Am 3. Advent fielen feine Schneeflocken
unermüdlich vom Himmel. Draußen dämmerte es. Ich saß am Fenster und schaute
traurig in die weiße Pracht. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen.
Alle saßen vermutlich mit der Familie gemütlich im warmen Zimmer und tranken
Tee, aßen Plätzchen, und erzählten sich Geschichten. Tränen brannten in meinen Augen.
Jeder Lebensmut war mir genommen. Mit meinem Mann hatte ich eine glückliche,
harmonische Zeit verbracht. Das ganze Jahr über. Die Weihnachtszeit jedoch war
für uns beide etwas Besonderes gewesen. Dekorieren, Plätzchen und Stollen
backen, Tee mit Rum trinken, und Erinnerungen wach werden lassen. Wir hatten
gemeinsam gelacht über manch lustiges Ereignis. Auch ein Besuch auf dem
Weihnachtsmarkt war unerlässlich. Vor knapp einem Jahr war mein Mann gestorben.
Krebs. Er war zweiundsechzig Jahre alt geworden. Nicht einmal seine Rente
konnte er genießen. Das bevorstehende Weihnachtsfest musste ich das erste Mal
alleine verbringen. Am liebsten hätte ich mich, bis ins neue Jahr hinein,
irgendwo eingeigelt.
Die Kerze auf der Fensterbank war
heruntergebrannt. Ich war in Gedanken versunken,
hob den Kopf, und zündete eine neue an. Ich hatte beschlossen, Weihnachten zu
ignorieren. Meine Schwester lebte in den USA und Kinder waren mir leider versagt
geblieben. Das Atmen fiel mir schwer. Tief in meiner Seele saßen Trauer und
Schmerz. Karl hätte sicher nicht gewollt, dass ich mich zurückzog von den
Menschen. Aber ich konnte nicht anders. Ich vermisste ihn so sehr.
Eine Woche vor Weihnachten stand ich, wie
so oft, am Grab meines Mannes und hielt Zweisprache mit ihm. Einige Gräber weiter
kauerte weinend eine junge Frau, die mir bereits vor Tagen aufgefallen war. Sie
tat mir leid. Langsam ging ich zu ihr hinüber und warf einen Blick auf die Schleife,
auf der stand: Geliebter Mann und Vater.
»Ihr
Vater?«, fragte ich behutsam.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Mein Mann«,
sagte sie leise.
»Oh, das tut mir leid. Sie sind noch so jung. Ich
kann Sie gut verstehen; habe auch meinen Mann verloren. Wenn Sie Hilfe
brauchen, ich bin gerne bereit, etwas zu tun.«
»Danke, ich komme zurecht«, schluchzte sie.
»Mein Name ist Klara Bergmann. Darf ich auch Ihren
erfahren?«
»Entschuldigen Sie. Laura Peters!«
Ich reichte ihr die Hand und verabschiedete mich.
Ich wollte mich nicht aufdrängen. Die junge Frau ging mir nicht aus dem Kopf. Beiläufig
hatte sie erwähnt, dass sie eine siebenjährige Tochter hatte. Gerne hätte ich
Laura geholfen, aber wie?
Am 4. Advent war die letzte Möglichkeit den
Weihnachtsmarkt zu besuchen. Ich überlegte hin und her, ob ich nach Frankfurt
fahren sollte. Genauso, wie ich es mit meinem Mann jedes Jahr getan hatte. Es
fiel mir nicht leicht, aber ein inneres Gefühl trieb mich vorwärts. Zwei
Stunden später schlenderte ich vorbei an Buden und Ständen aus denen
weihnachtliche Musik erklang. Überall roch es nach Lebkuchen, Zimt und Anis.
Das hatte meinen Mann und mich jedes Mal in eine festliche Stimmung versetzt.
Heute verfehlte es seine Wirkung. Ich schaute zu dem Weihnachtsmann, der von
einer Horde lachender Kinder umzingelt war. Plötzlich hatte ich eine Idee. Frohen
Mutes fuhr ich mit der Bahn nach Hause. Ich hatte das Bedürfnis Weihnachtsplätzchen
zu backen.
Die Zutaten, sowie andere Kleinigkeiten,
waren am nächsten Tag schnell gekauft und etwas Schokolade legte ich ebenfalls
in den Einkaufswagen. Zufrieden lächelte ich vor mich hin und hoffte sehr, dass
mein Plan gelingen möge.
An Heiligabend vormittags stiefelte ich
durch den Schnee zum Friedhof, um eine neue Kerze in die Laterne zu stellen.
Laura, die mir stets um die gleiche Zeit begegnet war, hoffte ich auch heute
anzutreffen. Wenn nicht, würde mein Vorhaben wie eine Seifenblase zerplatzen. Ich
hatte mich nicht getäuscht. Als ich dem Grab näher kam, erkannte ich die junge
Frau, die ein Kind an der Hand hielt. Zögernd ging ich auf sie zu.
