Warum es schon im August Weihnachtsplätzchen und andere
weihnachtliche Leckereien in den Läden zu kaufen gibt? Das ist eine lange
Geschichte.
Zunächst einmal muss man wissen,
dass Weihnachtsleute auch nur Menschen sind.
Weihnachtsmänner haben eine
lebenslange Arbeitsplatzgarantie, und doch ist der Eintritt in diesen
Berufsstand eine schwierige Entscheidung, denn eins hat sich in den vielen
Jahrhunderten nie geändert: Weihnachtsmänner sind einsam. Höchstens kinderlose
Ehepaare sind in der Weihnachtsgilde zugelassen. Alle Mitglieder müssen sich
verpflichten, das Weihnachtsgeheimnis bis an ihr Lebensende zu bewahren. Aus
diesem Grund ist auch ein Austritt aus der Weihnachtsgilde nicht möglich und
selbst Smartphones sind als Sicherheitsrisiko verboten. Und so leben
Weihnachtsleute unerkannt in verlassenen Gegenden, nur zusammengeschlossen in
einem weltweiten gesicherten Computernetzwerk.
Da – wie gesagt –
Weihnachtsmänner und Weihnachtsfrauen auch nur Menschen sind, kann es schon
einmal vorkommen, dass das eine oder andere Ehepaar sich weniger gut versteht,
als man es von Weihnachtsleuten gemeinhin erwarten würde. So konnte zum
Beispiel der Puppenweihnachtsmann seine Frau nicht mehr so recht leiden. Sie
ging ihm mit ihrer Geschwätzigkeit oft arg auf die Nerven, und wer weiß, wie
das ausgegangen wäre, wenn es das Weihnachtsgeheimnis nicht gäbe.
So manches Mitglied der
Weihnachtsgilde lernt früher oder später auch die Vorzüge des Chattens kennen.
So erging es auch der Weihnachtsfrau, deren Mann für Computerspiele zuständig
war. Dauernd hatte sie Streit mit ihm, weil er so schrecklich faul war. Alles
musste sie allein machen! Deshalb traf sie sich, sooft sie Zeit hatte, in einem
privaten Chatroom mit einem Weihnachtsmann, der mit seiner Frau auch nicht mehr
sehr glücklich zu sein schien. Dort konnten sie beide ungehindert Dampf
ablassen.
Bald stellten sie fest, dass sie
– für Weihnachtsmannverhältnisse – gar nicht so weit voneinander entfernt
wohnten: höchstens eine halbe Flugstunde mit dem umweltfreundlichen,
elektromotorbetriebenen Himmelsschlitten.
Zu Weihnachten wünschten sich
beide eine Digitalkamera und ließen sich gegenseitig ihre Fotos als Bilddateien
zukommen. Diese Bilder gefielen ihnen so gut, dass sie sich von da an täglich
in ihrem privaten Chatroom trafen.
Ihr Verhältnis wurde immer
herzlicher. In der Zeit zwischen Neujahr und Ostern – das heißt also während
der weihnachtlichen Betriebsferien – verbrachten sie viele Stunden vor dem
Computer. Und in dieser Zeit wurden auch schon vorsichtige Andeutungen gemacht.
Ihr erstes heimliches Treffen
fand Ostern in einer verlassenen Weihnachtshütte im Wald statt. Ihren
Ehepartnern, die froh waren, sie eine Zeit lang los zu sein, hatten sie
erzählt, sie wollten einen kurzen Erholungsurlaub machen, ehe die harte
Vorbereitungszeit auf das nächste Weihnachtsfest wieder begann.
Vom ersten Augenblick an waren
sie überwältigt voneinander. In den wenigen Tagen, die sie gemeinsam in der
Waldhütte zubrachten, reifte ihr Plan, und es dauerte gar nicht lange, bis sie
ihn in die Tat umsetzten.
In einer mondlosen Sommernacht
erstickte der kräftige Puppenweihnachtsmann seine dürre Frau mit einem
Kopfkissen, während sie schlief. Es ging ganz einfach. Wahrscheinlich merkte
sie noch nicht einmal, dass sie umgebracht wurde.
Zur selben Zeit machte sich die
Frau des Weihnachtsmannes für Computerspiele mit einem Messer über ihren
schnarchenden Gatten her, und auch sie war erfolgreich.
Dies war der einfachste Teil des
Plans. Danach steckte der Puppenweihnachtsmann seine Frau in einen Jutesack und
jagte mit seinem umweltfreundlichen Schlitten wie der Teufel über den Himmel zu
seiner Geliebten, um ihr behilflich zu sein. Es war nicht ganz einfach, den
stattlichen Weihnachtsmann für Computerspiele zu verpacken. Zwei Jutesäcke
waren nötig, um ihn darin zu verschnüren wie einen Rollbraten.
Gemeinsam begruben sie dann ihre
Ehegatten auf einer einsamen Lichtung im Wald, auf die sich höchstens mal ein
paar Rehe verirrten.
