Sonntag, 6. Dezember 2015

Ein turbulenter Adventssonntag von Heidi Dahlsen



Foto von Eva Joachimsen

Als Christine ins Wohnzimmer kommt, schaltet Olli gerade den Plattenspieler an. Das leise Kratzen der Nadel lässt erkennen, dass die Schallplatte schon oft abgespielt wurde.
Er lächelt sie an. „Es geht doch nichts über die alten Weihnachtslieder. Da komme sogar ich in eine festliche Stimmung. Die Jungs haben mich vorhin gefragt, ob sie ein Märchen hören dürfen. Ich habe sie auf später vertröstet, damit wir uns nachher mit Lydia in Ruhe unterhalten können. Ich bin erstaunt, wie lange sie still sitzen und andächtig lauschen können, sowie eine Geschichte beginnt. Nur gut, dass deine Mutti die alten Märchenschallplatten aufgehoben hat. Solche Hörerlebnisse prägen auch ihre Kindheit, und sie werden sich hoffentlich später daran erinnern.“
„Das kann ich nur bestätigen“, sagt Christine. „So oft, wie ich die Platten als Kind gehört habe, kann ich die meisten Texte heute immer noch mitsprechen.“
Sie setzen sich auf die Couch und genießen die Musik.

Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Die Lichter der Außenbeleuchtungen lassen die tief verschneite Waldsiedlung in einem festlichen Glanz erstrahlen.
„Leider ist von den weihnachtlichen Dekorationen der anderen Anwohner nicht mehr viel zu sehen“, denkt Lydia, als sie bei ihnen ankommt. Vor der Haustür klopft sie sich den Schnee von den Stiefeln und betritt den Flur. „Das ist das Schöne an Christines Zuhause – man kann einfach eintreten und ist immer willkommen.“
Lydia lächelt ihre Freundin an, die ihr entgegenkommt und übergibt ihr eine Flasche Rotwein sowie einen wunderschönen Adventsstrauß.
Ihre Augen beginnen zu glänzen, als sie im Wohnzimmer die vielen Kerzen sieht, deren Licht den Raum erhellen. Am Adventskranz brennen vier dicke rote Stumpenkerzen, und eine Pyramide dreht unermüdlich ihre Runden.
Lydia genießt den Duft von frischem Tannengrün, Kaffee, Zimt und Lebkuchen und ist von der ganzen Atmosphäre, die von einem Weihnachtslied ergänzt wird, ganz bezaubert. Auf dem Tisch steht ein Teller mit Christines selbstgebackenen Plätzchen. In Gedanken lässt sie sich diese schon auf der Zunge zergehen.
„So stelle ich mir Weihnachten vor“, sagt sie fast feierlich und begrüßt nun auch Olli.
Da die Schallplatte gerade zu Ende ist, geht er zum Plattenspieler und legt eine andere auf.
Lydia hört, dass die Jungs in der oberen Etage toben und fragt lächelnd: „Wie haltet ihr das nur aus?“
Christine und Olli sehen sich an und grinsen.
„Das ist alles nur Gewohnheitssache“, sagt er. „Für uns ist das eigentlich eher Musik in den Ohren. Wir genießen das Zusammensein einfach und sind alle froh, dass Sybille nach wie vor kaum Interesse an den Jungs hat. Wenn sie sie mal sehen will, spricht sie das mit Christines Mutti ab. Ich werde Sybille hoffentlich zur Scheidung nur kurz ertragen müssen. Ansonsten ist mein Bedarf an ihr mehr als gedeckt.“
„Richard erstarrt immer noch zur Salzsäule, sobald Sybille in seine Nähe kommt“, sagt Christine. „Meine Mutti musste ihm versprechen, bei ihm zu bleiben und aufzupassen, damit sie ihn nicht mitnehmen kann. Das ist Mutti in der Zwischenzeit schon peinlich, weil sie das Gefühl hat, Sybille zu beaufsichtigen.“
„Das Misstrauen von Richard hat sie sich verdient“, sagt Lydia. „Darüber sollte sie sich eigentlich nicht beklagen.“
„Karl-Otto ist stinksauer, weil er die Jungs seit dem Sommer nicht mehr sehen durfte und hat gedroht, gerichtlich gegen uns alle vorzugehen“, sagt Olli. „Mein Anwalt meint aber, dass er keine Chancen hat. Das Wohl der Kinder steht im Vordergrund, und dagegen hat er bisher massiv verstoßen.“
„Es ist schon schlimm, dass deine Ehe so enden muss und die Kinder darunter leiden“, sagt Lydia zu ihm. „Aber bei euch haben die Jungs wenigstens die Möglichkeit, kindgerecht groß zu werden.“
„Ich wundere mich, dass Sybille keinen Einspruch einlegt, weil die Kleinen in den Waldkindergarten gehen und dort fast den ganzen Tag an der frischen Luft sind. Wenn sie sehen würde, wie die manchmal nach Hause kommen …“, sagt Olli und strahlt dabei über das ganze Gesicht.
