Samstag, 12. Dezember 2015

Ein Augenblick zur Ewigkeit von Tine Sprandel


Foto von Tine Sprandel

Es ist Winter. Über Nacht fiel Neuschnee. Eine weiße Welt bedeckt den Rasen, die abgeschnittenen Stauden, die Terrasse, die Wege. Alles ist eins. Spuren von Katzenpfoten, sonst nichts auf der weißen Fläche.
Sie ist so rein und heil, bereit zur Andacht. Die Frau, die aus dem Fenster auf das Weiß schaut, möchte auf keinen Fall die Fläche betreten. Diese Stille und Unschuld halten! Für eine Ewigkeit!
Die Sonnenstrahlen spiegeln sich in den Schneekristallen; die Einsamkeit fühlt sich auf einmal wie ein Geschenk an.
Einsam ist im Grunde jeder Mensch. Auch die Menschen, die nicht alleine leben. Im Teenageralter spürt man diese Ureinsamkeit das erste Mal mit aller Macht. Die alte Frau hätte sich gewünscht, wenn ihr damals jemand diese Schneefläche gezeigt hätte.
Mit dem Finger deutet sie auf das Weiß: Siehst du, Kind (auch wenn sie es anders sehen, Teenager sind große Kinder), das ist die Einsamkeit, die wohl tut.
Was soll an solchen Flächen schon gemeinsam sein?, fragt das junge Mädchen.
Weil die Schneekristalle leuchten. Hörst du, wie ruhig die Welt geworden ist?
Die Enkelin sieht die Großmutter an: Ist deine Welt still geworden?
Oh ja, das Rauschen nimmt ab, je älter man wird.
Aber dann ist man ja schon halbtot!, platzt es aus dem Mädchen heraus.
Die alte Frau deutet wieder auf das Weiß im Garten. Sie hat eine feingliedrige, faltige Hand. Sieht das Weiß tot aus?
Die Enkelin verfolgt das Flirren der Sonne. Strahlen werden nicht absorbiert, weiß ist keine Farbe.
Die alte Frau sieht all die praktischen Gedanken hinter der Stirn des Mädchens entlang huschen. Es möchte die Großmutter verstehen, aber ihr Kopf ist zu voll von Fakten.
Ich erreiche die Jugend nicht, nicht mal in Gedanken. Die alte Frau seufzt und schüttelt ihren Tagtraum ab.
Zurück zum Alltag. Der Einkauf muss warten, bis die Gehsteige frei sind. Langsam das Bad putzen, dann eine Kleinigkeit kochen. Am Leben bleiben.
Abends ist der Schnee von der Sonne angetaut, tiefe Riefen vom Tauwasser verunstalten die heile Fläche. Das Telefon klingelt.
„Oma, ich bin heute durch das Winterweiß spaziert und habe an dich gedacht! Wie schön, dass du da bist.“
Der alten Frau rinnt eine Träne der Rührung über die Wange. Nur für einen Augenblick.

©tine sprandel 2015

Tine Sprandel lebt und schreibt im Münchner Süden. Erschienen sind bereits mehrere Kinderbücher, zwei Kurzromane aus der Serie „Quick, quick, slow - Tanzclub Lietzensee" und in diesem Jahr ganz neu ein Kriminalroman.
„Die Vorgängerin“ entführt ihre Leser nach Wörgl und nach Kitzbühel. Die Dirndl Verkäuferin Sigrid ermittelt, nicht ganz allein, aber doch oft auf sich allein gestellt. Mehr Infos gibt es auf Tines Autorenseite.