Papa in mein Zimmer und setzte sich zu mir aufs Bett. In der
Hand hatte er das Tablet. „Anna-Lena, schau dir doch wenigstens mal unser neues
Haus an. Du darfst dir auch ein Zimmer aussuchen. Wenn das nichts ist?“
Genervt
warf ich einen Blick auf den Bildschirm. Papa ließ sich davon nicht beirren und
die Fotos an meinem Auge vorbeifliegen.
Mein
Herz machte auf einmal einen Hüpfer. „Stopp!“ Mein Finger strich zurück. Ich
setzte mich auf. „Oh, toll. Wow! Ist das wirklich wahr?“
Papa
strahlte über das ganze Gesicht und nickte.
„Mama,
komm mal bitte“, rief ich aufgeregt.
„Was
ist denn?“ Sie setzte sich zu uns.
„Schau
mal, ein Pool im Keller und hier im Dachgeschoss das große Zimmer.“
Mama
grinste. „Ja, das hätte ich gern als Schlafzimmer, auch weil dieses schöne Bad“,
sie blendete das nächsten Bild ein, „gleich nebenan liegt.“
„Papa
hat gesagt, ich kann mir ein Zimmer aussuchen. Also, ich nehme das gesamte
Dachgeschoss. Dafür dürft ihr euch unten ausbreiten.“
Papa
seufzte. „Ich wusste es, es wird dir gefallen.“ Er drückte mir einen dicken
Schmatz auf die Wange.
„Igitt,
Papa. Ich bin …“
„
… fünfzehn. Ich weiß. Abgemacht ...“ Er hielt mir seine Hand hin, in die ich nun
nur zu gern einschlug.
Mama
schaute mich an. „Und wegen der neuen Freunde …“
„
… ich weiß. Keine Vorurteile.“
Ende
November war unser Umzug gemeistert. Nachdem ich mein neues Zimmer eingerichtet
und alle Sachen verstaut hatte, wollte ich mich im Wohngebiet etwas umschauen.
Ich war neugierig, ob Mädchen in meinem Alter in der Nähe wohnen.
Am
Spielplatz sah ich Jugendliche in meinem Alter auf einer Bank sitzen und ging
erfreut zu ihnen.
„Hallo“,
sagte ich zur Begrüßung. „Ich bin Anna-Lena und wohne seit heute hier.“
„Aha“,
machte ein Mädchen, das aussah, als wäre es einem Modemagazin entsprungen. Sie
musterte mich von oben bis unten und fragte gelangweilt: „Welche Schule? Welche
Klasse?“
„Realschule,
7. Klasse“, antwortete ich.
„Oh,
eine Blödine“, rief sie belustigt aus. „Ich verkehre nur mit Gymnasiasten. Und
ein Tipp so ganz nebenbei … deinen Look solltest du unbedingt etwas ändern. So
kann man doch nicht rumlaufen.“ Sie wandte sich den anderen zu: „Kommt, wir
gehen. Diese Gesellschaft müssen wir uns nicht antun.“
Wie
Schafe dem Leithammel trotteten alle anderen kichernd hinter ihr her.
Traurig
trat ich meinen Rückweg an und verließ bis zum Abendessen mein Zimmer nicht
mehr.
Am
Montagmorgen setzte mich Mama vor der neuen Schule ab. Eigentlich wollte sie
mich bis zum Klassenzimmer begleiten, aber das lehnte ich ab. Was sollten denn
die anderen von mir denken? Dass ich ein Kleinkind bin?! Mit flauem Gefühl im
Magen ging ich in das Klassenzimmer.
Der
Lehrer stellte mich vor und betonte sogleich, dass ich sehr gute Noten habe und
meine Mitschüler sich ein Beispiel an mir nehmen sollten. Und wenn ich mich
weiterhin anstrengen würde, könnte ich sogar zum Gymnasium wechseln.
