Nach einem missglückten Tag trottete ich auf meinem Heimweg durch den Park
die kahlen Baumreihen ab. Es war dunkel und nasskalt, der Boden von faulendem
Laub bedeckt, die Wege glitschig. Die Welt hatte sich ihren grauen Mantel
übergeworfen, ich bei meinem den Kragen hochgeklappt. Mit jedem Schritt und
jedem Blick offenbarte sich die Trostlosigkeit des Herbstes. Stimmung und
Umfeld schwangen synchron.
Da rumpelte mir - völlig überraschend, von links und rücksichtslos - ein
Gespann vor die Füße: Eine junge Frau, samt Bollerwagen mit zwei in Decken
verpackten Kindern. Ich war gezwungen, kurz stehen zu bleiben und deutlich
langsamer hinter ihnen her zu gehen. Eigentlich hatte ich Vorrang, dachte ich
noch und zog einen mürrischen Spruch in Erwägung. Doch sie nahmen nicht die
geringste Notiz von mir. Die Mutter stapfte stoisch voran, die Kleinen, wohl
nach absolviertem Kindergarten, saßen sich gegenüber und waren in ein
Fingerspiel vertieft. Mund halten, Schritt beschleunigen, Überholvorgang
einleiten, entschied ich. Im gleichen Moment begann das eine Kind zu
singen:
"Alle Jahre wieder / kommt das Christuskind / auf die Erde
nieder, / wo wir Menschen sind."
Eine klare, helle Kinderstimme, inbrünstig und kraftvoll. Sie berührte mich
auf eigentümliche Weise. Schon lange hatte ich dieses Lied nicht mehr gehört,
der Advent zog für gewöhnlich nur als Hintergrundrauschen an mir vorbei. Das
zweite Kind stimmte mit ein und gemeinsam schmetterten sie nun ihre frohe
Botschaft heraus. Ungebeten. Immer wieder nur die erste Strophe. Ich
verzichtete darauf, vorbei zu hasten. Stattdessen blieb ich hinter dem
Fuhrwerk. Und schon ging die erste Strophe in eine neue Runde. Irgendwann
drehte die Mutter sich um, nahm die Deichsel des Wagens in die andere Hand, um
für einige Schritte rückwärts zu laufen, und sang ihren Kindern vor, wie das
Lied weitergeht:
"Kehrt mit seinem
Segen / ein in jedes Haus, / geht auf allen Wegen / mit uns ein und
aus."
Der kleine
Geschwisterchor verstummte, lauschte begierig. Mama sang mit warmer Stimme, die
Räder des Wagens auf dem feuchten Weg summten leise mit. Da löste die Mutter
ihren Blick von den Kindern und schickte mir ein freundliches Zwinkern. Ich
fühlte mich ertappt, blieb unvermittelt stehen. Das Gespann rollte davon. In
Gedanken ließ ich noch einmal die Reime des Liedes auf mich wirken. Hatte ich
sie je zuvor bewusst zur Kenntnis genommen? So schöne Verse, so eine eingängige
Melodie. Harmonie. Freude. Zuversicht. Jedes Wort eindringlich und bewegend.
Plötzlich fiel sie mir ein: Die nächste Strophe des Liedes. Ich wusste sie
einfach, mit größter Selbstverständlichkeit, Wort für Wort, nach so vielen
Jahren:
"Ist auch mir zur
Seite / still und unerkannt, / dass es treu mich leite / an der lieben
Hand."
Wie ergreifend! Ein
Schauer durchlief mich. Ich atmete tief durch, blickte mich vergewissernd um.
Niemand zu sehen. Selbst die Mutter mit ihren Kindern war verschwunden. Ich hob
den Kopf, machte mich gerade – und sang die letzte Strophe. Die ersten Silben zaghaft,
dann laut und deutlich. Meine eigene Stimme klang fremd, mir war als strömten
lange verschollene Gefühle aus mir heraus. Das letzte Wort verklang. Dann war
es still im Park. Feierlich still. Um mich herum war Weihnachten.
© Lutz Schafstädt,
2019
"Nadelprobe" - 17 Erzählungen in einem Buch: https://www.amazon.de/Nadelprobe-Lutz-Schafst%C3%A4dt-ebook/dp/B00BNHPV6M/
Cover:
(Warum ich kein
Musikant geworden bin
Lieferung aus
Himmelpfort
Julian und der
ausgefallene Wunsch
Zwischenfall im Advent)
Lutz Schafstädt ist
Jahrgang 1960 und lebt in Potsdam. Er ist Autor, Blogger und Marketing-Dienstleister.
Seit acht Jahren betreibt er das „Buch-Sonar“ ein Projekt für vernetzte
Buchwerbung.
Weitere
Weihnachtsgeschichten von ihm können auf Wattpad unter diesem Link kostenlos
gelesen werden: https://www.wattpad.com/user/LutzSchafstaedt
Mehr Informationen
über Lutz Schafstädt gibt es auf seiner Website: