Tierarzt Dr. Sebastian Taube öffnete die Tür zum Gasthaus
„Schwarzes Pferd“. Er freute sich auf die Begegnung mit seinen Kollegen. Jeden
Monat fand ein Stammtischtreffen aller Tierärzte aus Mühlhausen im „Schwarzen
Pferd“ statt. Beim heutigen Termin im Dezember wurde – wie bei jedem letzten
Treffen eines Jahres – sogar gekegelt.
Als Dr. Taube die Kegelbahn betrat, wurde er lauthals
begrüßt.
„Du kommst reichlich spät!“, dröhnte sein Kollege Hansemann
und wies auf den letzten freien Stuhl.
Dr. Taube grinste: „Musste gerade einer Sau helfen, siebzehn
Ferkel auf die Welt zu bringen! Da kann man doch nicht mittendrin aufhören.“
„Siebzehn? Mein Gott, die Viecher werden immer leistungsfähiger.
Also ich hatte da letzthin einen Fall ...“, rief Frau Dr. Steiner vom Tischende
her und schon war die ganze Runde dabei, Geschichten zu erzählen, welche
Absonderlichkeiten und Sensationen jeder Einzelne seit dem letzten Treffen
erlebt hatte.
Wer Tierärzte kennt, weiß, dass jeder von ihnen fast täglich
mindestens ein dünnes Buch schreiben könnte, das für den Leser unterhaltsam
wäre – für die Betroffenen durchaus nicht immer. Da waren Geschichten von
komisch über tragisch bis traurig dabei.
Dr. Fels erntete besonderes Gelächter, als er erklären
musste, weshalb er mit einem dicken Sitzkissen zum Kegeln gekommen war.
Umständlich erläuterte er: „Na ja, und dann hebe ich der Stute den Huf hoch und
dabei konnte ich ja nun nicht auf das Fohlen achten, das die ganze Zeit um uns
herum wimmelte, oder? Und die Besitzer haben auch nur auf den Pferdehuf
geschaut – und wie kein Mensch so recht aufpasst, hat mich doch dieses Fohlen,
wie ich so gebückt dastehe, in meinen Allerwertesten gebissen. Und wie! Seitdem
habe ich immer ein Kissen bei mir, wenn ich irgendwo länger sitzen muss.“
„Und wie lang trägst du dieses Kissen schon mit dir herum?“,
tönte es aus der Runde.
„Na, so ein, zwei Wochen“, gab Dr. Fels in aller Gemütsruhe
zu.
„Sei froh, dass so ein Fohlen nur Milchzähne hat. Sonst
hättest du das Kissen noch in zwei, drei Jahren bei dir!“, lästerte Dr. Hansemann
und wieder dröhnte es auf der Kegelbahn nur so vor Gelächter.
Dr. Fels lachte gutmütig mit. Kleine Verletzungen waren bei
der Arbeit mit Tieren sozusagen inbegriffen und kamen ständig vor. Als Tierarzt
wusste man, dass der Arbeitstag immer Tritte, Bisse oder Kratzer mit sich
bringen konnte. Um ein wenig von sich abzulenken, wandte sich Dr. Fels seinem
Kollegen Taube zu, der neben ihm saß und bisher ungewöhnlich schweigsam
geblieben war: „Und, Sebastian? Hast du uns gar keine kuriosen Geschichten zu
berichten? Du bist doch sonst nicht so still!“
Sebastian Taube zog die Augenbrauen hoch und seufzte einmal
tief auf. Oder hatte er gestöhnt? Jedenfalls wurde es plötzlich sehr ruhig in
der Runde.
„Sag schon!“, drängte die Kollegin Steiner. „Ich sehe dir
doch an, dass du auch etwas zum Besten geben möchtest!“
Dr. Taube wiegte den Kopf hin und her. Eigentlich hatte er
nicht vorgehabt, hier im Kreis seiner Kollegen etwas von dem zu erzählen, was
sich zuletzt bei ihm zuhause ereignet hatte. „Es ist eine ziemlich merkwürdige
Geschichte, die ich da gerade erlebe. Wollt ihr das wirklich wissen?“, fragte
er vorsichtig.
