Foto von Eva Joachimsen |
Am Heiligabend hingen bleierne Wolken am Himmel. Die Luft war eisig, und
schwere, weiße Flocken fielen ununterbrochen zur Erde. Schnell brach die
Dunkelheit herein, und man sah nur noch vereinzelte dick vermummte Menschen
durch die Straßen hasten.
Die Holzbuden des Weihnachtsmarktes waren bereits abgebaut. Alle
Geschäfte hatten geschlossen und trotz der erleuchteten Schaufenster wirkte der
Marktplatz düster. Flüsternd legte sich der Schnee auf die Stadt und deckte
alles zu.
„Wie ein Leichentuch“, dachte das Mädchen. „Ein
großes, entsetzlich kaltes Leichentuch.“
In ihrem Jäckchen, den Jeans und Sneakers fror sie
erbärmlich. Ihre Zähne schlugen mit leisem Klappern aufeinander. Die Füße waren
so eisig, dass sie ihre Zehen nicht mehr spüren konnte, und die Hände waren
blau vor Kälte. Sie blies einige Male hinein und rieb die Handflächen
aneinander, um sie ein wenig zu wärmen.
Ihre Nase lief. Ungeduldig wischte sie den Schleim
mit dem Ärmel fort und versuchte vergeblich, die aufsteigenden Tränen
zurückzuzwinkern. Sie liefen aus den Augenwinkeln und vermischten sich mit den
schmelzenden Schneekristallen auf ihrem Gesicht.
„Scheiße!“, flüsterte das Mädchen. „Verdammte
Scheiße.“
Ein Zittern überlief ihren Körper. Sie biss sich
auf die Lippen, die taub vor Kälte waren, und zog die Flasche Baccardi, die sie
aus einem Supermarkt hatte mitgehen lassen, unter der Jacke hervor. Fast leer.
Sie nahm einen Schluck, und schob sie wieder zurück. Das harte Glas fühlte sich
irgendwie tröstlich an.
Ziellos irrte sie durch die Straßen zwischen den
Wohnblocks. Ein Mann kam ihr entgegen. „Entschuldigung“, sprach sie ihn an. „Haste
etwas Kleingeld übrig? Oder `ne Kippe?“
Er schaute nicht einmal auf, so als existierte sie
gar nicht. „Frohe Weihnachten!“, grölte sie ihm hinterher, doch er drehte sich
nicht um.
Resigniert fuhr sie sich das feuchte, dunkle Haar.
Den ganzen Tag über hatte sie Passanten vergeblich um ein paar Cents
angebettelt. „Und jetzt hocken sie daheim“, dachte sie. „All die Papis mit den
Mamis. Im Warmen. Unterm Weihnachtsbaum. Mit ihren lieben Kleinen, einem ganzen
Berg Geschenken und `ner fetten Weihnachtsgans.“
Ihr Magen knurrte und zog sich zu einem pochenden
Klumpen zusammen. Deprimiert schleppte sie sich weiter, blind für den
Lichterglanz hinter den Fenstern, taub für die Weihnachtslieder, die gedämpft
aus den Häusern klangen.
Etwas in ihrem Inneren schrie. Es schrie nach
Essen, Wärme, nach Licht, nach ... nach ... Jedenfalls schrie es, bis es
irgendwann in ein erbärmliches Wimmern überging.
Jeder Schritt tat weh, sie konnte kaum noch laufen.
Sie schlug den Kragen hoch, schob ihre Hände in die Taschen und spielte mit dem
billigen Plastikfeuerzeug herum.
In dem Winkel zwischen einem Kiosk und einer mit Graffitis beschmierten
Tiefgarage, in dem es trotz der Schneedecke nach Urin stank, hockte sie sich
schließlich hin. Erschöpft lehnte sie den Kopf gegen die Mauer und zog die
Beine an.
Eine alte Frau ging mit einem Dackel vorbei.
„He!“, rief das Mädchen. „Warte ...“
Der Hund kläffte. Da, wo er sein Geschäft erledigt hatte, dampfte es.
Die Alte zerrte an seiner Leine, und schlurfte davon.
Schnee rieselte lautlos vom Himmel. Die einzigen Geräusche waren der
Atem des Mädchens, das Scharren, wenn sie die Flasche aufschraubte, und das
Gluckern, wenn sie trank.
In der Ferne läuteten Glocken. „Christmette“, dachte sie und
beobachtete, wie Menschen zur Kirche gingen. Vorbei an der Ecke zwischen dem
Kiosk und der Garage, vorbei an ihr, mit abgewandten Blicken. Ihr Lachen und
Stimmgewirr verklang. Es wurde wieder still.
Das Mädchen trank den Rest Baccardi, und zog das Feuerzeug hervor. Es
ratschte, als sie an dem Rädchen drehte. Orangerote Funken sprühten, dann
erstrahlte eine gelbe Flamme und tauchte alles in eine wundersame Helligkeit.
„Was für ein eigenartiges Licht!“, sinnierte das Mädchen. „So hell und
warm. Man könnte beinahe denken, dass ich vor einem Kamin sitze.“
Sie hörte förmlich das Prasseln lodernder Flammen. Die brennenden
Scheite verströmten ein rauchiges Aroma und ab und zu knackte das Holz laut in
der Glut. Das Mädchen streckte ihre Füße der wohltuenden Hitze entgegen.
„Gleich wird jemand kommen und fragen, ob ich heißen Kakao und Zimtsterne
möchte“, dachte sie und lächelte.
Da blies der Wind die kleine Flamme aus.
Zurück blieben Frost und eine Finsternis, die sie blendete.
