Ungeduldig rutschte Opa Willy auf seinem Stuhl hin und
her. Seine Enkel Max und Fabian tobten bereits um die Kaffeetafel. Alle waren gesättigt.
Alle, bis auf einer. Willys Schwiegersohn Frank lud gerade ein weiteres Stück
Torte auf seinen Teller.
Willy stöhnte leise.
Frank betrachtete die Sahneschnitte auf seinem Teller
und stach hinein. Schweigend schaute Willy dem Tortenteil auf Franks Gabel
nach, sah, wie es zwischen Gaumen und Zunge seines Schwiegersohnes verschwand.
Franks Doppelkinn schaukelte genüsslich hin und her. Der leichte Schmollmund
schaute zufrieden drein. Ein paar blonde Locken umgarnten kranzförmig den
rundlichen Kopf. Auf dem restlichen Haupt spiegelten sich die Lichter des Weihnachtsbaumes
wider. Die grünen Augen seines Schwiegersohnes ließen Opa Willy nicht erkennen,
ob sie ihren Sättigungsgrad erreicht hatten, oder ob sie nach noch mehr Stücken
Torte verlangten.
Das zufriedene „Puh" aus Franks Kehle und sein
Zurücksinken auf den Esszimmerstuhl ließen Willy aufatmen.
„So, dann wollen wir mal den Kaffeetisch
abräumen." Willys Tochter Anne stand auf und begann, die Teller und Tassen
zusammenzuräumen. Opa sprang auf und half ihr. Auch Frank erhob sich.
„Ich gehe mal frische Luft schnappen." Frank
holte eine Schachtel Zigaretten aus seinem grauen Baumwollhemd hervor und quetschte
sich an dem strahlenden Weihnachtsbaum vorbei auf die Terrasse.
„Kann er nicht mithelfen?", raunte Willy seiner
Tochter zu.
„Aber Papa." Anne zog die Spülmaschinentür auf. „Er
hat doch gestern und heute fast den ganzen Tag in der Küche gestanden."
Anne hatte recht. Frank war Bäcker, und er backte fast
so gerne wie er aß. Selbst Kochen konnte er. Willy wusste, dass er ihm Unrecht
tat, doch er war heute einfach so aufgeregt und ungeduldig wie ein kleines
Kind.
Gleich würden Anne, Frank, Max und Fabian einen
Weihnachtsspaziergang machen. Und er würde endlich das aufbauen können, woran er
wochenlang gearbeitet hatte.
Die Ritterburg.
Die Ritterburg für Max.
Er sah sie schon im Wohnzimmer stehen: groß und
prächtig – einfach einmalig.
Schon als kleiner Junge hatten ihn diese Männer mit
ihren Rüstungen fasziniert. Wie sehr hatte er sich eine Ritterburg von seinen
Eltern gewünscht. Doch sein Wunsch war nie in Erfüllung gegangen.
Später hätte er gerne seiner Tochter Anne eine
Ritterburg geschenkt, leider war seine Frau dagegen. Sie hatte es nicht als
ratsam empfunden, ein Mädchen mit kriegerischen Sachen spielen zu lassen.
Außerdem hatte es Willy damals an Zeit gemangelt, um eine so aufwändige
Holzarbeit herzustellen.
Aber jetzt war es endlich so weit. Sein Enkel Max
sollte stolzer Besitzer einer selbstgebauten Burganlage werden. Alles hatte Opa
Willy in wochenlanger, um nicht zu sagen, monatelanger Arbeit aus Holz
geschnitzt, gesägt und zurechtgeschliffen. Zum Schluss hatte er die Burg noch
naturgetreu gestrichen. Nun war der große Augenblick zum Greifen nahe. Willy
rieb sich die Hände.
Max und Fabian stürmten immer noch um den Esszimmertisch,
wobei der kleine Fabian hinter dem großen Bruder herwatschelte, so schnell es
ihm eben möglich war. Mit seinen eineinhalb Jahren hatten seine Beine des
öfteren Koordinationsschwierigkeiten. Sie verhedderten sich entweder ineinander
oder stolperten über den Fußboden. Max hingegen raste wild hin und her. Seine
blonden Locken tanzten um sein rundliches Engelsgesicht. In ihm hatten sich
eindeutig die Gene des Vaters durchgesetzt. Fabian dagegen glich mit seinen braunen,
glatten Haaren und dem zarten Gesicht eher seiner Mutter.