Dr. Hansemann hob wichtigtuerisch den Zeigefinger und
verkündete: „Ich spendiere dir das Abendessen, wenn deine Geschichte
tatsächlich außergewöhnlich ist. Es muss aber etwas darin vorkommen, das
deutlich interessanter klingt als siebzehn Ferkel!“
Jetzt lächelte Dr. Taube zuversichtlich, ließ sich die Speisekarte
reichen und blätterte darin herum. Er wählte das teuerste Gericht, ein
Filetsteak von gigantischen Ausmaßen, klappte die Karte zu, gab seine
Bestellung bei der Kellnerin auf und meinte augenzwinkernd zu Dr. Hansemann:
„Schön, dass du zahlst“.
Der Kollege winkte gelassen ab. „Das wird sich noch zeigen!
Erst lass deine Geschichte hören, dann entscheide ich, ob sie ein Abendessen
wert ist.“
Dr. Taube nickte jedoch selbstsicher: „Das ist sie ganz
bestimmt“, und als er begann zu erzählen, war es mäuschenstill auf der
Kegelbahn im „Schwarzen Pferd“:
„Ihr kennt solche Fälle alle. Es ist schon dunkel, die
Sprechzeit lange vorbei, da klingelt es Sturm in der Praxis. Das war bei mir am
17. September so. Ein Mann stand vor der Tür und hatte ein Tier dabei, einen
Feldhasen, den er in der Dunkelheit zu seinem großen Bedauern angefahren hatte.
Der Unfallfahrer hatte nach dem Zusammenstoß sofort angehalten und nach dem
Tier, das ihm in sein Fahrzeug hineingelaufen war, gesucht. Der Hase lag seinen
Angaben zufolge unübersehbar mitten auf der Fahrbahn. Das Tier war bewusstlos
und atmete. Der Autofahrer konnte es weder über sich bringen, den Hasen einfach
liegen zu lassen noch hatte er den Mut, ihn von seinen Leiden zu erlösen. Also
ist er in die nächste Tierarztpraxis gefahren. Das war nun einmal meine.
Ich erklärte ihm, dass Wildtiere meist schon deshalb nicht
von uns Tierärzten behandelt werden, weil sie es nicht ertragen, gefangen zu
sein, während man sie kuriert. Ich wies auch darauf hin, dass eine solche
Behandlung teuer sei.
„Kein Problem!“,
erklärte der Mann. „Ich hole meine
Geldbörse aus dem Auto.“ Damit verließ er die Praxis – und kam nicht
wieder.
Das saß ich nun mit einem Feldhasen, der auf einer
kuscheligen Decke auf meinem Behandlungstisch lag und flach atmete. Auf seiner
Stirn war eine dicke Schramme auf einer ebenso dicken Beule zu sehen, wo er
wohl mit dem Auto zusammengestoßen war. Ich überlegte gerade, was ich tun
sollte, da begannen die Augenlider des Hasen zu flattern und er kam wieder zu
sich.“
„Und? Hat er so herumgetobt, dass er dir die ganze Praxis
zerlegt hat?“, fragte Dr. Hansemann mit einem Unterton, den man fast für
Schadenfreude hätte halten können.
Sebastian Taube schüttelte den Kopf. „Nein. Hat er nicht.
Und um es gleich zu sagen: Ich möchte euch alle sehr energisch bitten, ja, ich
möchte darauf bestehen, dass mich niemand mehr unterbricht, bis ich mit meiner
Geschichte zum Ende komme.“
Die Anwesenden waren aufgrund dieser Ankündigung verblüfft,
nickten aber dann zustimmend und Dr. Taube fuhr fort: „Wie gesagt, der Hase
schlug die Augen auf. Er blickte sich verwirrt um und fragte: „Wo bin ich?“
Frau Dr. Steiner riss die Augen auf – und den Mund, um ihre
Zweifel an diesem Bericht lauthals anzumelden, aber Dr. Fels legte ihr die Hand
auf den Arm und erinnerte sie auf diese Weise an ihr Versprechen zu schweigen.