Nun folgte die nächste Stufe des
Plans. Die würde härter werden, das wussten sie, aber sie waren zuversichtlich.
Gemeinsam würden sie es schaffen.
Jetzt galt es nämlich,
Weihnachtsgeschenke zu produzieren, und zwar so, dass es nicht auffiel, dass
zwei Weihnachtsleute weniger daran gearbeitet hatten.
Das war zunächst mal kein so
großes Problem für den Puppenweihnachtsmann, der schon seit Jahren Puppen
fertigte. Allerdings fehlte ihm die Hilfe seiner Frau, die immer die Kleidchen
genäht und die Puppen hübsch angezogen hatte. Der Puppenweihnachtsmann konnte
nicht nähen, aber seine Geliebte half ihm. Sie war sehr geschickt, hatte
allerdings wenig Übung auf diesem Gebiet und gab sich deshalb ganz besondere
Mühe. Dem Puppenweihnachtsmann kam es sogar so vor, als hätten seine Puppen
noch nie so niedliche und sauber genähte Kleidchen bekommen wie dieses Jahr.
Für die Frau des
Weihnachtsmannes für Computerspiele entstanden grundsätzlich keine größeren
Probleme. Weil ihr Mann so faul gewesen war, hatten sie die Spiele sowieso
immer anderswo bestellt und sie hatte den größten Teil der kaufmännischen
Arbeit selbst gemacht, wie zum Beispiel das Katalogisieren der Bestände, den
Abgleich von Angebot und Nachfrage, die Nachbestellungen und Verteilungspläne.
Ihr Mann wickelte die Spiele immer nur in Geschenkpapier ein. Zu viel mehr war
er nicht zu gebrauchen gewesen. Hier konnte ihr aber der Puppenweihnachtsmann
helfen, und auch er gab sich besondere Mühe, damit nur ja niemand merkte, dass
die Computerspiele diesmal von ungeübter Hand eingepackt worden waren.
Und so arbeiteten sie für zwei,
oft bis zum Umfallen, aber sie beklagten sich nicht, denn sie waren zusammen,
und nur das zählte für sie.
Danach allerdings wurde es
wirklich gefährlich. Es kam nämlich die Zeit der Auslieferungen. Alle
Weihnachtleute reisen jedes Jahr nach einem festen Zeitplan zur Sammelstelle,
von wo aus die Waren weiter verteilt werden. Es würde sicherlich auffallen,
wenn Weihnachtseheleute plötzlich allein dort erschienen. Also musste sich der
Puppenweihnachtsmann als Ehemann der Computerspieleweihnachtsfrau ausgeben.
Dies fiel zum Glück niemandem auf, weil Weihnachtsmänner mit ihren weißen
Rauschebärten, den roten Mützen und weiten Mänteln sowieso alle gleich
aussehen. Schwieriger war es, als ein paar Tage später die Frau des Computerspieleweihnachtsmanns
als Frau des Puppenweihnachtsmannes auftreten musste. Weihnachtsfrauen tragen
zwar auch rote Einheitskleidung, jedoch war sie viel rundlicher als ihre
Vorgängerin. Weil aber am Puppenauslieferungstag immer besonders viel an der
Sammelstelle los ist, gelang es ihnen, sich nach der Abgabe ihrer Ware schnell,
heimlich und unerkannt wieder aus dem Staub zu machen.
Auch diesen Teil des Plans
hatten sie also gemeistert. Ein weiteres Problem stand ihnen jedoch noch bevor:
die jährliche Abschlussfeier am Abend des zweiten Weihnachtstages. Sollten sie
dem Fest einfach fernbleiben? Oder würden sie sich jedes Mal eine neue Ausrede
einfallen lassen müssen, warum sie beziehungsweise ihre Ehepartner nicht daran
teilnehmen konnten?
Sie beschlossen, in diesem Jahr
E-Mails an den Leitenden Regionalweihnachtsmann zu senden. Darin teilten sie
ihm mit, dass sie zu ihrem Bedauern absagen müssten. Der Puppenweihnachtsmann
deutete eine äußerst unangenehme Viruserkrankung an, an der er und seine Frau
litten, und die Frau des Computerspieleweihnachtsmannes erwähnte eine fiebrige
Erkältung, die sie und ihr Mann sich wahrscheinlich auf der Nachtfahrt zur
Sammelstelle zugezogen hatten. Der Regionalweihnachtsmann drückte in seinen
Antwortmails sein Bedauern darüber aus und wünschte allseits gute Besserung.
Drei Tage später stießen der
Puppenweihnachtsmann und seine Geliebte gerade mit einem Gläschen Champagner
auf das gute Gelingen ihres Plans an, als es an der Tür klingelte. Der
Weihnachtsmann verschluckte sich vor Schreck. Sein heftiger Hustenanfall war
sicherlich bis nach draußen zu hören. Es hatte daher keinen Zweck, so zu tun,
als wäre niemand zu Hause.