Anne rief ihre Kinder zu sich, um sie mit den endlos
vielen Utensilien auszurüsten, die für einen Winterspaziergang nötig waren.
Plötzlich meldete sich Max zu Wort.
„Ich komme nicht mit", verkündete er und Opa klappte
die Kinnlade herunter.
„Doch, Max," drängelte Willy. Seine Hände
fuchtelten in der Luft herum. „Spazierengehen ist schön und ist ... ."
„Nein!" Max blickte entschlossen. „Wenn Opa
hierbleibt, bleibe ich auch hier.“ Er versteckte seine Hände unter den Achseln
und sah Anne herausfordernd an.
„Wenn du hierbleibst, bringt das Christkind dir keine
Geschenke." Anne hielt ihm die Handschuhe hin.
Max grüne Augen schauten jetzt auf den Boden. Nach
einem Augenblick Bedenkzeit gab er sich geschlagen.
„Okay." Mit vorgezogener Unterlippe griff er nach
dem Handschuhpaar.
Willy lächelte seine Tochter dankbar an.
Schnell schloss Opa Willy die Tür hinter ihnen zu.
Dann rauschte er in den Keller und holte die Ritterburg hervor. Liebevoll platzierte
er sie neben dem Weihnachtsbaum. Die Zugbrücke ließ er herunter und postierte
dort einen stolzen Ritter auf einem glänzenden Rappen. Die aus Holz gesägten
Bäume und Sträucher schmückten ringsum die komplette Burganlage. Den
Aussichtstürmen mangelte es nicht an Wachposten. Gerecht verteilte Opa Willy
sie auf die einzelnen Türme. Sechs Ritter näherten sich auf edlen Pferden der
Burg.
Zunächst platzierte Willy sie neben den Esszimmerstühlen,
doch nach reiflicher Überlegung räumte er sie auf die andere Seite, mittig ins
Zimmer, damit Max sie in seinem Eifer nicht übersah. Kritisch betrachtete Willy
nochmals die gesamte Anlage vom Wohnzimmereingang aus, wobei er sich auf den
Boden hockte, um Max' Sichtweise nachzuvollziehen. Willys Augen strahlten. Sie
glänzten verräterisch feucht in den Augenwinkeln. Schön! Einfach schön!
Gleich würde Max kommen und einen Freudenschrei
ausstoßen. War auch wirklich alles perfekt?
Ja … Nein. Moment. Es fehlte noch der gebrauchte kleine
Bäckereiladen aus Plastik. Den hatte Anne ja noch für Fabian besorgt. Willy
holte das alte Schätzchen herbei und stellte es rechts neben den Tannenbaum.
Da klingelte es auch schon. Willy riss die Haustür
auf.
„Ich habe das Christkind gesehen!", jubelte er
zur Tür hinaus.
Staunende Freude aus Kinderaugen leuchtete ihm
entgegen.
„Es hat etwas Wunderbares mitgebracht", trällerte
Willy weiter.
Max stürmte an ihm vorbei ins Haus.
„Im Wohnzimmer, neben dem Weihnachtsbaum!",
wieherte Willy seinem Enkel hinterher und folgte ihm. Max durchquerte bereits das
Wohnzimmer.
„Wau! Stark!", rief er.
Fabian wackelte an Willy mit lauten, euphorischen
Quietschgeräuschen vorbei.
Willy gefror das Lachen im Gesicht.
„Nein!", rief er, „Nicht die olle Bäckerei! Hier,
schaut, die tolle Burg."
Doch keines der beiden Kinder schenkte ihm noch
Beachtung.
Den Rest des Abends hockte Opa auf dem Fußboden und
ließ die Burg von sechs tapferen Rittern erobern. Seine Enkel versorgten ihn
derweil mit leckerem Kuchen.
© Pebby Art
Pebby
Art schreibt und illustriert Kinderbücher. Sie hat ein
literaturwissenschaftliches Studium absolviert und beschäftigt sich seit
1999 intensiv mit dem Schreiben. Wenn sie nicht am Computer sitzt und
Geschichten erfindet, unterrichtet sie in Integrationskursen und auch
ehrenamtlich beim DRK.
Unter
dem Pseudonym „Jamie Craft“ ist dieses Jahr „Die Prophezeiung. Das
Inferno von Little Germany, New York“ erschienen. Es ist der erste Roman
der Autorin im Erwachsenengenre.