„Da ist nichts“, flüsterte das Mädchen. „Nichts ... gar nichts.“
Der Schnee unter ihr hatte die letzten trockenen Fasern der Hose
durchnässt. Doch sie merkte es nicht, blieb einfach sitzen und machte das
Feuerzeug wieder an.
Das Flämmchen flackerte und spendete ein lebendiges, schimmerndes Licht.
Da, wo der Schein die Kioskmauer berührte, verschwamm das Grau, schmolz dahin,
tropfte zu Boden wie schmutziges Wasser und die Wand wurde glasklar.
„Das gibt `s doch nicht!“ entfuhr es dem Mädchen. Sie schaute in ein
Esszimmer. In einer Ecke tickte eine Standuhr. Der Tisch war gedeckt und auf
dem Adventsgesteck in der Mitte brannten vier rote Kerzen. Da stand eine große
Schüssel Kartoffelsalat mit goldgelber Mayonnaise und eine Schale Mostrich, Bockwürste dampften
auf einer Platte. Alles verströmte solch einen appetitlichen Geruch, dass dem
Mädchen das Wasser im Mund zusammenlief und sie ohne nachzudenken danach griff.
In diesem Augenblick fiel ihr das Feuerzeug aus den steifen Fingern und
verlosch.
„Nein!“, schrie das Mädchen. „Nein!“ Ihre gefühllosen Hände wühlten im
Schnee, tasteten herum, durchpflügten ihn und umschlossen endlich das
Feuerzeug.
Sie versuchte, es zu entzünden. Einmal ... zweimal und ein drittes Mal,
doch nichts passierte. „Komm schon ... komm schon ...“, stammelte sie. Endlich
flammte es auf - und beleuchtete einen Weihnachtsbaum. Wachskerzen waren an den
Zweigen befestigt, die goldenen Flämmchen tanzten und brachten die Kugeln in
den dichten Tannenzweigen zum Glänzen. Fünkchen glommen, schwirrten wie
Glühwürmchen umher und stoben davon.
Eines blieb zurück, dehnte sich aus und formte sich zu einem großen
Stern. Sein Strahlen hüllte das Mädchen ein wie ein schützender Mantel.
Plötzlich erinnerte sie sich daran, was ihre Großmutter ihr einmal erzählt
hatte: „Jeder von uns hat einen Stern, und wenn ein Mensch stirb, fällt dieser
Stern zur Erde und trägt die Seele in den Himmel hinauf.“
Einmal, ganz kurz, wurde alles schwarz. Dann konnte das Mädchen die Welt
von oben sehen.
Sie lachte. Sie lachte und lachte und konnte überhaupt nicht mehr
aufhören. Sie hatte keinen Hunger mehr und fror auch nicht. Sie war nicht
länger traurig oder ängstlich.
Ganz tief unter sich sah sie ein Mädchen in einem
Winkel an eine Hauswand gelehnt sitzen. Sie war beinahe noch ein Kind, doch je
höher der Stern aufstieg, desto kleiner wurde sie, schwand dahin, schrumpfte zu
einem winzigen Punkt, der schon bald nicht mehr zu sehen war.
Früh am nächsten Morgen benachrichtigte der
Kioskbesitzer die Polizei: „Da liegt `n Mädchen in der Gasse. Tot ...
Wahrscheinlich `ne Schnapsleiche.“
Als die Beamten mit einer Mitarbeiterin des
Jugendamtes eintrafen, sahen sie den Leichnam des Mädchens starr an der Mauer
lehnen.
„Das ... das ist Céline“, murmelte die
Sachbearbeiterin. „Céline Reuter.“ Sie versuchte den Kloß in ihrem Hals
hinunterzuschlucken.
Der Schnee begann das Mädchen zuzudecken. Ein
großes, entsetzlich kaltes Leichentuch. Ihr Gesicht war bleich, beinahe
durchscheinend, und die Augen waren unverwandt auf die Kioskwand gerichtet.
Eine zarte Hand mit violett verfärbten Fingernägeln umklammerte ein Feuerzeug,
mit dem sie sich wohl hatte wärmen wollen. Das Merkwürdigste aber war, dass ihr
Mund zu einem Lächeln verzogen war. Beinahe so, als hätte sie etwas ganz und
gar Wunderbares gesehen.
Nach dem Märchen „Das kleine Mädchen mit den
Schwefelhölzchen“ von Hans-Christian Andersen.
© Sabine Ludwigs
Die Autorin Sabine Ludwigs (www.sabine-ludwigs.de) war für einen Kleinverlag als Lektorin und Pressesprecherin tätig. Zur
Schriftstellerei fand sie 2004. Bis etwa 2010 verfasste sie ausschließlich
Kurzprosa. Es kam zu zahlreichen Publikationen in Anthologien bei diversen
Verlagen und Zeitungen. Ihre
Arbeiten sind in Print- und Hörmedien sowie als E-Book publiziert. Ein Teil ist
Unterrichtsmaterial für das Fach Religion/Ethik an weiterführenden Schulen, wie
auch an Grundschulen (Leseförderung). Inzwischen
veröffentlicht die Autorin vorwiegend Unterhaltungsromane.
2011 erfolgte ihre erste Einzelveröffentlichung, eine
Kurzgeschichtensammlung ihrer bis dahin publizierten Krimis und Thriller (Die Totmacher). 2012 erschien ihr
Debütroman „Der Sommer mit dem
Erdbeermädchen“ sowie in den drei Folgejahren „Meine Seele weiß von
dir“, „Acht Tage bis Ewigkeit“, „Winterspaß und Weihnachtszauber und „Stirb!
Rotköpfchen“. Sabine
Ludwigs wurde mit dem Friedens-Literaturpreis des Berliner Kulturrings und mit
dem Literaturpreis Gedichte &
Balladen der Ideale Stiftung ausgezeichnet.