So klappte sie den Mund wieder zu, aber ihre Augenbrauen, die sie fast bis zum
Haaransatz gezogen hatte, verrieten, was sie von dieser Geschichte hielt.
„Ihr könnt euch denken, wie mir zumute war, als der Hase zu
sprechen begann. Ich habe gedacht, ich bin reif für das Irrenhaus“, erzählte
Dr. Taube weiter. „Der Hase setzte sich wackelig auf, blickte sich um und
fragte mich dann noch einmal direkt: „Wo
bin ich?“
Ich stotterte richtig, als ich zurückfragte: „Wieso kannst du sprechen?“
Der Hase sah mich zutiefst verwirrt an. „Sollte ich etwa nicht sprechen können?“
„Hasen sprechen im
Allgemeinen nicht“, erwiderte ich. „Ich
bin Tierarzt. Du bist ein Hase. Ich muss es wissen.“
Der Hase wischte sich bestürzt mit einer Pfote über das
Gesicht. „Ach du lieber Himmel!“,
stammelte er. „Was machen wir denn da?
Ich kann nun mal sprechen. Und ich weiß immer noch nicht, wo ich bin. Ich“
– und jetzt klang der Hase wirklich panisch! – „ich weiß ja nicht einmal wer oder was ich bin!“
So kam Roberta zu uns. Meine Frau nannte den Hasen Roberta.
Sie hatte als Kind einen Plüschhasen, der so hieß und fand, der Name passe.
Roberta war ein bedauerliches Verkehrsopfer, das
offensichtlich durch einen Schlag auf den Kopf sein Gedächtnis verloren hatte.
Roberta war ein Feldhase oder besser gesagt eine Feldhäsin und Roberta konnte
sprechen.“
Dr. Fels und Dr. Hansemann tauschten bedeutungsschwangere
Blicke quer über den Tisch. Dr. Hansemann deutete sogar eine wischende Bewegung
vor den Augen an, die unauffällig zeigen sollte, dass er den Kollegen Taube für
mindestens leicht verwirrt hielt. Dr. Taube war diese Bewegung jedoch nicht
entgangen. Er quittierte sie mit einem leichten Lächeln und sagte ganz
gelassen: „Ja, das war auch mein erster Gedanke. Ich war sicher, ich hätte ein
ernsthaftes psychisches Problem, wäre durchgeknallt, überarbeitet, vollkommen
irre. Aber das legte sich bald. Roberta erwies sich als ein sehr freundliches
und rücksichtsvolles Wesen, sehr sauber und auch anhänglich. Nur dass sie
sprach, blieb mehr als irritierend.
Meine Frau und ich beschlossen, dass wir die Sache besser
für uns behalten sollten. Wir wohnen nicht umsonst direkt am Waldrand. Uns
liegt daran, dass es bei aller Hektik, die so ein Job als Tierarzt mit sich
bringt, ansonsten ruhig in unserem Leben zugeht. Hätten wir irgendjemand
mitgeteilt, dass bei uns ein Hase lebt, der flüssig ein erfreulich hochwertiges
Deutsch spricht, es wäre mit unserer Ruhe vorbei gewesen.
Dazu kam, dass Roberta litt. Aufregung wäre Gift für sie
gewesen. Sie hatte eine schwere Gehirnerschütterung und ich verordnete ihr
einige Tage strenge Körbchenruhe. Danach blieb sie jedoch weiter matt, lustlos
und grübelte den ganzen Tag vor sich hin. Der Verlust ihres Gedächtnisses
setzte ihr schwer zu. Ich suchte immer einmal wieder das Gespräch mit der
Häsin, versuchte sie durch Befragen, Anregungen sowie Tipps dazu zu bringen,
einen Anknüpfungspunkt zu ihrem früheren Leben zu entdecken. Vergeblich.