»Guten Morgen, wie schön, dass ich nun auch Ihre
Tochter kennenlerne«, begrüßte ich sie.
»Hallo, Frau Bergmann, das ist Bella. Sie
durfte mich heute das erste Mal hierher begleiten.«
»Mein Papa ist im Himmel und wir müssen
Weihnachten alleine feiern«, wisperte das Kind und blickte traurig drein.
»Ich bin auch alleine und habe einen Wunsch«,
sagte ich und mein Herz klopfte wild. »Es wäre wunderschön, wenn sie beide, ab
heute Nachmittag, als meine Gäste, in mein Haus kämen. Wir könnten es uns
gemütlich machen und keiner wäre alleine. Was halten Sie davon?« Ich zitterte
vor Aufregung und hoffte, Laura würde meine Bitte nicht falsch verstehen.
Die Frau jedoch lächelte und das Mädchen
strahlte. »Ist das ehrlich gemeint?« Laure hatte leise gesprochen.
»Absolut ehrlich. Es wäre mir eine große
Freude.«
Es begann erneut zu schneien.
»Wenn
du einen Schlitten hast, bringe ihn mit«, sagte ich zu
Bella, »dann können wir vor dem Kaffeetrinken
einen Spaziergang machen.«
Das Kind nickte eifrig.
»Ich freue mich«, schluchzte Laura und
umarmte mich. Gerührt hielt ich sie umfangen. Laura schrieb sich die Adresse
auf und versprach pünktlich um fünfzehn Uhr da zu sein.
Voller Elan hastete ich nach Hause; einige
Vorbereitungen waren noch zu erledigen. Jedes Jahr hatte es traditionell
Kartoffelsalat und Bratfisch gegeben. Daran wollte ich mich halten. Rechtzeitig,
bevor die Gäste eintrafen, hatte ich den Tisch gedeckt und weihnachtlich
dekoriert. Ein feiner Duft von Weihnachtsplätzchen erfüllte den Raum. Zufrieden
schaute ich mich um. Wie schön ist es
eine Aufgabe zu haben und nicht alleine zu sein, ging es mir durch den
Kopf.
Es klingelte; der Besuch war da. Wie
versprochen unternahmen wir einen kleinen Ausflug im Schnee. Mit roten Wangen
kehrten wir zurück, tranken Kaffee; Bella bekam Kakao. Laura lobte das zarte
Gebäck und den saftigen Schokoladenkuchen. Wir erzählten aus unserem Leben, um uns
besser kennenzulernen. Aus dem Radio erklang leise Weihnachtsmusik. Es war eine
wunderbare Harmonie zwischen uns.
Abends saßen wir zu dritt bei Kerzenschein
und ließen uns das leckere Mahl munden. Statt eines Christbaums hatte ich einige
Tannenzweige in die Bodenvase gesteckt und mit kleinen Lichtern, bunten Kugeln und
Süßigkeiten geschmückt.
»Ich
bin überwältigt von so viel Güte und Freundlichkeit«, sagte Laura bewegt.
»Tausend Dank für die Einladung, liebe Frau Bergmann.
»Ich habe zu danken, Laura. Sie und Bella
haben meinen Herzenswunsch wahr werden lassen. Weihnachten sollte man mit lieben
Menschen feiern. Ich freue mich, Sie und Bella getroffen zu haben und schlage
vor, dass wir uns duzen.«
»Sehr
gerne«, stimmte Laura erfreut zu.
Bella
klatschte in die Hände. »Papa wird sich freuen, wenn er vom Himmel auf uns hernieder
blickt und uns hier zusammen sitzen sieht.« Die beiden Frauen lächelten
verklärt.
Draußen
im Lichtschein der Laterne fiel sacht der Schnee auf die kalte Erde. Trotz unserer
Trauer wurde es ein zauberhafter Heiligabend. Eine neue Freundschaft war
geboren.
Vita
Rita Hajak wurde 1950 in Frankfurt am Main geboren. Für die
gelernte Anwalts- und Notariatsgehilfin war das Schreiben schon immer ein
wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Bereits in der Schule schrieb sie mit
Begeisterung Aufsätze. Später waren es Geschichten für ihre Kinder. Der Beruf
trat in den Vordergrund und die Zeit zum Schreiben fehlte. Erst die Jahre, die
sie mit ihrem Ehemann, auf der Insel Fehmarn verbrachte, schafften wieder Zeit
und Raum zum Schreiben. Es entstanden Kurzgeschichten und Kurzromane
verschiedenen Genres. Heute lebt die Autorin mit ihrem Ehemann im Taunus.