„Eine
Streberin hat uns gerade noch gefehlt“, sagte ein Mädchen und alle lachten.
Das
war‘s! Schlimmer hätte der Neuanfang nicht laufen können. Niemand wollte etwas
mit mir zu tun haben, sodass ich die Pausen allein auf dem Schulhof verbrachte.
Die Heimfahrt im Bus wurde zum Spießrutenlauf, denn alle flüsterten, wenn ich
in ihre Nähe kam.
In
der Schule galt ich als Streberin und bei den Jugendlichen im Wohngebiet als
Blödine.
Alle
urteilten über mich, obwohl sie mich gar nicht kannten. Sie gaben mir nicht mal
eine Chance. Von Vorurteilen hatten die scheinbar alle noch nichts gehört. Ich
fühlte mich sehr einsam. Abends konnte ich ewig nicht einschlafen oder träumte
so schlecht, dass ich schweißgebadet erwachte.
Zum
Schulbus lief ich ganz langsam, um den Hänseleien bereits am frühen Morgen aus
dem Weg zu gehen. So passierte es immer öfter, dass ich den Bus verpasste. Nachdem
ich erfolglos versucht hatte, mich einzuleben und neue Freunde zu finden,
fasste ich den Entschluss, nicht mehr in die Schule zu gehen.
Es
dauerte jedoch gar nicht lange, bis meine Eltern davon erfuhren. Mein Papa rief
umgehend eine Familienkonferenz ein und zu dritt beratschlagten wir, was mir
helfen würde, mich wohler zu fühlen.
„Wenn
ihr es erlaubt, hätte ich gern ein Haustier“, sagte ich. „Dem ist es egal, was
ich für Klamotten anhabe oder ob ich mich bemühe, gute Schulnoten zu bekommen.“
„Eine
gute Idee“, meinte Papa. „Hast du an ein bestimmtes Tier gedacht?“
„Ich
hätte auch gern ein Haustier“, meldete sich Mama zu Wort. „Was haltet ihr
davon, wenn wir ein vierbeiniges Familienmitglied aufnehmen, das uns bei der
Fitness unterstützt, mit uns kuschelt und zusätzlich noch unser Haus bewacht?“
Ich
bekam große Augen und konnte es kaum fassen. Eigentlich hatte ich mir
wenigstens ein Kätzchen, Häschen oder Meerschweinchen erhofft, denn bisher
durfte ich kein Tier haben, weil es sich in der kleinen Stadtwohnung nicht
wohlgefühlt hätte. Mein Herz klopfte wie wild vor Freude. „Mama, meinst du
einen Hund? Das wäre so toll.“
In
Gedanken sah ich mich schon im Garten mit einem Welpen spielen.
Papa
stand auf und ging in sein Arbeitszimmer.
Als
er kurz darauf zurückkam, legte er ein paar Bücher auf den Tisch.
„Eigentlich
wollte ich mit meinem Weihnachtswunsch noch etwas warten“, sagte er grinsend.
„Aber wenn nun schon mal die Sprache darauf kam, dann schaut mal hier.“
Wir
blätterten in dem Buch mit den Hunderassen und wurden uns schnell einig. Ein
kleiner Wuschel sollte es werden. Papa startete unterdessen den Computer und
suchte nach Züchtern. Als er den Bildschirm zu uns drehte, staunten wir nicht
schlecht.
„Du
musst gleich wieder übertreiben“, sagte Mama lachend. „Wir hatten uns auf einen
kleinen wuscheligen Hund geeinigt.“
„Ach“,
sagte Papa und winkte ab, „der hier ist am Anfang auch ganz klein.“
Wir
schrieben eine e-Mail an den Züchter und warteten ungeduldig auf die Antwort.
In der Zwischenzeit besorgten wir Körbchen, Leine, Halsband und Futternäpfe, eben
alles, was ein Welpe so braucht. Papas Wunsch stimmten wir ohne zu zögern zu
und kauften deshalb gleich alles eine Nummer größer.
