Foto von Eva Joachimsen |
Er brachte
mir das Schwimmen bei, das Fahrradfahren und er hat mir oft Geschichten erzählt
wenn ich krank war oder nicht einschlafen konnte.
An
Weihnachten spielte er Mensch-ärgere-dich-nicht mit mir, um mir das Warten auf
die Bescherung zu verkürzen. Ich erinnere mich noch gut an den Heiligabend vor
fünf Jahren.
Meine
Mutter hatte Gans, Rotkohl und Klöße gekocht. Zum Nachtisch gab es Vanilleeis
mit heißen Himbeeren und Sahne.
Das war
Olivers Lieblingsweihnachtsgericht. Doch obwohl es sehr gut schmeckte und der
Tisch schön gedeckt war, mit Kerzen und Tannengrün und allem, sprachen und
lachten wir nicht viel beim Essen.
Wir waren
bedrückt und traurig, weil wir Oliver für eine lange Zeit nicht sehen würden.
Aber niemand wollte sich etwas anmerken lassen. Oliver versuchte seiner Stimme
einen fröhlichen Klang zu geben, als er von seinem Abschiedsbesuch bei den
Großeltern erzählte und vorschlug, im nächsten Jahr in den Skiurlaub zu fahren.
Nach der
Bescherung - ich bekam die Carrerabahn, die ich mir sehnlichst gewünscht hatte,
und konnte mich trotzdem nicht so richtig freuen - schlich ich in die Diele.
Da standen
Olivers dunkelgrüner Rucksack und seine Tasche und jede Menge anderes Zeug.
Oliver
brauchte all die Sachen. Er war Soldat und musste in seine Kaserne zurück, und
von dort würde er sich auf eine lange Reise machen. „In den mittleren Osten,
Timo“, hatte er mir erklärt. „In ein Land, das Afghanistan heißt.“
Da
herrschte Krieg. Und Oliver gehörte zu den Friedenstruppen, die dorthin fuhren,
um den Menschen zu helfen.
Ich
bewunderte meinen Bruder und dachte: Wenn ich erwachsen bin, will ich auch so
sein. Dann gehe ich zu den Friedenstruppen, bekomme eine tolle Uniform und –
das Beste von allem! - so ein Fernglas, wie Oliver es besitzt. Denn das hatte es mir angetan.
Ich nahm es
heimlich aus dem Rucksack, und genau in dem Moment kam Oliver herein.
Er grinste,
als er mich mit dem Fernglas ertappte, und nahm mich mit in sein Zimmer.
Da zog er
die Vorhänge vor dem Fenster zurück und sagte: „Sieh in den Himmel.“
Das tat
ich; ich schaute durch das Fernglas nach oben. Der Himmel war mit schimmernden
Sternen übersät. Es waren unzählige. Und sie waren unglaublich nah! Manche
strahlten bläulich, andere eher gelb und wieder andere weiß.
Aber der
größte und schönste Stern funkelte in goldenem Licht und ich musste tief
einatmen, als ich ihn so dicht vor mir sah.
Oliver
legte eine Hand auf meine Schulter. „Du hast wohl den Weihnachtsstern entdeckt,
was?“ Er lachte leise.
Ich ließ
den Stern nicht aus den Augen und folgte seinen Strahlen mit dem Fernglas. Und
da entdeckte ich ihn! Wie von einem Scheinwerfer angeleuchtet war da ein
großer, weißer Hund. Er tollte auf einer Wiese herum, wie Hunde das eben
manchmal tun.
„Guck mal,
Oliver, da ist ein Hund und er ist ganz alleine!“, schrie ich.
Oliver
schaute durch das Fernglas. „Ah ja“, sagte er und reichte es mir zurück. „Weißt
du, wer das ist?“
Ich
schüttelte den Kopf.
„Das ist
Malaika. Sie ist ein Hirtenhund und gehörte einst den Hirten, die am Stall von
Bethlehem waren.“
„Ach
Quatsch“, rief ich und stellte das Fernglas schärfer, um Malaika besser sehen
zu können. „So was gibt es ja gar nicht.“
Aber da saß
Malaika vor mir! Ihr Fell leuchtete im Mondlicht und ihre Augen glänzten
dunkel. Sie war schöner als irgendein Hund, den ich je gesehen hatte!