Außerdem interessierte mich der Fall natürlich aus fachlicher Sicht: War es
möglich, dass sich ein Gehirn durch einen heftigen Schlag so veränderte, dass
ein ansonsten sprachunfähiges Tier plötzlich reden konnte?
Ich hatte jedoch einfach nicht genug Zeit für den Hasen.
Meine Frau ebenso wenig – schließlich sind wir beide beruflich ziemlich
eingespannt. Sooft wir konnten, sprachen wir Roberta gut zu, versorgten sie mit
jungen Karotten, was im Herbst gar nicht so einfach ist und was sie bis heute
sehr zu schätzen weiß. Aber Roberta blieb lange Zeit schwermütig, weil sie
keinerlei Vorstellung davon hatte, wie ihr Leben vor dem Unfall ausgesehen
haben mochte. Dann entdeckte meine Frau eines Tages, dass Roberta nicht nur
sprechen, sondern auch lesen konnte.“
Frau Dr. Steiner ließ bei diesen Worten ein abfälliges
Schnauben hören, das ohne jedes Wort deutlich machte, was sie von dieser
Mitteilung hielt!
Aber Sebastian Taube sprach weiter, als hätte er nichts
gehört oder nichts hören wollen: „Wir legten ihr, da sie morgens ziemlich lang
schlief, immer die Tageszeitung zurecht, damit sie sich die Zeit vertreiben
konnte, bis wir wieder daheim waren.
Und am 12. Oktober war es dann soweit. Roberta wirkte sehr
aufgeregt, als ich mittags aus der Praxis ins Wohnhaus hinüberging. Ich nehme nicht
an, dass sich jemand erinnert, aber am 12. Oktober befanden sich in unserem
>>Mühlhausener Tagblatt<< mehrere Beilagen von Kaufhäusern, die
schon Weihnachtsstimmung verbreiteten. Da waren Pakete mit großen Schleifen auf
den Prospekten abgebildet und Sternchen und erste Tannenbäume und
Weihnachtsmänner.
Ich hatte abends kaum das Wohnzimmer betreten, da verkündete
Roberta aufgeregt: „Ich kann mich
erinnern. Endlich kann ich mich erinnern!“
„So?“, fragte ich
erfreut. „Na, dann lass mal hören.“
„Als ich dieses
farbige Blatt gesehen habe“ – Roberta wedelte mit dem Weihnachtsprospekt
vor meiner Nase herum – „da wusste ich
auf einmal: Ich hatte früher auch mit so einem Fest und mit Geschenken zu tun.
Da gab es Schmuck, Pakete, Leckereien und ich war irgendwie verantwortlich
dafür!“, jubelte Roberta aufgeregt.
Inzwischen war auch meine Frau dazu gekommen und sagte ganz
behutsam: „Roberta, könnte es vielleicht
sein, dass du ein Osterhase bist?“
„Ein was?“, fragte
Roberta ganz verwirrt zurück.
„Ein Osterhase?“,
versuchte es meine Frau noch einmal.
„Was soll das denn
sein?“, erwiderte Roberta unwirsch. „Hier
- Weihnachten, das ist es. Ich bin ein Weihnachtshase. Basta!“
Wir, also meine Frau und ich, haben versucht, Roberta diese
fixe Idee auszureden. Wir haben immer wieder erklärt, dass uns keine Hinweise
darauf vorliegen, dass Hasen als Weihnachtsmänner arbeiten. Aber damit sind wir
bei Roberta nicht gut angekommen. Sie hat alle möglichen Druckerzeugnisse
zusammengetragen und uns schwarz auf weiß bewiesen, dass es mittlerweile neben
Weihnachtsmännern einen halben Zoo an Tieren gibt, die zu Reklamezwecken
irgendwo in der typischen Dienstkleidung von Weihnachtsmännern abgebildet sind:
Braune und weiße Weihnachtsbären, Weihnachtselche, Weihnachtshirsche, einen sogenannten
Schweinachtsmann aus einem Musical, Weihnachtspinguine, ja sogar einen
Weihnachtsfuchs und eine Weihnachtsgans, die mit einem Braten durchaus nichts
zu tun hatte, befanden sich dabei! Robertas Frage, weshalb es da keine
Weihnachtshasen geben solle, war durchaus berechtigt.
