Bild von Evelyn Sperber-Hummel |
Natalius do
Paradiso, auf Erden als Weihnachtsmann bekannt, riss das Kalenderblatt ab. Der
12. August. In den Kaufhäusern kündigten seine Schokoladennachbildungen bereits
die fröhliche Weihnachtszeit an. Fröhliche Weihnachtszeit! So ein Schmarren.
Jedes Jahr verleideten ihm die Schokoläuse die Freude darauf. Jetzt war Sommer,
da musste er Wärme tanken, und danach im Herbst musste er Farben schlürfen. Wie
sollte er sonst mit heilen Knochen durch den kalten grauen Winter kommen?
Natalius zerknüllte das Datum und warf es in den Papierkorb. Er hatte keine
Lust mehr auf den Weihnachtstrubel. Seine morschen Knochen wollten sich im
Schaukelstuhl wiegen oder gemächlich durch den winterlichen Schnee stapfen oder
auf Skiern sanft die Hänge hinabgleiten. Stattdessen musste er trubeln. Von
einer Pflicht zur anderen rennen, bis ihm die Puste ausging. Dabei hätte es
seinen alten Lungen so gut getan, die würzige Winterluft in aller Ruhe und
Beschaulichkeit ein- und auszuatmen.
Schluss
damit. Sollten die Menschen doch zusehen, wie sie zu ihren Geschenken kamen.
Ihm schenkte auch niemand etwas. Dieses Jahr bleibe ich im Bett und stehe nur
auf, wenn ich Lust dazu habe oder wenn mein Magen knurrt. Er drehte den
Kalender mit dem Gesicht zur Wand und ging hinaus. Auf der Weide grasten die
sechs Rentiere. Sie hoben die Köpfe und begrüßen ihn mit einem "Guten
Morgen!", das wie ein leises Schnarchen im Tiefschlaf klang.
"Hört
zu, meine Alten, dieses Jahr ist nichts mit Weihnachten. Wir machen uns einen
gemütlichen Winter."
Die Rentiere
sahen einander an, räusperten sich, scharrten mit den Füßen.
"Wenn
das man gut geht", schnarrte Julius, das jüngste Rentier.
"Wir
kriegen Ärger", pflichtete Gratian ihm bei.
"Aber
schön wäre es doch", meinte Nepomuk, der Älteste in der Sechserrunde.
Melusine,
Antonia und Cecily stimmten ihren drei Männern zu. "Wie ist das überhaupt
mit dem Ruhestand für Rentiere?", fragten sie.
Ruhestand!
Natürlich. Jeder hat ein Recht auf den wohlverdienten Ruhestand. Nicht nur die
Menschen, auch die Rentiere und der Weihnachtsmann. "Ich werde sofort
unseren Ruhestand bei unserem obersten Boss beantragen", sagte Natalius di
Paradiso und machte sich auf den Weg zum göttlichen Personalbüro. Die Rentiere
senkten zustimmend die Köpfe und grasten weiter.
Natalius war
erst ein paar Schritte gegangen, da stellte sich ihm der Teufel in den Weg.
"Hallo, Natalius, endlich ist dir ein Licht aufgegangen", flüsterte
er und dabei lachte er diabolisch, denn er konnte nicht anders lachen.
Typisch
Teufel. Was wollte der von ihm? Und wieso Licht? Der Advent lag noch in
wochenlanger Ferne. Und außerdem, dieses Jahr wurde auch der gestrichen. Für
mich jedenfalls, dachte Natalius, strafte den Teufel mit Nichtachtung und
wollte an ihm vorbeigehen.
Der Teufel
hielt ihn am Ärmel fest. "Hihihi, Schluss mit Trubel. Gut so!" Er
hüpfte um Natalius herum, er schlug Purzelbäume und machte Kopfstand auf seinen
Hörnern, dann sprang wieder auf die Beine und flüsterte Natalius ins Ohr:
"Ich habe eine bessere Idee!"
Natalius
drückte den Teufel von sich, holte sein kariertes Taschentuch hervor und
wischte sich den teuflischen Atem aus dem Gehörgang. Er schaute nach oben, nach
links und nach rechts, sah den Teufel dabei nicht an und signalisierte ihm:
"Deine Idee interessiert mich einen feuchten Kehricht." In Wirklichkeit
platzte Natalius vor Neugier.
