„Es tut mir
leid“, räusperte sie sich. „Ich schaue jeden Tag, ob die feinen Schneekristalle
in den weißen Himmelsbändern eine Wetteränderung ankündigen. Meine Aufgabe als
Wolkenbeobachterin ist mir sehr wichtig. Doch wisst ihr, ihr beide seid mir
tausendmal wichtiger!“
Yolanda und
Petronella strahlten bis über beide Ohren, als sie das hörten.
„Warum habt ihr
mir nicht schon viel früher gesagt, wie euch zumute ist?“
„Weiß nicht“,
stammelte Petronella.
Yolanda
murmelte: „Ich weiß auch nicht so genau. Vielleicht, damit du nicht von uns
denkst, wir wären zwei kleine dumme Gänse.“
Adelgunde
verkniff sich ein Schmunzeln, als sie ausrief: „Ihr seid zwei kleine dumme
Gänse, wenn ihr nicht sagt, was euch bedrückt!“
Nun musste sie
doch herzhaft lachen. Sie drückte die beiden fest an ihre Brust.
„Heute geben wir
uns gegenseitig ein Versprechen. Egal, was es ist, wir sagen uns immer, wenn
wir traurig oder unglücklich sind. Sonst gerät zu guter Letzt noch alles
Durcheinander und der Kronleuchter fällt von der Decke.“
„Der ist ja
schon herunter gefallen!“, ereiferte sich das Nesthäkchen.
Adelgunde
lächelte , doch setzte mit ernster Mine nach: „Ja. Und ihr seid nochmal
glimpflich davon gekommen. Doch bevor ein weiteres Unglück geschieht, werdet
ihr jetzt mit dem Aufräumen beginnen.“
Während sie
einige Kalkkrümel von ihren Knien schüttelte, fiel ihr Blick auf die
zertrümmerte chinesische Bodenvase.
„Sammelt die
Scherben auf, damit sich niemand an ihnen verletzt. Vergesst nicht, den Staub
beiseite zu fegen. Und morgen kümmern wir uns um das Loch in der Decke. Ein
hartes Stück Arbeit wartet auf euch. Lasst euch nicht einfallen, eure
Zauberkräfte dafür zu verschwenden! Ich kann euch versichern: Das wird
garantiert nicht langweilig werden.“
Sofort verteilten
sich die beiden im Zimmer. Ohne zu murren begannen sie eifrig mit den
Aufräumarbeiten. Sie waren so emsig bei der Sache, dass sie nicht bemerkten,
wie Adelgunde sich den Kronleuchter schnappte und heimlich mit ihm ins
Nebenzimmer schlich.
***
Leise ließ sie
die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Unter ihrer Schürze verbarg Adelgunde
einen geheimnisvollen Schlüssel. Diesen fingerte sie nun hervor, schob ihn in
das Schlüsselloch und drehte ihn dreimal um.
„Fest
verschlossen“, vergewisserte sie sich, bevor sie die alte Eisentruhe
ansteuerte.
Sie klappte die
vorderen und seitlichen Beschläge herunter und öffnete den schweren Deckel. Nur
zögerlich gab er unter Adelgundes Händen nach, bevor er den Inhalt freilegte.
Das in tiefrotem Leder gebundene Zauberbuch. Sofort schlug die Älteste es auf.
Hastig blätterte
sie durch die Seiten. Ihre Augen überflogen in Windeseile die sorgfältig
niedergeschriebenen Worte. Sie erkannte die Handschrift der Mutter auf Anhieb.
Unverwechselbar und gestochen scharf zog sie sich über das matt glänzende
Papier. Auf Seite 974 hielt Adelgunde inne. Sie hatte gefunden, wonach sie
suchte. Der passende Zauberspruch lag endlich vor ihr.
„Eene, meene,
Katzendreck
mach den Schaden
wieder weg
Schnodderrotz und
Guckediegans
erstrahle hell in
neuem Glanz
Lilalola
Blechlaterne
schwing geschwind
nun deine Arme
Kürbishut und
Lederschnalle
hänge an wieder
alle Kristalle“
Dreimal
flüsterte Adelgunde die magischen Worte, bevor der Zauber Wirkung zeigte. Die
verbogenen Messingarme ächzten und ruderten vor und zurück. Plötzlich erhoben
sie sich in schwungvoller Pracht wie zuvor.
Die wie
Diamanten fein geschliffenen Kristalle huschten herbei. Mit klirrendem Kichern
sprang eines nach dem anderen an seinen gewohnten Platz. Wie Tropfen hingen sie
am Leuchter. Nun, da alle wieder versammelt waren, erstrahlten sie und ihr
Funkeln erhellte den gesamten Raum.
Das Mädchen,
welches die meisten Lebensjahre der drei Schwestern zählte, lehnte sich
zufrieden zurück. Das Werk war vollbracht. Eine kluge und weise Entscheidung,
dachte sie. Keinen einzigen Gedanken verschwendete sie daran, dass sie nun
einen Zauberspruch weniger übrig hatte. Ganz im Gegenteil. Ein Glücksgefühl
erfüllte ihr Herz.
„Und das ist
doch etwas Gutes!“, juchzte sie.
Vita:
Das Licht der Welt erblickte ich in Berlin, hier lebe und
arbeite ich. Mein erstes Werk war ursprünglich für einen Wettbewerb gedacht,
doch kurzerhand entschloss ich mich, die Novelle >Träume können sich nicht
irren< selbst zu veröffentlichen. Mit meiner vielfältigen Kreativität bin
ich ebenso in Thriller & Crime wie z. B. >Träum süß stirb schnell<
unterwegs wie in Geschichten zur Weihnachtszeit für Kinder und Jugendliche.
Alle Bücher stelle ich auf meiner Homepage www.marianne-rauch.de vor, wo auch
Leseproben zu finden sind.