Ihr habt sicher alle schon gehört, dass man verwirrten
Menschen besser nicht widerspricht. Bei verwirrten Hasen scheint das auch so zu
sein“, erklärte Dr. Taube seinen staunenden Kollegen.
„Jedenfalls tauchte Roberta von diesem Tag an aus ihrer
tiefen Niedergeschlagenheit wieder empor. Sie las und sammelte alles, was sie
über Weihnachten und Weihnachtsmänner im weitesten Sinne finden konnte, denn
sie hielt sich offenbar für einen Weihnachtshasen beziehungsweise für eine Art
Weihnachtsmann. Alle Versuche, sie auf eine Verbindung mit dem Osterfest
hinzuweisen, schlugen fehl und machten die Häsin, obwohl sie grundsätzlich über
ein sanftes Naturell verfügt, erstaunlich wütend.
Einmal versank unser Weihnachtshase noch in eine tiefe Depression.
Drei Tage lag Roberta in ihrem Körbchen und jammerte: „Wie kann ich ein Weihnachtshase sein, wenn ich ein Mädchen bin? Alle
Texte, alle Bilder berichten nur von Weihnachtsmännern. Und ich bin doch ein
Weibchen ...“
Das ereignete sich in der zweiten Novemberwoche. Damals
begann Roberta, nachts das Haus zu verlassen. Weder meine Frau noch ich haben
bisher herausgefunden, wie sie das macht. Sie verschwindet, als würde sie
unsichtbar, wenn es Nacht wird, am nächsten Morgen ist sie wieder da. Und eines
Tages war die Depression vorbei. Triumphierend verkündete Roberta beim
Mittagessen: „Ich habe Weihnachtsfrauen
entdeckt! Es gibt sie doch! Da hängt ein Plakat rechts neben dem Rathaus mit
einer Schachtel, auf der steht „WEST“ und da sind auch Weihnachtsfrauen drauf.
Ich bin doch eine Weihnachtshäsin!“
Ich hatte zunächst keine Vorstellung davon, was Roberta
meinte, aber meine Frau ist ziemlich schnell draufgekommen – Roberta war auf
ihren Streifzügen bis zur Schnellstraße gewandert. Da befindet sich auf den
Plakatwänden neben dem Bahnübergang eine Werbung der Zigarettenmarke WEST – die
zeigt tatsächlich ein paar Mädels, die, wenn auch nur notdürftig, so doch
unverkennbar als Weihnachtsfrauen verkleidet sind.
Tja, seitdem verschwindet unsere Häsin jeden Abend. Meine
Frau hat ihr eine von diesen Mützen gekauft und Löcher für die Ohren
hineingemacht. Ihr wisst schon, so eine Weihnachtsmannmütze mit einem
blinkenden Bommel an der Spitze. Wir machen uns natürlich Sorgen, wenn Roberta
in der Dunkelheit unterwegs ist. Der blinkende Bommel soll verhindern, dass sie
noch einmal in einen Unfall verwickelt wird. Ach ja, außerdem muss ich Roberta
seit ein paar Tagen wegen Beschwerden in der linken Schulter behandeln. Aber
eigentlich ist das kein Wunder. Sie hat meine Frau gebeten, ihr einen kleinen
Jutesack zu nähen – für die Päckchen. Und den Sack trägt sie nun einmal über
der linken Schulter, wahrscheinlich ist sie deshalb morgens so verspannt.“
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zur Kegelbahn und
die Kellnerin kam herein, vor sich ein schweres Tablett balancierend. „Wiener
Schnitzel?“, rief sie fragend in die Runde.
Schweigen.
„Wiener Schnitzel?!“ Beim zweiten Mal klang die Frage schon
etwas ungeduldiger.
„Hier ..., hier“, stammelte Dr. Fels, als wäre er gerade
wach geworden.