„Doch. Ganz
bestimmt“, beharrte Oliver. „Allerdings kann man Malaika nur in der Heiligen
Nacht sehen. Und dann auch nur, wenn das Licht des Weihnachtssterns auf sie
fällt. Außerdem muss man sehr genau hinschauen ... mit einem Fernglas zum
Beispiel.“
Malaika
wedelte mit dem Schwanz und spähte in meine Richtung, als wüsste sie, dass ich
sie beobachtete.
„Glaub ich
nicht! Im Stall von Bethlehem waren doch nur ein Esel, ein Ochse und die
Schafe. Von einem Hund steht nirgendwo etwas“, wandte ich ein.
„Sie haben
vergessen, es aufzuschreiben“, behauptete mein Bruder. „Aber wo Schafe sind, da
sind auch Schäfer. Und Schäfer haben Hunde. Oder nicht?“
„Ja“,
musste ich zugeben. Ich konnte mich nicht sattsehen an Malaika. Und als Oliver
zu meinen Eltern zurückging, stand ich noch lange mit dem Fernglas da und malte
mir aus, was die weiße Hündin am Stall von Bethlehem erlebt haben mochte. Wie
sie leise bellte, wachsam umherschaute und die wolligen Schafe und ihre
blökenden Lämmer in der Nacht behütete. Alles unter dem Weihnachtsstern!
Hatte sie
den Chor der Engel gehört? Die Ankunft der Heiligen Drei Könige gesehen? Maria
und Josef? Womöglich sogar ... das Jesuskind?
Ich stand
ganz still. Ganz stumm. Wie verzaubert
war ich.
Ich musste
wohl in Olivers Zimmer eingeschlafen sein, denn als ich am Morgen erwachte, lag
ich in seinem Bett. Die Vorhänge waren zugezogen, das Fernglas war weg und
Oliver auch. Aber er hatte mir einen Brief dagelassen. In großen
Druckbuchstaben, damit ich ihn leichter lesen konnte.
LIEBER
KLEINER BRUDER!
DAS
FERNGLAS MUSSTE ICH LEIDER MITNEHMEN. ABER WENN ICH ZURÜCKKOMME, SOLLST DU ES
HABEN.
GROSSERBRUDEREHRENWORT!
DEIN OLIVER
Ich freute
mich sehr, weil Oliver noch nie ein Großerbruderehrenwort gebrochen hatte.
Dieses
allerdings hat er nicht gehalten. Er konnte es nicht. Sonst hätte er es getan,
da bin ich mir ganz sicher! Aber Oliver hat in Afghanistan bei einem
Bombenattentat sein Leben verloren.
Ich denke
fast jeden Tag an ihn. Den besten großen Bruder, den man sich vorstellen kann.
Es macht mich traurig, aber auch wütend über alle Kriege. Und ich frage mich,
was er wohl als Letztes durch sein Fernglas gesehen hat.
Er fehlt
mir entsetzlich. Doch am schlimmsten ist es zur Weihnachtszeit. Dann stelle ich
mich ans Fenster, schaue in den Himmel und suche nach dem Weihnachtsstern. Wenn
ich ihn finde und sein Glitzern sehe, höre ich immer Olivers Stimme. Leise, so
leise, dass nur ich es hören kann, erzählt er mir sein Weihnachtsmärchen von
Malaika, der weißen Hütehündin. In diesen Momenten ist es, als wäre er bei mir.
Autorin:
Sabine Ludwigs, aus „Mein Lieblingsweihnachtswunderbuch“.

2011 erfolgte ihre erste Einzelveröffentlichung, eine
Kurzgeschichtensammlung ihrer bis dahin publizierten Krimis und Thriller (Die Totmacher). 2012 erschien ihr
Debütroman „Der Sommer mit dem
Erdbeermädchen“ sowie in den drei Folgejahren „Meine Seele weiß von
dir“, „Acht Tage bis Ewigkeit“, „Winterspaß und Weihnachtszauber und „Stirb!
Rotköpfchen“. Sabine
Ludwigs wurde mit dem Friedens-Literaturpreis des Berliner Kulturrings und mit
dem Literaturpreis Gedichte &
Balladen der Ideale Stiftung ausgezeichnet.