„Nur gut, dass ich durch Daniels Ideenreichtum schon etwas abgehärtet bin“, sagt Christine. „Du kannst dir nicht vorstellen, was Bertram so alles für Lebewesen anschleppt. Letztens hat es im Flur unangenehm gerochen. Ich konnte nichts Verdächtiges finden, bis ich seinen Anorak waschen wollte und in einer Tasche einen Frosch fand. Bertram hat mir erzählt, dass er ihn eigentlich in einem Glas unterbringen wollte, damit ich immer weiß, wie das Wetter wird. Tja, so etwas lernen Kinder im Waldkindergarten. Aber an der Umsetzung des Gelernten müssen wir noch etwas arbeiten.“
„Dabei hatten wir noch Glück“, ergänzt Olli, „weil der Frosch, bevor Bertram ihn fand, Bekanntschaft mit einem Autoreifen gemacht hat. Nicht auszudenken, wenn er einen lebendigen mitgebracht hätte. Dann hätten unsere Nasen sicher mehr zu schnüffeln bekommen.“
„Seitdem er mal mehrere Regenwürmer in seiner Hosentasche gesammelt hatte, kontrolliere ich täglich sämtliche Taschen“, sagt Christine. „Tierliebe ist ja ganz schön, aber wie Bertram damit umgeht, ist etwas gewöhnungsbedürftig. Stellt euch nur Sybilles entsetztes Gesicht vor, wenn sie ständig mit dem mehr oder weniger lebendigen Getier konfrontiert werden würde.“
„Dazu wäre es nie gekommen“, sagt Olli kopfschüttelnd. „Die Jungs durften ja kaum raus, damit sie sich an der frischen Luft nicht erkälten, und mussten oft ihre Hände waschen. Eigentlich wurden sie eher steril gehalten. Es hat aber auch Vorteile, dass Bertram keine Berührungsängste hat. Weißt du noch, als eine große Spinne neben Tillys Bett hochgekrabbelt ist? Da hat er beherzt zugegriffen und sie zu dir gebracht.“
Christine verzieht das Gesicht und lacht. „Er hielt sie mir hin und sagte: `Mama Dristine, ich bringe dir was für die Suppe. Hex … hex … Fleisch für deine Hexenküche´. Das fette Vieh erinnerte mich sofort an das Geburtstagsgeschenk, das du von Sybille bekommen hast.“
„Meine liebe Christine, ich hatte es beinahe vergessen“, sagt Olli gespielt vorwurfsvoll. „Auf so eine dämliche Idee, mir eine Vogelspinne zu schenken, kommst du hoffentlich niemals.“
„Versprochen“, sagt Christine und strahlt Olli an. „Ich grüble aber immer noch darüber nach, was Sybille dir damit sagen wollte.“
Olli holt tief Luft und bläst die Wangen auf. Da ihm jedoch keine Antwort einfällt, atmet er nur geräuschvoll wieder aus.
Lydia hat beide beobachtet und ist immer stiller geworden. Ihre derzeitige Situation erscheint ihr als Desaster, wenn sie diese mit Christines neuer Familie vergleicht. Sie konzentriert sich wieder auf ihre Freunde, um die trüben Gedanken zu verdrängen, und versucht, das Zusammensein wenigstens etwas zu genießen. Sie kann sich gut vorstellen, dass Olli glücklich darüber ist, dass seine kleinen Söhne bei ihm sind und endlich ein Stück Freiheit erleben dürfen und vor allem sehr geliebt werden.
„Ich habe trotz allem ein schlechtes Gewissen“, sagt Olli, „weil Richard so viel bei Christines Mutti ist. Ich weiß, dass es ihm dort gut geht, aber ich habe das Gefühl, dass ich als Vater nicht das Beste für ihn tue. Erst dachte ich, es sei ganz gut für ihn, damit er zur Ruhe kommt. Mit der Zeit ist das aber irgendwie selbstverständlich geworden.“
„Du siehst ihn doch jeden Tag, oder?“, fragt Lydia.
„Ja, aber manchmal nur auf der Fahrt zum und vom Kindergarten. Das ist mir etwas wenig. Er wird im Januar erst fünf Jahre alt, und die meiste Zeit mit ihm verpasse ich eigentlich.“
„Vielleicht ist er auch nur so oft auf dem Reiterhof“, wirft Christine ein, „weil dort das alte Klavier steht. Meine Mutti hat mir erzählt, dass er sehr viel Zeit daran verbringt. Vielleicht sollten wir es hier aufstellen. Dann löst sich das Problem vielleicht von selbst.“ Sie schaut Lydia erwartungsvoll an und sagt zu ihr: „Nun erzähle uns aber erst mal von deinem neuen Buch. Das sollte doch eine Familienchronik werden.“
Lydias Augen leuchten wieder etwas auf.