Reihum verteilte die Kellnerin die Teller mit den dampfenden
Speisen. Ihr fiel die merkwürdige Atmosphäre im Raum auf: Hatte man sich etwa
gestritten? Keiner blickte den anderen an. Hastig zog sich die Kellnerin
zurück.
Gerade als Dr. Taube aufgeräumt einen „Guten Appetit!“ wünschte
und seine Gabel in das prachtvolle Stück Fleisch auf seinem Teller einstechen
wollte, klingelte sein Handy. Mit einem: „Entschuldigung!“, in Richtung auf die
übrigen Stammtischteilnehmer zog er es hervor, lauschte kurz und die anderen
hörten nur, wie er schließlich knapp sagte: „So lange das Blut nicht stoßweise
fließt, besteht kein Grund zur Panik. Bleiben Sie ruhig! Ich komme sofort.“
Dann, zu den Kollegen gewandt, verkündete er: „Schade um das
leckere Essen. Ein Notfall. Ich muss sofort los. Hansemann, du kannst ja
versuchen, ob du meine Portion auch noch schaffst. Du zahlst ja sowieso.“
Damit verabschiedete sich Dr. Taube.
Die zurückbleibenden Tierärzte begannen ohne rechte
Begeisterung zu speisen.
Nach ein paar Bissen schob Dr. Fels schwungvoll seinen
Teller von sich und rief: „Himmelherrgottnochmal! Mir ist der Appetit
vergangen! Der Taube hat doch noch letzten Monat völlig normal gewirkt – und
jetzt das!“
Leise, so wie man auf einer Beerdigung spricht, begannen
sich die Tierärzte über den Geisteszustand von Dr. Taube zu unterhalten. Alle
waren gleichermaßen besorgt. Wenn das Gespräch nicht so gedämpft verlaufen
wäre, hätte man sicher das zaghafte Klopfen überhört, das plötzlich ertönte.
„Herein!“, polterte Dr. Hansemann ungehalten und legte den
Finger auf die Lippen, um den Kollegen damit anzudeuten, dass sie zum Thema
Taube zu schweigen hätten, wenn ein Außenstehender den Raum betrat.
Nichts geschah.
Dr. Hansemann erhob sich schließlich und riss schwungvoll
die Tür auf, die auf den Flur vor der Kegelbahn führte.
Leicht verlegen stand ein Hase davor – ein Feldhase, oder
genauer gesagt eine Häsin, wie der kundige Blick der auf der Kegelbahn
versammelten Fachleute ihnen verriet.
Sie lächelte gewinnend. Die langen Hasenohren ragten aus
einer roten Zipfelmütze mit weißer Fellkrempe, an deren Spitze ein Sternchen
blinkte.
Über der linken Schulter trug die Häsin einen kleinen
Jutesack. Zutraulich hoppelte sie in den Raum und wünschte artig: „Ein frohef Feft!“
Nur der Hauch eines hasenzähnigen Lispelns trübte die
Aussprache.
Dann griff die Häsin in den Jutesack und holte für jeden der
Anwesenden ein kleines Präsent heraus: Es handelte sich um Tannenzapfen, die
jemand in für die Weihnachtszeit etwas ungewöhnlichen, weil frühlingshaften
Farben, liebevoll mit kleinen, kunstvoll ausgeführten Mustern bemalt hatte.
Und es war wie verhext: Bevor sich einer der Tierärzte recht
besinnen konnte, war das außergewöhnliche Tier auch schon wieder verschwunden.
Barbara Rath, Baujahr 1962, verheiratet und Mutter
zweier inzwischen erwachsener Kinder, lebt und arbeitet als „schreibende
Diplom-Biologin“ in Krefeld. Neben der Arbeit für verschiedene Verlage und
Agenturen bzw. als Lektorin ist sie auch als Selfpublisherin tätig. Unter www.barbara-rath.de sind all ihre Titel
und mehr Details zu ihrer Person zu finden.
„Der Weihnachtshase“ ist eine von 12 Kurzgeschichten einer
ihrer Publikationen bei KDP.