Vor der Tür stand der Leitende
Regionalweihnachtsmann. Er trug einen Korb, der blühende Weihnachtssterne und
mehrere Flaschen Rotwein enthielt. Verdutzt blickte er in die Gesichter zweier
Weihnachtsleute, die seines Wissens gar nicht zusammengehörten.
„Ich wollte Ihnen und Ihrer Frau
– äh – Ihnen und Ihrem Mann nur meine herzlichsten Glückwünsche aussprechen“,
stotterte er.
„Bitte treten Sie doch ein!“,
sagte der Puppenweihnachtsmann, weil ihm im Augenblick nichts Besseres einfiel.
„Ich wollte Ihnen nämlich
gratulieren“, wiederholte der Leitende Regionalweihnachtsmann immer noch völlig
verwirrt. „Sie sind auf unserer großen Abschlussfeier zu Weihnachtsehepaaren
des Jahres gewählt worden.“ Suchend blickte er sich um. „Wo sind denn Ihre
Ehepartner?“
„Sie – sie sind – nicht da ...“,
stammelte der Puppenweihnachtsmann.
Der Leitende
Regionalweihnachtsmann spürte sofort und sehr deutlich, dass hier etwas ganz
und gar nicht in Ordnung war. Während er noch darüber nachdachte, sprach er schon
weiter. „Alle waren der Meinung, dass Sie diese Auszeichnung verdient haben.
Wegen der Verpackung, ich meine, weil die Computerspiele so schön eingepackt
waren. Und weil die Puppen so hübsche Kleidchen anhatten.“
Der Puppenweihnachtsmann und
seine Geliebte schwiegen. Der Leitende Regionalweihnachtsmann konnte keine Spur
von Freude oder Stolz in ihren Gesichtern entdecken. Dies war der Augenblick,
in dem er wirklich misstrauisch wurde. Aber was hätten sie auch sagen sollen?
Schließlich blieb den beiden nichts anderes übrig, als von den Jutesäcken und
der einsamen Waldlichtung zu berichten.
Der Leitende
Regionalweihnachtsmann nahm diese unerhörte Mitteilung fassungslos entgegen.
Ganz aufgelöst rief er daraufhin den Landesweihnachtsmann an. Dieser wandte
sich hilfesuchend an den Kontinentalweihnachtsmann, der seinerseits den
Weltweihnachtsmann benachrichtigte. Keiner wusste, wie zu verfahren war, denn
einen solchen Fall sahen die Bestimmungen der Weihnachtsgilde gar nicht vor.
Auch gab es in der Weihnachtswelt keine Gefängnisse, und eine Entlassung der
beiden Straftäter war im Hinblick auf die Wahrung des Weihnachtsgeheimnisses
ebenfalls undenkbar. Der Vorschlag eines Ortsweihnachtsmannes, der die
Todesstrafe forderte, wurde auf Grund seiner krassen Unweihnachtlichkeit
einstimmig abgelehnt.
Schließlich blieb den
vorgesetzten Weihnachtsmännern nichts anderes übrig, als die beiden Sünder zu
lebenslanger weihnachtlicher Fron zu verurteilen. In weit voneinander entfernt
liegenden Backstuben müssen sie nun jahrein jahraus den ganzen Tag und die
halbe Nacht Weihnachtsplätzchen backen und andere weihnachtliche Leckereien
herstellen, sogar während alle anderen Weihnachtsleute Urlaub machen.
Und so liegt es einzig und
allein an diesem mörderischen Puppenweihnachtsmannes und seiner ebenso
mörderischen Geliebten, dass bereits Ende August die ersten Weihnachtswaren in
den Geschäften angeboten werden müssen, denn in der kurzen Advents- und
Weihnachtszeit könnten die Berge an Leckereien, die die beiden Missetäter das
ganze Jahr über in ihren Backstuben herstellen, gar nicht verkauft und verzehrt
werden.
aus: Eva Markert, Alle Jahre wieder: Zwölf mehr oder weniger
weihnachtliche Geschichten
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Kurzvita:
Eva Markert lebt in Deutschland und in den Niederlanden. Vor ihrer Pensionierung war sie Studienrätin mit den Fächern Englisch und Französisch und sie besitzt ein Zertifikat für Deutsch als Fremdsprache. Außerdem ist sie staatlich geprüfte Übersetzerin. In ihrer Freizeit arbeitete sie viele Jahre als Lektorin und Korrektorin in einem kleinen Verlag mit.
Eva Markert übersetzt Bücher aus dem Englischen,
Französischen und Niederländischen ins Deutsche und schreibt selbst Kinder- und
Jugendbücher, Romane sowie Kurzgeschichten. Die meisten Texte veröffentlichte
sie als Indie-Autorin. Viele ihrer Kurzgeschichten sind aber auch in
Anthologien enthalten. Zwei Weihnachtsbücher für Kinder erschienen in einem
kleinen Verlag.