Nach
ein paar Tagen zog Toby, ein Bernersennenhund, bei uns ein. Seinen Namen hat
Mama ausgesucht. Als sie ihn sah, rief sie spontan: „Der sieht ja so zerzauselt
aus, als hätte er gerade getobt.“
Am
darauffolgenden Samstag machten wir einen Familienausflug zum Hundeplatz, um am
Welpenspiel teilzunehmen. Nachdem die Ausbildung bereits begonnen hatte, kamen
zwei Cavalier-King-Charles-Welpen dazu. Da ich meine Aufmerksamkeit auf die
süßen Welpen gelenkt hatte, bemerkte ich gar nicht, dass die Zwillinge Marlon
und Maja aus meiner Klasse das dazugehörige Herrchen bzw. Frauchen waren. Sie
beäugten mich misstrauisch und ich versuchte sie zu ignorieren und
konzentrierte mich auf Toby. Die Trainerin gab uns Hinweise zur Erziehung und
wie wir uns verhalten sollen, wenn wir unterwegs auf andere Hunde treffen.
Danach
begann die Spielzeit. Alle Welpen stürmten los. Die Cavaliere schienen an Toby
einen Narren gefressen zu haben, denn sie wichen nicht von seiner Seite. Den
Zwillingen war das gar nicht recht. Sie riefen ständig nach ihren Hunden und
versuchten sogar, sie mit Gewalt von Toby wegzuzerren.
„Susi
und Strolch, kommt!“, rief Maja und Marlon ergänzte: „Mit dem Köter spielt ihr
nicht!“
Toby
konnte das nicht verstehen, hopste hinter ihnen her und versuchte durch lautes
Bellen seine beiden neuen Freunde zum Spiel aufzufordern.
„Verschwinde!“,
sagte Marlon grob zu Toby.
Als
die Trainerin das mitbekam, forderte sie ihn auf, dies nicht zu tun, denn die
Hunde sollen sich kennenlernen und gute Freunde werden.
Mehrmals
täglich ging ich mit Toby spazieren. Er war ja so süß und brachte mich immer
wieder zum Lachen. Jeder Grashalm schien für ihn interessant zu sein, denn er
schnüffelte ausgiebig daran. Am Feldweg leinte ich ihn ab und warf ein
Stöckchen. Unbeholfen tapste er hinterher. Die ersten Schneeflocken sorgten für
Erstaunen und auch die zugefrorenen Wasserlachen am Feldrand erweckten seine Neugier.
Auf
einmal kamen Marlon und Maja schnurstracks auf uns zu und stutzten, als sie
mich erkannten. Noch bevor sie jedoch die Richtung wechseln konnten, bemerkten
Susi und Strolch Toby, und es gab für sie kein Halten mehr. Sie rissen sich los
und stürmten auf uns zu. Ich bückte mich zu den Winzlingen und knuddelte sie
durch.
Unterdessen
waren auch Marlon und Maja angekommen.
„Hallo“,
begrüßte ich sie freundlich.
Bevor
sie etwas erwidern konnten, sprang Toby unbeholfen über Strolch und landete
mitten in einer riesigen Pfütze. Die dünne Eisschicht brach und das Wasser darunter
platschte in alle Richtungen. Ich musste herzhaft lachen und die Zwillinge
stimmten sogar ein. Toby schüttelte sich kurz und schon ging das rasante Spiel
weiter.
Marlon
lockte sein Hündchen: „Strolch, komm zu mir“, und zeigte ihm sogar einen
Hundekeks.
Strolch
hopste gerade um Toby herum und dachte gar nicht daran, auf sein Herrchen zu
hören. Als Toby das Leckerli sah, bekam er große Augen, sprintete auf Marlon zu
und schnappte sich den Leckerbissen. Danach setzte er sich artig hin, als
wollte er sich bedanken.
„Toby,
gib Pfötchen“, sagte ich.
Gehorsam
streckte er diese Marlon entgegen.
„Oh,
cool“, entfuhr es ihm. „Kann der noch mehr?“
„Klar“,
sagte ich. „Schau her.“ Ich schnipste mit dem Finger, sodass Toby auf mich
aufmerksam wurde und gab ihm das Kommando: „Toby, mach Baby.“
Daraufhin
schmiss er sich auf den Rücken und strampelte mit allen vier Pfoten in der
Luft.
„Das
ist ja klasse“, sagte Marlon begeistert. „Kannst du sowas Strolch auch
beibringen?“
„Ich
kann dir ein Buch über Hundeerziehung borgen“, bot ich ihm an.
„Nee,
ich lese nicht gern“, sagte Marlon.
Auf
einmal sagte Maja zu mir: „Es tut mir leid, dass ich dich in der Schule so blöd
angemacht habe. Du kannst dich gern neben mich setzen.“
Als
Marlon das hörte, rief er höhnisch: „Du willst doch bloß von der abschreiben.“
„Nein“,
erwiderte Maja, „abschreiben will ich nicht von dir. Wenn du mir bei den
Hausaufgaben hilfst, das würde schon reichen.“ Und zu ihrem Bruder gewandt, ergänzte
sie: „Marlon würde das auch gut tun. Er ist nämlich versetzungsgefährdet.“
„Okay,
das mache ich“, versprach ich, „und unsere Welpen können wir ja gemeinsam
erziehen und ihnen Kunststücke beibringen.“
Marlon
nickte begeistert und fragte mir gleich ein Loch in den Bauch, was er tun muss,
damit Strolch besser auf ihn hört.
Maja
schaute auf ihre Uhr. „Oh, wir müssen jetzt gehen. Meine Oma ist da. Wir wollen
Plätzchen backen und anschließend noch für unser familiäres Weihnachtskonzert
üben.“
Ich
sah erstaunt auf. „Ihr habt es gut. Ich sehe meine Großeltern kaum.“
„Dann
komm doch mit“, bot Marlon mir an. „Unsere Oma ist total cool und freut sich
über jede Hilfe. Und ich würde in der Zwischenzeit gut auf Toby aufpassen,
versprochen.“
„Ich
weiß nicht … ich kann doch nicht einfach …“, sagte ich zweifelnd.
Maja
nickte. „Doch, du kannst.“ Sie stupste mich an und lächelte. „Und morgen können
wir zusammen zum Weihnachtsmarkt gehen, wenn du möchtest.“
„Gerne“,
antwortete ich und war sehr erleichtert, dass die beiden endlich freundlich zu
mir waren. „Danke.“
„Wir
werden in der Schule jetzt auch nett zu dir sein“, sagte Marlon. „Dann werden
dich auch die anderen akzeptieren.“
„Das
wäre toll.“
Ich
freute mich nun auch auf Weihnachten und ein bisschen auf die Schule.
©Heidi Dahlsen
Kurzvita: Heidi Dahlsen ist
verheiratet, hat zwei Kinder und eine Enkelin. Sie schreibt nicht einfach nur
Bücher, sondern füllt diese mit Lebensgeschichten. Für
sie ist das Schreiben eine Form des Verarbeitens ihrer Erlebnisse. Sie möchte
aufwecken und wachrütteln, die Menschen sensibilisieren und mit Vorurteilen
gegenüber psychischen Erkrankungen aufräumen. Sie wünscht sich, dass von diesen
Krankheiten betroffene Menschen von der Gesellschaft toleriert, akzeptiert und
vor allem in die Gesellschaft integriert werden. Bei allen in ihre Bücher
gepackten Emotionen, Informationen und Abrechnungen gelingt es ihr noch, den
Leser zu unterhalten.
Autoren-Website: www.autorin-heidi-dahlsen.jimdo.com