„Elke, meine Urlaubsbekannte, hatte mir eine ganze Menge aus ihrem Leben erzählt“, sagt sie. „Hätte ich da bereits gewusst, welche umfangreiche Geschichte dahinter steckt, hätte ich nicht erst gezögert, ein Buch darüber schreiben zu wollen. Es ist bereits beim Verlag, deshalb kann ich euch verraten, dass der Titel `Lebt wohl, Familienmonster´ lautet. Das sagt doch schon fast alles.“
Sie übergibt Christine eine dicke Mappe.
„Ich habe die Endfassung mitgebracht, damit du mir noch schnell ein paar eventuell übersehene Fehler rausfischen kannst, bevor es gedruckt wird.“
 Christine verzieht ihr Gesicht.
„Puh, Rechtschreibung. Du weißt, dass ich da für nichts garantiere.“
„Du sollst doch nur mal gucken, ob dir etwas auffällt. Nach der Reform der Rechtschreibreform weiß das sowieso kaum jemand auf Anhieb. Ich wundere mich öfter über die automatische Rechtschreibkontrolle meines Computers, und dann muss der gute alte Duden herhalten. Zum Beispiel kann ich mich nur schwer damit anfreunden, dass wohl fühlen auseinander geschrieben wird. Das ist, als würde man miteinander kuscheln, ohne sich zu berühren. Wie soll man sich denn da beim Kuscheln wohl fühlen. Und Kommas kann man zurzeit sowieso setzen, wie einem gerade zumute ist … na ja, irgendwie“, lacht Lydia. „Jedenfalls werde ich dich nicht verklagen. Ich weiß, wie das ist, wenn behauptet wird, man wäre zu blöd zum Korrekturlesen.“
Olli wird stutzig und fragt: „Verklagt dich jemand, weil zu viele Fehler in deinen Büchern sind?“
„Nein. Ich musste nur an den Anfang meiner Karriere denken, als meine Bücher noch nicht bekannt waren und ich zusätzlich bei einem Verlag gejobbt habe.“
„Davon hast du mir noch nie was erzählt“, sagt Christine.
Lydia winkt ab. „So interessant ist die Geschichte nicht.“
„Es wird Zeit, dass du darüber berichtest“, fordert Olli sie auf.
„Na gut … Also dort arbeitete auch ein Lektor, dem niemand etwas recht machen konnte, außer man lobte ihn überschwänglich. Er wollte beim Chef durchsetzen, dass ich entlassen werde. Seine Begründung lautete: `Lydia findet kaum Fehler.´
Mit einer Kollegin war ich gemeinsam für das Korrekturlesen verantwortlich. Sie fing meistens vorn an zu lesen, und ich nahm mir eben zuerst den hinteren Teil vor.
Sie schlug vor, dass sie alle Fehler mit einem roten Stift markiert. Ich sollte einen grünen nehmen, damit die Autoren gleich wissen, an wen sie sich bei Rückfragen wenden können. Gesagt – getan. Als jeder mit seinem Teil fertig war, tauschten wir und lasen sozusagen das zweite Mal über den Text. Das macht sich gut, weil man doch schnell etwas übersieht. Jedenfalls waren auf sämtlichen Seiten rote und grüne Anmerkungen.
Besagter Lektor rümpfte die Nase, als er das sah und lief sofort zum Chef, weil er der Meinung war, dass meine Kollegin immer nach mir noch viele Fehler fand. Wir konnten aber den Chef aufklären. Er sah zum Glück alles etwas lockerer. Ihm kam es darauf an, dass alles, was den Verlag verlässt, weitestgehend fehlerfrei ist. Und das war es auch. Hätte ein Dritter nach uns gelesen, hätte der sicher auch noch einzelne Fehler gefunden. Da aber nie Klagen kamen, war das unserem Chef egal.“
„Solche Leute kann ich leiden“, sagt Olli. „Behauptungen aufstellen, ohne die Hintergründe zu kennen und dann noch petzen. Diesem Lektor hätte ich ein Schild mit der Aufschrift: `Achtung! Vor Inbetriebnahme des Mundwerks – Gehirn einschalten!´ über dem Schreibtisch angebracht.“
„Das hätte nichts geholfen“, sagt Lydia. „Der war dermaßen von sich überzeugt. Um solche Menschen kann man nur einen Bogen machen.“
Christine blättert in dem umfangreichen Manuskript und ist verwundert. „Wieso bist du eigentlich so schnell fertig geworden?“
„Ich hatte dir doch erzählt, dass Elke mir Notizen über ihr Leben schicken wollte“, antwortet Lydia. „Na gut, dachte ich, erst mal abwarten. Sie hat mich jedoch positiv überrascht. Alles zusammen war das schon ein ziemlich fertiger Entwurf, den sie bereits selbst mehreren Verlagen angeboten hatte. Es wird aber immer schwerer, jemanden zu finden, der sich die ersten Versuche eines unbekannten Autors überhaupt anschaut. Einige Verlage haben ihr umgehend abgeschrieben, einem sollte sie erst einmal eine Unsumme überweisen, und einer hat nur sein Bedauern zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht berühmt ist, denn dann wäre eine Veröffentlichung gar kein Problem. Davon kann ich nun profitieren. Meine Lektorin ist ziemlich begeistert und somit zufrieden mit mir. Während meiner Schreibblockade im Herbst hatte sie sich Sorgen gemacht.“
„Na, wir uns erst“, sagt Christine.