Satanisches
Kichern war die Antwort. Der Teufel rieb sich die Hände. "Stell dir vor,
du kannst in deinem Schaukelstuhl auf und ab wippen, du kannst geruhsam durch
den hohen Schnee stapfen, du kannst morgens im warmen Bett bleiben, solange du
willst. Kein Trubel, keine Hetze, keine Rennerei, kein Ärger mit unzufriedenen
Erdenbürgern. Paradiesische Weihnachten!"
Bei des
Teufels Worten wurde Natalius warm ums Herz. Paradiesische Weihnachten! Das
klang verführerisch. Doch während sein Herz schon frohlockte, besann Natalius
sich auf seine himmlische Loyalität, die ihm strikt jegliche Zusammenarbeit mit
dem Satan untersagte. "Was soll der Blödsinn?", fragte er deshalb.
Die Neugier,
die in seiner Stimme schwang, entging dem Teufel nicht. "Nenn es von mir
aus Blödsinn, aber du kannst tatsächlich paradiesische Weihnachten genießen,
und niemand merkt, dass du nicht da bist. Na, was meinst du dazu?"
"Niemand
merkt was?" Natalius himmlisch geprägte guten Vorsätze gerieten ein wenig
ins Wanken.
"Niemand
merkt es! Auf mein Wort!"
Konnte man
etwas auf das Wort des Teufels geben? In Natalius kämpften himmlische und
höllische Gefühle miteinander. Ein fürchterlicher Konflikt. "Und
wie?" Ganz leise fragte er das.
"Lass
dich klonen."
"Wie?"
"Klonen."
Natalius
kratzte sich mit dem linken Zeigefinger an der Nase, mit dem rechten am Ohr.
"Das ist eine glänzende Idee", flüsterten seine höllischen Gedanken.
"Vorsicht, der Teufel legt dich aufs Kreuz", warnten ihre himmlischen
Kontrahenten." Natalius besann sich auf seine Tugendhaftigkeit und sagte:
"Hebe dich hinweg, Satan." Das war halbherzig und es klang
halbherzig. Das merkte nicht nur Natalius selber, auch der Teufel hatte ein
gutes Gehör für solche Halbherzigkeiten. Er legte Natalius den Arm um die Schultern,
drehte ihn um und führte ihn zu seiner Behausung zurück. "Dort werden wir
alles Weitere regeln", sagte er und seine Stimme klang so verführerisch,
dass Natalius mit ihm ging und das Gefühl hatte, er schwebe einen Meter über
dem Boden.
Vier Monate
später. Sechs Rentiere wurden angespannt, der Weihnachtsmann saß in warme
Decken eingehüllt auf seinem Schlitten, der auch dieses Jahr mit Hunderten von
Paketen bepackt war. Hui, ging es durch die Lüfte, die Schlittenglöckchen
bimmelten und aus dem Schlittenradio erklangen Weihnachtslieder.
Währenddessen
saß Natalius do Paradiso im Schaukelstuhl vor dem offenen Kaminfeuer, er wiegte
auf und ab und der steife Grog aus echtem Jamaica-Rum gluckerte durch seine
Kehle. Zwischendurch eine Aachener Printe, Lübecker Marzipan, Zimtsterne und
Anisplätzchen. Der silberne Teller auf dem Tischchen neben dem Schaukelstuhl
voller weihnachtlicher Köstlichkeiten. Natalius leckte sich die Lippen. Das
waren paradiesische Weihnachten, wie er sie sich in seinen kühnsten Träumen
nicht hätte ausmalen können.
Er stand auf
und ging hinaus in den Stall. "Fröhliche Weihnachten. Nun, wie gefällt
euch das?", fragte er die sechs Rentiere, die nebeneinander im frischen
Stroh lagen und ihn anblinzelten.
"Sehr
gut", sagten sie gemeinsam, "fröhliche Weihnachten!" Natalius
kraulte ihre Hörner und gab ihnen Äpfel und trockenes Weißbrot. Dann ging er
zurück zu seinem Schaukelstuhl. Wie sein Klon wohl zurechtkam? Hoffentlich
brachte der nicht alles durcheinander. Aber warum sollte er? Natalius hatte ihm
alles genau erklärt. Er schaukelte und genoss das Weihnachtsfest in vollen
Zügen und diese vollen Züge bestanden nicht nur aus Grog.
Ein Klopfen
an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Fast hätte er sich verschluckt. "Wer
da?", fragte er. Die Tür flog auf, herein stürmte Petrus. "Bist du
von allen guten Geistern verlassen? Heute ist Weihnachten, du wirst auf der
Erde erwartet. Nun aber dalli."
"Hick",
sagte Natalius und kratzte sich nach alter Gewohnheit mit dem linken
Zeigefinger an der Nase und mit dem rechten Zeigefinger am Ohr. "Wieso
kommst du überhaupt? Du warst doch Weihnachten noch nie bei mir?" Seine
Zunge war ein wenig schwer.
"Ich
sah das Licht in deinem Fenster, wollte es ausmachen. Aber jetzt ist Schluss
mit langem Palaver. Schirre deine Rentiere und sieh zu, dass du auf die Erde
kommst."
In dem
Augenblick sprang die Tür erneut auf. Herein kam ein über das ganze Gesicht
strahlender - - -
"Natalius?"
Petrus guckte den Weihnachtsmann an, der seinen Mantel auszog und den Schnee
von der Kapuze klopfte. "Natalius?", wiederholte er und sein Blick
ging zum Schaukelstuhl. "Jetzt brauche ich einen Schnaps."
"Pur
oder als Grog?", fragte der Schaukelstuhl-Natalius.
"Grog."
Petrus ließ sich in einen Sessel fallen. Während er den Grog schlürfte,
erzählte der hereingeschneite Natalius begeistert von allem, was er auf der Erde
erlebt hatte. "Überall hat man mich jubelnd empfangen und alle Augen
leuchteten und die Kinder sagten Gedichte auf und ... ach, ich wünschte es wäre
immer Weihnachten."
Petrus nahm
sich noch einen Grog. "Willst du auch einen?", fragte er den
begeisterten Weihnachtsmann. "Wie soll ich dich eigentlich nennen?
Natalius? Der Name ist schon vergeben. Er zeigte zum Schaukelstuhl, in dem der
echte Natalius mit glänzenden Augen und roten Bäckchen saß und grinste.
"Nataklonius vielleicht?"
"Wie
wäre es mit Natalius der Zweite", schlug der erste Natalius vor.
"Ja,
das ist gut. Dann gibt es auch keine Probleme, falls noch mehr von deiner Sorte
auftauchen sollten." Petrus lehnte sich im Sessel zurück. "Jetzt
hätte ich Lust auf einen zünftigen Skat", sagte er. Und so wurde Skat
gedroschen, was die Karten hergaben. "Fröhliche Weihnachten", sagte
Petrus und betrachtete sein Blatt. Einen Grand mit Vieren hielt er in der Hand.
Den musste er ausreizen bis zum Schwarz angesagt. Mitten im Reizen klingelte
das Telefon. Die drei Skatbrüder sahen einander an. "Wer ist das?",
fragte Natalius I. Er stand auf und hob den Hörer ab. Seine roten Bäckchen
wurden blass. "Jawohl, Boss, er kommt sofort", stotterte er und legte
den Hörer zurück. "Er will dich sprechen, sofort", sagte er zu
Petrus.
Petrus
betrachtete das Blatt in seiner Hand. Er warf die Karten auf den Tisch und
stand auf. Dabei brummelte er: "Ich lass mich klonen."
"Darüber
wollte ich gerade mit dir reden."
Petrus
schreckte zusammen. Er starrte die Gestalt an, die ins Zimmer gekommen war und
jetzt vor ihm stand. "Hey, Boss, was machst du denn hier?"
Gottvater
steckte sein Handy in die Tasche und lächelte die beiden Nataliusse und Petrus
an. "Habt ihr wirklich gedacht, ich hätte das mit dem Klonen nicht
mitbekommen? Meine Lieben, ihr vergesst manchmal, dass ich alles sehe, alles
weiß und vor allem, dass ich alles verstehe. Ehrlich gesagt, ich würde auch
ganz gern mal Urlaub machen. Aber ein geklonter Gottvater? Das ginge wohl doch
zu weit." Er setzte sich zu Natalius I. und II. und zu Petrus an den
Tisch. "Spielt nur weiter, ist ja nicht um Geld", sagte er und ließ
sich einen steifen Grog einschenken.
Petrus
gewann den Grand mit Vieren innerhalb weniger Minuten haushoch.
Im Stall
feierten derweil zwölf Rentiere fröhliche Weihnachten mit Gänsewein und
honigsüßen Pellets. "Lecker", schnarrten Nepomuk I. und Nepomuk II.
und alle stimmten ihnen zu.
© Evelyn Sperber-Hummel
Evelyn
Sperber-Hummel, geboren in Hamburg, lebt auf einem Weingut
in der Pfalz. Sie hat viele Jahre als Redakteurin gearbeitet. Jetzt schreibt
sie Kurz- und Langprosa, Lyrik und szenische Texte.
Leseproben und weitere Informationen gibt es auf
ihrer Autorenseite.