„Oholli, kommst du mal hoch“, ruft Daniel. „Bertram steckt schon wieder etwas in der Nase fest.“
Sie hören Bertram schreien. Olli springt auf und läuft nach oben. Lydia sieht erschrocken zu Christine und wundert sich, dass sie einfach ruhig sitzen bleibt.
„Wir haben einen Notfallplan“, erklärt Christine ihr. „Olli kümmert sich um die kleinen Katastrophen, und ich mache den Rest. Manchmal müssen wir mehrmals am Tag seine Nase beräumen. Es hilft auch nicht, dass Olli ihm gedroht hat, dass beim nächsten Mal ein Arzt mit einer großen Zange kommen muss. Man hört ja öfter, dass kleine Kinder sich irgendetwas in die Nase oder Ohren schieben. Olli sagt, was reinpasst, wird schon wieder herauskommen. Nun erzähl mir aber erst mal, was du Weihnachten machst. Feierst du wieder mit uns?“
„Ich fahre am ersten Feiertag zu meinem Bruder“, antwortet Lydia, „denn das Spektakel am Heiligabend auf dem Reiterhof will ich mir nicht entgehen lassen. Wer kann schon Weihnachten in einer alten Scheune verbringen? Tilly schwärmt seit Wochen von nichts anderem. Jutta hat mir erzählt, dass Jenny sogar mal nichts zu meckern hat, und das will was heißen. Ich bin aufgeregt wie ein Kind … na ja, fast. Aber ich konnte mich schon seit Jahren nicht mehr so auf den Heiligabend freuen.“
„Weihnachten macht doch erst Spaß, wenn viele Kinder dabei sind“, sagt Christine. „Die Mädchen sind sehr begeistert von dem Theaterstück, das du für sie geschrieben hast. Um alles real wirken zu lassen, wollten sie ein echtes Baby für die Krippe. Sie gingen davon aus, dass das für Bertram ein Spaß wäre. Er soll sich jedoch mit Händen und Füßen gewehrt haben, als sie ihn zur Probe reinlegen wollten. Und Richard hat sofort den Kopf geschüttelt, als Tilly ihn nur fragend angeschaut hat. Meine uralte Babypuppe muss nun als Jesuskind herhalten.“
„Und es besteht wirklich gar keine Möglichkeit, sich die Scheune schon mal anzusehen?“, fragt Lydia.
„Es ist große Heimlichkeit angesagt“, sagt Christine. „Die Mädchen haben alles genau geplant und vorbereitet, vom zeitlichen Ablauf bis zum Baum schmücken. Onkel Heinrich wurde gebeten, die riesige Tanne aufzustellen, und den Kamin soll er vorbereiten. Ansonsten liegt eine Glocke des Schweigens über der Scheune. Selbst die Tür zu meiner Werkstatt wurde verschlossen, damit ich nicht zufällig in die Vorbereitungen platze.“ …


Auszug aus dem Buch „Ein Hauch Zufriedenheit
von Heidi Dahlsen.

Kurzvita: Heidi Dahlsen ist verheiratet, hat zwei Kinder und eine Enkelin. Sie schreibt nicht einfach nur Bücher, sondern füllt diese mit Lebensgeschichten. Für sie ist das Schreiben eine Form des Verarbeitens ihrer Erlebnisse. Sie möchte aufwecken und wachrütteln, die Menschen sensibilisieren und mit Vorurteilen gegenüber psychischen Erkrankungen aufräumen. Sie wünscht sich, dass von diesen Krankheiten betroffene Menschen von der Gesellschaft toleriert, akzeptiert und vor allem in die Gesellschaft integriert werden. Bei allen in ihre Bücher gepackten Emotionen, Informationen und Abrechnungen gelingt es ihr noch, den Leser zu unterhalten.
Homepage: www.autorin-heidi-dahlsen.jimdo.com